von David Graeber
In ihrer einfachsten Form beruhen die anarchistischen Überzeugungen auf zwei elementaren Annahmen. Die erste ist, dass Menschen unter normalen Umständen so vernünftig und anständig sind, wie es ihnen erlaubt ist, und dass sie sich selbst und ihre Gemeinschaften organisieren können, ohne dass ihnen gesagt werden muss, wie. Die zweite ist, dass Macht korumpiert. Aber vor allem geht es beim Anarchismus darum, den Mut zu haben, die einfachen Prinzipien des allgemeinen Anstands, nach denen wir alle leben, zu nehmen und sie bis zu ihren logischen Schlussfolgerungen zu verfolgen. So seltsam das auch erscheinen mag, in den meisten wichtigen Punkten sind Sie wahrscheinlich schon ein Anarchist — Sie sind sich dessen nur nicht bewusst.
Beginnen wir mit ein paar Beispielen aus dem täglichen Leben.
Wenn Sie in einer Schlange stehen, um in einen überfüllten Bus einzusteigen, warten Sie dann, bis Sie an der Reihe sind, und versuchen nicht, sich an anderen vorbei zu drängeln, auch wenn keine Polizisten in der Nähe sind?
Wenn Sie mit „Ja“ geantwortet haben, dann sind Sie es gewohnt, wie ein Anarchist zu handeln! Das grundlegendste anarchistische Prinzip ist die Selbstorganisation: die Annahme, dass Menschen nicht mit Strafverfolgung bedroht werden müssen, um zu sinnvollen Übereinkünften miteinander zu kommen oder sich mit Würde und Respekt begegnen zu können.
Jeder glaubt, dass er selbst in der Lage ist, sich vernünftig zu verhalten. Wenn sie denken, dass Gesetze und Polizei notwendig sind, dann nur, weil sie nicht glauben, dass die anderen Menschen es auch können. Aber wenn Sie darüber nachdenken, haben diese Leute Ihnen gegenüber nicht alle genau das gleiche Gefühl?
Anarchisten argumentieren, dass fast das gesamte anti-soziale Verhalten, das uns denken lässt, dass es notwendig ist, Armeen, Polizei, Gefängnisse und Regierungen zu haben, um unser Leben zu kontrollieren, tatsächlich durch die systematischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verursacht wird, die diese Armeen, Polizei, Gefängnisse und Regierungen ermöglichen.
Es ist ein wahrer Teufelskreis. Wenn die Menschen daran gewöhnt sind, so behandelt zu werden, als ob ihre Meinungen keine Rolle spielen, werden sie wahrscheinlich wütend und zynisch, sogar gewalttätig — was es natürlich den Machthabern leicht macht, zu sagen, dass ihre Ansichten keine Rolle spielen.
Sobald sie verstehen, dass ihre Meinung genauso wichtig ist wie die eines jeden anderen, neigen sie dazu, bemerkenswert verständnisvoll zu werden. Um es kurz zu machen: Anarchisten glauben, dass es größtenteils die Macht selbst und die Auswirkungen der Macht sind, die Menschen dumm und unverantwortlich werden lassen.
Sind Sie Mitglied eines Vereins, einer Sportmannschaft oder einer anderen freiwilligen Organisation, in der Entscheidungen nicht von einer Führungsperson diktiert werden, sondern auf der Basis einer allgemeinen Zustimmung erfolgen?
Falls Sie mit „Ja“ geantwortet haben, dann gehören Sie zu einer Organisation, die nach anarchistischen Prinzipien arbeitet! Ein weiteres grundlegendes anarchistisches Prinzip ist die freiwillige Assoziation. Dies ist einfach eine Frage der Anwendung demokratischer Prinzipien auf das gewöhnliche Leben. Der einzige Unterschied ist, dass Anarchisten glauben, dass es möglich sein sollte, eine Gesellschaft zu haben, in der alles nach diesen Prinzipien organisiert werden könnte, wobei alle Gruppen auf der freien Zustimmung ihrer Mitglieder basieren, und dass daher alle von oben nach unten gerichteten militärischen Organisationsstile wie Armeen oder Bürokratien oder große Unternehmen, die auf Befehlsketten basieren, nicht mehr notwendig wären.
