Im Zeitalter des Finanzkapitals, des virtuellesten Kapitalmonopols der ka-
pitalistischen Moderne, ist die Gesellschaft einem historisch beispiellosen
Zerfall ausgesetzt. Das politische und moralische Gefüge der Gesellschaft
wurde zerschmettert. Was geschieht, ist ein "Soziozid" - ein schwerwiegen-
deres gesellschaftliches Phänomen als Genozid. Die vom virtuellen Kapital
beherrschten Medien fungieren als eine Waffe, die einen größeren Soziozid
durchführt als im Zweiten Weltkrieg. Wie kann man die Gesellschaft gegen
die Medien verteidigen, die sie mit ihren Nationalismus-, Religionismus-,
Sexismus-, Szientismus- und Artismuskanonen (Sport, Serien usw.) vierund-
zwanzig Stunden am Tag unter Beschuss nehmen?
Die Medien sind wie eine Art zweite analytische Intelligenz in der
Gesellschaft wirksam. So wie die analytische Intelligenz an sich weder
gut noch böse ist, sind auch die Medien an sich ein neutrales Mittel. Wie
bei jeder anderen Waffe auch, wird ihre Rolle von denjenigen bestimmt,
die sie einsetzen. Die Hegemonialmächte verfügen nicht nur stets über
die effektivsten Waffen im wörtlichen Sinne sondern sie herrschen auch
über die Waffe der Medien. Da sie die Medien wie eine zweite analyti-
sche Intelligenz einsetzen, gelingt ihnen die Neutralisierung der gesell-
schaftlichen Widerstandsfähigkeit. Mithilfe dieser Waffe wird eine virtuelle
Gesellschaft konstruiert. Die virtuelle Gesellschaft stellt eine weitere
Form des Soziozids dar. Auch der Nationalstaat zählt zu den Formen des
Soziozids. In beiden Fällen wird die Gesellschaft ihrer Gesellschaftlichkeit
beraubt und in ein Werkzeug des sie lenkenden Monopols verwandelt. Die
Unterschätzung der gesellschaftlichen Natur ist äußerst gefährlich der Raub
ihrer Gesellschaftlichkeit setzt die Gesellschaft unbegrenzten Gefahren aus.
Wie das Zeitalter des Finanzkapitals kann auch das des virtuellen Monopols
nur mit einer Gesellschaft koexistieren, die aufgehört hat, sich selbst
zu sein.
Das gleichzeitige Entstehen dieser beiden Phänomene ist kein Zufall, da sie
miteinander verbunden sind. Die Gesellschaft, die der Nationalstaat ihrer
Gesellschaftlichkeit beraubte (damit sie sich für den Nationalstaat hält) so-
wie die von den Medien verführte Gesellschaft sind im wahrsten Sinne des
Wortes besiegte Gesellschaften, aus deren Trümmern man andere Sachen
konstruiert. Es steht außer Zweifel, dass wir eine solche gesellschaftliche
Ära erleben.
Wir leben nicht nur in der problematischsten Gesellschaft, sondern auch
in einer, die ihren Individuen nichts bietet. Die Gesellschaften, in denen
wir leben, haben nicht nur ihr moralisches und politisches Gefüge verloren,
sondern werden zudem in ihrer Existenz bedroht. Sie sind nicht nur mit einem
Problem konfrontriert, sondern der Gefahr ihrer Vernichtung ausgesetzt.
Wenn die Probleme sich gegenwärtig trotz der ganzen Wirkmächtigkeit
der Wissenschaft vergrößern und vertiefen und in eine Art Krebs verwan-
deln, dann stellt der Soziozid nicht nur eine Hypothese, sondern eine reele
Gefahr dar. Die Behauptung, die Macht des Nationalstaats beschütze die
Gesellschaft, schafft die allergrößte Illusion und lässt diese Gefahr Schritt
für Schritt wahr werden. Die Gesellschaft ist nicht nur mit Problemen, sondern
mit ihrer eigenen Vernichtung konfrontriert.
ABDULLAH ÖCALAN - Gefängnisschriften- SOZOLOGIE DER FREIHEIT
Manifest der demokratischen Zivilisation Band III Seite 128-129.
In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010) hat Abdullah Öcalan mit dem Manifest der demokratischen Zivilisation ein fünfbändiges Opus Magnum verfasst, in dem er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt. Nachdem er in den ersten beiden Bänden die Geschichte der Zivilisation von ihren Anfängen bis zur kapitalistischen Moderne neu interpretiert hat, legt Öcalan mit dem dritten Band eine Methode für die Lösung der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts vor: die Soziologie der Freiheit.
Öcalan erkennt die Notwendigkeit einer Kritik des sogenannten ›wissenschaftlichen Sozialismus‹, auf den er selbst, die kurdische Bewegung und die PKK sich in der
Vergangenheit immer bezogen hatten. Industrialismus, Kapitalismus und der Nationalstaat können nicht mit den Mitteln eines orthodoxen sozialistischen Konzepts transformiert werden. Deshalb wendet
Öcalan sich den originellsten Denkern der Linken zu und debattiert in bemerkenswerter Bandbreite Themen wie Existenz, Freiheit, Philosophie, Anarchismus, Natur und Ökologie. Dabei entwickelt er
eine radikale und sehr weitreichende Definition von Demokratie, ausgehend von seiner zentralen These, dass es immer und überall parallel zu jeder herrschenden Zivilisation eine ›demokratische
Zivilisation‹ gibt, die sich im Widerstreit mit (kapitalistischer) Herrschaft, Patriarchat und Nationalstaat befindet.