Vielleicht glauben Sie nicht, dass das möglich wäre. Vielleicht tun Sie es aber doch. Jedes Mal aber, wenn Sie eine Vereinbarung durch Konsens statt durch Drohungen erreichen, jedes Mal, wenn Sie eine freiwillige Vereinbarung mit einer anderen Person treffen, zu einer Übereinkunft kommen oder einen Kompromiss erreichen, indem Sie die besondere Situation oder die Bedürfnisse der anderen Person angemessen berücksichtigen, sind Sie ein Anarchist — auch wenn Sie sich dessen nicht bewusst sind.
Anarchismus ist einfach die Art und Weise, wie Menschen handeln, wenn sie frei sind, das zu tun, was sie wollen, und wenn sie mit anderen umgehen, die ebenso frei sind — und sich daher der Verantwortung gegenüber anderen bewusst sind, die das mit sich bringt. Dies führt zu einem weiteren entscheidenden Punkt: dass Menschen zwar vernünftig und rücksichtsvoll sein können, wenn sie es mit Gleichgestellten zu tun haben, dass man ihnen aber von Natur aus nicht vertrauen kann, wenn man ihnen Macht über andere gibt. Gibt man jemandem eine solche Macht, wird er sie fast ausnahmslos auf die eine oder andere Weise missbrauchen.
Glauben Sie, dass die meisten Politiker selbstsüchtige, egoistische Drecksäcke sind, die sich nicht wirklich um das öffentliche Interesse kümmern? Glauben Sie, dass wir in einem Wirtschaftssystem leben, das stupide und ungerecht ist?
Wenn Sie mit „Ja“ geantwortet haben, dann stimmen Sie der anarchistischen Kritik an der heutigen Gesellschaft zu — zumindest in ihren Grundzügen. Anarchisten glauben, dass Macht korrumpiert und dass diejenigen, die ihr ganzes Leben damit verbringen, nach Macht zu streben, die letzten Menschen sind, die sie haben sollten.
Anarchisten glauben, dass unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem die Menschen lieber für egoistisches und skrupelloses Verhalten belohnt als dafür, dass sie anständige, fürsorgliche Menschen sind. Die meisten Menschen empfinden das so. Der einzige Unterschied ist, dass die Mehrheit der Menschen nicht glaubt, dass man irgendetwas dagegen tun kann oder jedenfalls — und das ist es, worauf die treuen Diener der Mächtigen immer am ehesten bestehen — irgendetwas, das die Dinge am Ende nicht noch schlimmer macht.
Und besteht wirklich ein Grund, dies zu glauben? Wenn man sie tatsächlich testen kann, entpuppen sich die meisten der üblichen Vorhersagen darüber, was ohne Staaten oder Kapitalismus passieren würde, als völlig unwahr. Seit Tausenden von Jahren leben die Menschen ohne staatliche Strukturen. In vielen Teilen der Welt leben Menschen heute außerhalb der Kontrolle von Regierungen. Sie bringen sich aber nicht alle gegenseitig um. Meistens gehen sie einfach ihrem Leben nach, so wie es jeder andere auch tun würde.
Natürlich wäre all dies in einer komplexen, urbanen, technologischen Gesellschaft komplizierter: aber die Technologie kann all diese Probleme auch viel einfacher lösen. Tatsächlich haben wir noch nicht einmal angefangen, darüber nachzudenken, wie unser Leben aussehen könnte, wenn die Technologie wirklich auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmt wäre.
Wie viele Stunden müssten wir wirklich arbeiten, um eine funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten — das heißt, wenn wir all die nutzlosen oder zerstörerischen Berufe wie Telefonverkäufer, Anwälte, Gefängniswärter, Finanzanalysten, PR-Experten, Bürokraten und Politiker loswerden und unsere besten wissenschaftlichen Köpfe von der Arbeit an Weltraumwaffen oder Börsensystemen abziehen und gefährliche oder lästige Aufgaben wie Kohleabbau oder das Putzen des Badezimmers mechanisieren und die verbleibende Arbeit unter allen gleichmäßig verteilen würden?
Fünf Stunden am Tag? Vier? Drei? Zwei? Niemand weiß es, weil niemand diese Art von Frage überhaupt stellt. Anarchisten denken, dass dies genau die Fragen sind, die wir stellen sollten.
„Es spielt keine Rolle, wer angefangen hat.“ „Zweimal falsch ergibt nicht einmal richtig.“ „Räumt euren eigenen Dreck weg.“ „Was du nicht willst das man dir tut …“ „Sei nicht gemein zu anderen, nur weil sie anders sind.“ Vielleicht sollten wir uns überlegen, ob wir unsere Kinder anlügen, wenn wir ihnen von Recht und Unrecht erzählen, oder ob wir bereit sind, unsere eigenen Anordnungen ernst zu nehmen. Denn wenn man diese moralischen Prinzipien zu ihren logischen Schlussfolgerungen bringt, kommt man zum Anarchismus.
Nehmen Sie das Prinzip, dass zweimaliges Unrecht kein Recht ergibt. Wenn man es wirklich ernst nehmen würde, würde das allein schon fast die gesamte Grundlage für Krieg und Strafjustiz wegreißen. Dasselbe gilt für das Teilen: Wir sagen den Kindern immer, dass sie lernen müssen zu teilen, auf die Bedürfnisse der anderen Rücksicht zu nehmen, sich gegenseitig zu helfen; dann gehen wir in die reale Welt, wo wir davon ausgehen, dass jeder von Natur aus egoistisch und konkurrenzorientiert ist. Aber ein Anarchist würde darauf hinweisen: Im Grunde ist es richtig, was wir unseren Kindern sagen.
So ziemlich jede große, lohnenswerte Errungenschaft in der Geschichte der Menschheit, jede Entdeckung oder Errungenschaft, die unser Leben verbessert hat, basierte auf Kooperation und gegenseitiger Hilfe; selbst jetzt geben die meisten von uns mehr von ihrem Geld für ihre Freunde und Familien aus als für sich selbst; obwohl es wahrscheinlich immer wettbewerbsorientierte Menschen auf der Welt geben wird, gibt es keinen Grund, warum die Gesellschaft auf der Ermutigung zu solchem Verhalten basieren muss, geschweige denn, die Menschen dazu zu bringen, um die grundlegenden Notwendigkeiten des Lebens zu konkurrieren. Das dient nur den Interessen der Leute an der Macht, die wollen, dass wir in Angst voreinander leben. Deshalb fordern Anarchisten eine Gesellschaft, die nicht nur auf freier Assoziation, sondern auf gegenseitiger Hilfe basiert.
Tatsache ist, dass die meisten Kinder mit dem tiefen Glauben an eine anarchistische Moral aufwachsen und dann allmählich erkennen müssen, dass die Welt der Erwachsenen nicht wirklich so funktioniert. Deshalb werden so viele rebellisch oder entfremdet, sogar selbstmordgefährdet als Jugendliche, und schließlich resigniert und verbittert als Erwachsene; ihr einziger Trost ist oft die Fähigkeit, eigene Kinder großzuziehen und ihnen vorzugaukeln, dass die Welt gerecht ist. Aber was wäre, wenn wir wirklich damit beginnen würden, eine Welt aufzubauen, die zumindest auf Prinzipien der Gerechtigkeit gegründet ist? Wäre das nicht das größte Geschenk an die eigenen Kinder, das man machen könnte?
Glauben Sie, dass Menschen grundsätzlich korrupt und böse sind, oder dass bestimmte Gruppen von Menschen (Frauen, People of Color, einfache Leute, die nicht reich oder hochgebildet sind) minderwertige Wesen sind, die dazu bestimmt sind, von ihren Vorgesetzten geführt zu werden?
Wenn Sie mit „Ja“ geantwortet haben, dann sieht es so aus, als wären Sie doch kein Anarchist. Aber wenn Sie mit „Nein“ geantwortet haben, dann stehen die Chancen gut, dass Sie bereits 90 Prozent der anarchistischen Prinzipien unterschreiben und wahrscheinlich Ihr Leben weitgehend in Übereinstimmung mit den Prinzipien gestalten.
Jedes Mal, wenn Sie einen anderen Menschen mit Rücksicht und Respekt behandeln, sind Sie ein Anarchist. Jedes Mal, wenn Sie Ihre Differenzen mit anderen ausräumen, indem Sie zu einem vernünftigen Kompromiss kommen und sich anhören, was jeder zu sagen hat, anstatt eine Person für alle anderen entscheiden zu lassen, sind Sie ein Anarchist. Jedes Mal, wenn Sie die Möglichkeit haben, jemanden zu zwingen, etwas zu tun, aber sich stattdessen entscheiden, an seinen Sinn für Vernunft oder Gerechtigkeit zu appellieren, sind Sie ein Anarchist. Das Gleiche gilt für jeden Zeitpunkt, an dem Sie etwas mit einem Freund teilen oder entscheiden, wer den Abwasch macht oder überhaupt irgendetwas mit Blick auf Fairness tun.
Nun könnte man einwenden, dass all das ja schön und gut ist, um in kleinen Gruppen miteinander auszukommen, aber eine Stadt oder ein Land zu verwalten, ist eine ganz andere Sache. Und natürlich ist da etwas dran. Selbst wenn man die Gesellschaft dezentralisiert und so viel Macht wie möglich in die Hände kleiner Gemeinschaften legt, wird es immer noch viele Dinge geben, die koordiniert werden müssen, vom Betrieb der Eisenbahn bis zur Entscheidung über die Richtung der medizinischen Forschung.
Aber nur weil etwas kompliziert ist, heißt das nicht, dass es keinen Weg gibt, es demokratisch zu tun. Es würde nur kompliziert sein. Tatsächlich haben Anarchisten alle möglichen verschiedenen Ideen und Visionen darüber, wie eine komplexe Gesellschaft sich selbst verwalten könnte. Sie zu erklären, würde jedoch den Rahmen eines kleinen einführenden Textes wie diesem bei Weitem sprengen. Es genügt zu sagen, dass erstens eine Menge Leute viel Zeit damit verbracht haben, Modelle dafür zu entwickeln, wie eine wirklich demokratische, gesunde Gesellschaft funktionieren könnte; und zweitens, und das ist genauso wichtig, behauptet kein Anarchist, einen perfekten Entwurf zu haben. Das Letzte, was wir wollen, ist, der Gesellschaft vorgefertigte Modelle aufzuerlegen.
Die Wahrheit ist, dass wir uns wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte der Probleme vorstellen können, die auftauchen werden, wenn wir versuchen, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen; dennoch sind wir zuversichtlich, dass solche Probleme, weil der menschliche Erfindungsreichtum das ist, was er ist, immer gelöst werden können, solange es im Geiste unserer Grundprinzipien geschieht — die in letzter Instanz einfach die Prinzipien des grundlegenden menschlichen Anstands sind.
David Graeber, Jahrgang 1961, war ein US-amerikanischer Ethnologe und Publizist. Er schrieb zahlreiche Bücher wie zum Beispiel „Frei von Herrschaft“ (engl. Originaltitel: Fragments of an Anarchist Anthropology), „Direkte Aktion: Eine Ethnografie“ (Direct Action: An Ethnography) und „Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus“ (Reinventing Revolution). Graeber war Professor für Ethnologie an der Yale University, lehrte Ethnologie am Goldsmiths College der Universität London und war ab 2013 Professor an der anthropologischen Fakultät der London School of Economics and Political Science. Er vertrat anarchistische Positionen, war Mitglied der Gewerkschaft Industrial Workers of the World und der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft. Er starb im September 2020.
Hatten Sie jemals das Gefühl, Ihr Job wäre ausgedacht? Dass sich die Welt weiter drehen würde, auch wenn Sie nicht acht Stunden Ihre Tätigkeit verrichten würden? David Graeber, Professor für Anthropologie an der London School of Economics, erkundete das Phänomen der unsinnigen Jobs und erkannte die psychologische Gewalt, die es auf die kollektive Seele ausübt.
Im Jahr 1930 sagte John Maynard Keynes voraus, dass zum Ende des Jahrhunderts der technologische Fortschritt es Ländern wie Großbritannien oder den Vereinigten Staaten ermöglichen würde, eine 15-Stunden-Woche einzuführen. Es gibt viele Gründe, dies als zutreffend anzunehmen. Aus technologischer Sicht sind wir dazu imstande. Und doch ist es nie eingetroffen. Stattdessen wurden technische Möglichkeiten genutzt, um Wege zu finden, uns alle noch mehr arbeiten zu lassen.
Um das zu erreichen, mussten Arbeitsplätze geschaffen werden, die tatsächlich überflüssig sind.
Riesige Massen von Menschen, in Europa und Nordamerika im Besonderen, verbringen ihr gesamtes Berufsleben beim Verrichten von Tätigkeiten, die sie insgeheim als nicht notwendig einschätzen. Der moralische und seelische Schaden, der durch diese Situation entsteht, ist beträchtlich.
Es ist eine sich über unsere kollektive Seele ziehende Narbe. Dennoch spricht so gut wie niemand darüber. Warum traf Keynes versprochene Utopie — selbst in den 60er Jahren noch eifrig erwartet — nie ein? Die Standardantwort darauf ist, er bedachte nicht den massiven Anstieg des Konsumverhaltens.
Wir bekamen die Wahl zwischen weniger Stunden oder mehr Spielzeugen und Vergnügungen, wir haben uns kollektiv für das Letztere entschieden. Das bietet uns zwar eine nette Geschichte mit moralischer Botschaft, aber selbst ein kurzer Moment der Reflexion zeigt, es kann so nicht sein.
Ja, seit den 20er Jahren haben wir die Schaffung einer endlosen Vielfalt neuer Arbeitsplätze und Branchen erlebt, aber nur sehr wenige haben etwas mit der Produktion und dem Vertrieb von Sushi, iPhones oder ausgefallenen Sneakers zu tun. Also, um was für Arbeitsstellen handelt es sich genau?
Ein kürzlich veröffentlichter Bericht, in dem die Beschäftigung in den USA zwischen 1910 und 2000 verglichen wird, vermittelt uns ein klares Bild (und ich merke an, ziemlich genauso ist es im Vereinigten Königreich).
Im Verlauf des letzten Jahrhunderts ging die Zahl der Arbeiter, die als Hausangestellte, in der Industrie oder in der Landwirtschaft beschäftigt waren, drastisch zurück. Die Zahl der „Fachleute, Manager, Sachbearbeiter, Vertriebs- und Service-Angestellten“ verdreifachte sich, sie wuchs „von einem Viertel auf drei Viertel der gesamten Beschäftigungsverhältnisse“. Mit anderen Worten, produktive Stellen wurden, so wie vorausgesagt, größtenteils durch Automatisierung wegrationalisiert (selbst wenn man Produktionsmitarbeiter weltweit mitzählt, mit einbezogen die schuftenden Massen in Indien und China, machen solche Mitarbeiter bei Weitem nicht so hohe Anteile der Weltbevölkerung aus, wie es einmal war).
Doch statt eine beträchtliche Minderung der Arbeitsstunden zu erlauben, die der Bevölkerung die Freiheit ließe, eigene Projekte, Vergnügungen, Visionen und Ideen zu verfolgen, haben wir ein Aufblähen nicht nur des Dienstleistungssektors, sondern gerade des administrativen Sektors gesehen.
Das schließt die Erschaffung vollkommen neuer Industriezweige ein, wie Finanzdienstleistung oder Telefonverkäufe, oder die nie da gewesene Expansion von Bereichen wie dem Körperschaftsrecht, der Verwaltung der Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, Humankapital und Public Relations. Und die Anzahl dieser Stellen bezieht noch nicht einmal die mit ein, deren Aufgabe es ist, administrative, technische oder sichernde Unterstützung für diese Gewerbe zu bieten oder zusätzliche Nebengewerbe (Hundewäscher, nächtliche Pizzaboten), die nur bestehen, weil jeder viel zu beschäftigt damit ist, seiner Arbeit in einer dieser Tätigkeiten nachzukommen.
Das sind Stellen, die, wie ich vorschlage, unsinnige Stellen genannt werden sollten (bullshit jobs).
Es ist fast so, als gäbe es da jemanden, der sich alle möglichen sinnlosen Jobs ausdenkt, nur um alle von uns beschäftigt zu halten.
Und hier, genau hier ist des Rätsels Lösung. Im Kapitalismus sollte genau dies nicht geschehen. Sicher, in den alten ineffizienten sozialistischen Staaten, wie der Sowjetunion, in denen Beschäftigung sowohl als ein Recht, als auch ein heiliger Dienst angesehen wurde, schuf das System so viele Stellen wie nötig (deswegen wurden in sowjetischen Läden drei Angestellte benötigt, um ein Stück Fleisch zu verkaufen). Aber das ist ja genau das Problem, welches durch den Wettbewerb gelöst werden soll.
Ökonomischer Lehre zufolge, ist das Letzte, was eine gewinnorientierte Firma bezweckt, Angestellte zu bezahlen, die sie nicht wirklich zu beschäftigen benötigt. Dennoch passiert genau das.
Während Unternehmen schonungslos Personal kürzen können, trifft es mit den Entlassungen und Beschleunigungen der betrieblichen Prozesse die Art der Beschäftigten, die tatsächlich Dinge schaffen, bewegen, reparieren und am Laufen halten; durch eine merkwürdige Alchemie, die niemand so richtig erklären kann, nimmt die Anzahl der bezahlten Bürohengste zu. Mehr und mehr Angestellte finden sich, tatsächlich sowjetischen Arbeitern nicht unähnlich, in 40 oder sogar 50 Stunden Wochen wieder, in denen sie Papierkram erledigen, effektiv aber lediglich 15 Stunden wichtige Tätigkeiten verrichten, so wie Keynes es vorhersagte.
Die restliche Zeit wird mit dem Organisieren und Besuchen von Motivationsseminaren, dem auf dem Laufenden halten von Facebook-Profilen oder dem Herunterladen von Fernsehserien verbracht.
Die Antwort ist deutlich nicht ökonomischer Natur: sie ist moralischen und politischen Ursprungs.
Die herrschende Klasse hat erkannt, dass eine zufriedene und produktive Bevölkerung mit frei verfügbarer Zeit eine tödliche Gefahr darstellt (man denke daran, was in den 60er Jahren zu passieren begann, als man dem lediglich nahekam).
Andererseits ist der Gedanke, Arbeit sei an und für sich von moralischem Wert und dass jeder, der nicht willens ist, sich die meiste Zeit der Stunden seines Wachseins irgendeiner Art intensiver Arbeitsdisziplin zu unterwerfen, nichts verdiene, außerordentlich zweckdienlich für sie.
Einst, als ich über das sichtlich endlose Wachstum verwaltender Verpflichtungen in britischen akademischen Ressorts nachdachte, kam ich auf eine mögliche Vorstellung die Hölle betreffend. Die Hölle ist eine Ansammlung einzelner Personen, die den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, eine Arbeit zu erledigen, die sie nicht mögen und die sie nicht besonders gut beherrschen.
Sagen wir, sie wurden angestellt, weil sie ein ausgezeichneter Tischler sind. Dann finden sie aber heraus, es wird von ihnen erwartet, dass sie einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, Fisch zu braten. Die Aufgabe ist nicht wirklich notwendig und sinnvoll — zumindest gibt es nur eine sehr begrenzte Anzahl von Fischen, die gebraten werden müssen. Irgendwie werden sie trotzdem alle so sehr von Unmut beherrscht, obsessiv daran denkend, einige Mitarbeiter könnten möglicherweise mehr Zeit in ihrer Tätigkeit als Tischler verbringen und nicht ihrem Teil der Verantwortung des Fischbratens nachkommen. Es dauert nicht lange und immer mehr unbrauchbare schlecht zubereitete Fische stapeln sich in der Werkstatt, und das ist dann alles, womit sie alle ihre Zeit verbringen.
Ich denke, das ist eigentlich eine ziemlich genaue Beschreibung der moralischen Dynamik unserer eigenen Wirtschaft.
Nun, mir ist bewusst, so ein Argument wird sofort Einwände aufbringen: „Für wen hältst du dich, zu bemessen, welche Arbeiten notwendig seien? Was ist schon wirklich notwendig? Du bist ein Professor für Anthropologie, welche Notwendigkeit besteht denn dafür?“ (Und tatsächlich würden viele Boulevardblattleser die Existenz meiner Arbeit als die passendste Definition von verschwenderischen Ausgaben ansehen.) Und auf gewisser Ebene ist es durchaus so. Es gibt keinen objektiven Messwert für das Gemeinwohl.
Ich würde mir nicht anmaßen, jemandem zu sagen, der überzeugt ist, einen sinnvollen Beitrag zum Wohl aller zu leisten, dem sei nicht so. Was ist aber mit denen, die selbst davon überzeugt sind, ihre berufliche Arbeit sei bedeutungslos?
Vor nicht langer Zeit kam ich wieder in Kontakt mit einem Schulfreund, den ich nicht gesehen hatte, seit ich zwölf war. Ich war erstaunt, als ich entdeckte, dass er in der Zwischenzeit zuerst ein Dichter wurde, dann der Frontmann einer Indie Rock Band. Ich hatte manche seiner Lieder im Radio gehört, ohne eine Ahnung zu haben, den Sänger zu kennen. Er war offensichtlich brillant, innovativ und seine Arbeit hatte zweifelsohne das Leben von Leuten überall auf der Welt erhellt und verschönt.
Trotzdem, nach einigen erfolglosen Alben verlor er seinen Vertrag, und von Schulden geplagt hatte er obendrein eine neugeborene Tochter zu versorgen. Am Ende entschied er sich, wie er es nannte, für die Standardentscheidung, wenn einem nichts besseres einfällt: Jura-Studium.
Jetzt ist er spezialisiert auf Gesellschaftsrecht und arbeitet für eine bekannte New Yorker Anwaltskanzlei. Er war der Erste, der zugab, seine Arbeit sei vollkommen bedeutungslos, leiste keinen Beitrag in der Welt und sollte, seinem Ermessen nach, nicht wirklich existieren.
Hier könnten einem viele Fragen einfallen. Angefangen damit: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass sie einen extrem begrenzten Bedarf an talentierten Dichtern und Musikern schafft, dafür aber einen scheinbar unendlichen Bedarf an Fachleuten für Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht? (Antwort: Wenn 1 % der Bevölkerung den größten Teil des verfügbaren Vermögens kontrolliert, spiegelt das, was wir „den Markt“ nennen, wider, was sie für nützlich oder wichtig halten, und nicht jemand anderes.)
Darüber hinaus zeigt es, den meisten Leuten in solchen beruflichen Tätigkeiten ist es sogar bewusst. In der Tat, ich meine, noch keinen Anwalt kennengelernt zu haben, der auf Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht spezialisiert ist, der nicht meinte, seine Arbeit sei Unsinn. Das Gleiche gilt für fast alle der vorher genannten neuen Industrien.
Es gibt eine Gruppe von bezahlten Fachleuten, die, solltest du sie jemals auf einer Party treffen und zugeben, eine interessante Tätigkeit auszuüben (beispielsweise als Anthropologe zu arbeiten), es vorziehen würden, überhaupt nicht über ihre ausgeübte Arbeit zu sprechen. Spendier ihnen ein paar Drinks und sie verfallen in Tiraden darüber, wie sinnlos und schwachsinnig ihre Arbeit wirklich ist.
Das hier ist eine tiefgreifende psychologische Gewalt. Wie kann man überhaupt anfangen, von Würde in der Arbeit zu sprechen, wenn man heimlich das Gefühl hat, dass sein Arbeitsplatz nicht existieren sollte?
Wie soll das nicht zu einem tief sitzenden Zorn und zu Verbitterung führen? Und doch hat es der eigentümliche Erfindergeist unserer Gesellschaft den Herrschenden ermöglicht, einen Weg zu finden, den Zorn und die Verbitterung auf die zu lenken, deren Glück es ist, eine sinnvolle und nützliche Tätigkeit zu verrichten, wie bei den Tischlern und Fischbrätern.
Ein Beispiel: In unserer Gesellschaft scheint es eine allgemeine Regel zu geben: Je offensichtlicher die eigene Arbeit anderen Menschen zugute kommt, desto weniger wird man dafür bezahlt.
Erneut, es ist schwierig ein objektives Maß zu finden. Aber eine simple Möglichkeit es zu ermessen, ist zu fragen: Was, wenn die Beschäftigten einer gesamten Berufsgruppe einfach verschwinden würden? Sag über Krankenpfleger, Müllleute oder Mechaniker was du willst, es ist klar, wenn sie sich alle in Luft auflösten, wären die Folgen sofort und katastrophal.
Eine Welt ohne Lehrer oder Hafenarbeiter wäre schnell in Schwierigkeiten. Selbst eine ohne Science-Fiction-Autoren oder Ska Musiker wäre sicherlich eine schlechtere. Es ist nicht ganz klar, wie die Menschheit leiden müsste, wenn sich Firmenchefs von Kapitalgesellschaften, Lobbyisten, PR- und Marktforscher, Versicherungsstatistiker, Telefonverkäufer, Gerichtsvollzieher oder juristische Berater in Luft auflösten. (Viele vermuten, die Welt würde sich merklich verbessern.)
Abgesehen von einer Handvoll wohl gepriesener Ausnahmen (Ärzte), hält sich die Regel erstaunlich gut.
Was noch widernatürlicher ist, es scheint eine verbreitete Ansicht zu geben, dass die Dinge so sein sollten. Das ist eine der heimlichen Stärken des Rechtspopulismus. Man kann es sehen, wenn Boulevardzeitungen zu Wut über streikende U-Bahn-Arbeiter aufstacheln, die London lahmlegen, um dadurch bessere Vertragsbedingungen auszuhandeln. Die Tatsache, dass es den streikenden U-Bahn-Arbeitern überhaupt möglich ist, London lahmzulegen, zeigt doch die Notwendigkeit ihrer Arbeit. Doch scheint genau das Leute zu ärgern.
Es ist sogar noch klarer in den USA, wo Republikaner bemerkenswerte Erfolge bei der Mobilisierung von Ressentiments gegen Lehrer oder Autoarbeiter (und nicht signifikant gegen die Schulverwalter oder Manager der Automobilindustrie, die tatsächlich die Probleme verursachen) für ihre angeblich aufgeblähten Löhne und Leistungen erzielt haben. Scheinbar will man ihnen sagen: „Du darfst doch Kinder unterrichten! Du darfst doch Autos bauen! Ihr habt echte Arbeit, die ihr verrichten könnt! Und dann habt ihr die Frechheit Mittelklassen-Altersbezüge und Krankenversicherung zu erwarten?“
Wenn jemand ein perfektes Arbeitsregime entworfen hätte, darauf abzielend die Macht des Finanzkapitals zu erhalten, wäre es schwer sich vorzustellen, wie man es hätte besser machen können.
Echte, produktive Arbeitskräfte werden unerbittlich ausgequetscht und ausgebeutet. Der Rest teilt sich auf in eine terrorisierte Schicht der allgemein geschmähten Arbeitslosen und eine größere Schicht, die im Grunde genommen für nichts bezahlt wird, in Positionen, die sie mit den Perspektiven und Empfindlichkeiten der herrschenden Klasse (Manager, Verwalter usw.) — und insbesondere der Finanz-Avatare — identifizieren sollen, aber gleichzeitig schwelende Ressentiments gegen jeden fördern, dessen Arbeit einen klaren und unbestreitbaren sozialen Wert hat.
Offensichtlich wurde das System nie bewusst entworfen. Es entstand aus fast einem Jahrhundert des Trial-and-Error. Aber es ist die einzige Erklärung dafür, warum wir alle trotz all der technologischen Möglichkeiten immer noch keine 3-4 Stunden Arbeitstage haben.