Links.

Das Selbst „hat kein Wesen, sondern ist eine Abfolge von Werden, ein weiterführendes Projekt der Selbstgestaltung ohne klares Ende oder Ziel („telos“). Aus dieser Perspektive sollte Autonomie nicht als Status gesehen werden, den jemand erreicht, sondern vielmehr als Reihe agonistischer [= „kämpferischer“] Praktiken, hervorgebracht im Kontext von Zwängen und Begrenzungen, sowohl äußeren, als auch inneren“: Ungehorsam bedeutet demnach heute nicht nur bestimmte Gesetze zu übertreten sondern verlangt andere Lebensformen und Selbstwahrnehmungen.
Saul Newman

 

Graswurzelrevolution (Zeitschrift und Verlag)
http://www.graswurzel.net/

 

Direkte Aktion - anarchosyndikalistische Zeitung

 

Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen
https://fda-ifa.org/


 

FAU (Frei Arbeiter:innen Union – Anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderation)
https://fau.org/
die verschiedenen Ortsgruppen haben meist einen eigenen Webauftritt

 

Alles Verändern, ein anarchistischer aufruf / …

https://www.crimethinc.com/tce/deutsch

 

War Resisters' International

 

Postanarchismus

www.postanarchismus.net/

No Power For No One! Postanarchismus setzt sich mit poststrukturalistischen und postmodernen Theorien aus anarchistischer Perspektive auseinander.

 

espero

 

www.projektwerkstatt.de - die Enzyklopädie politischer Theorie...

Herzlich willkommen auf der wilden www.projektwerkstatt.de, einer schier unendlichen Quelle von Aktionstipps und -berichten, politischen Analysen und Debatten.

 


STERNECK.NET - Kultur und Veränderung - Culture and ...

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Anarchistische Bibliothek

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Paradox-A - Anarchistische Theorie & Perspektiven


medico international - Gesundheit, Soziales, Menschenrechte

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Eine andere Welt braucht eine andere Hilfe. medico international kämpft gemeinsam mit Partnern für gesellschaftliche Veränderung.

Elf Jahre Rojava - Revolution der Hoffnung

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Gai Dao

 

 

Untergrund-Blättle | Online Magazin

 
www.untergrund-blättle.ch

Artikel, Reportagen und Analysen aus dem politischen und kulturellen Untergrund. Rezensionen, Essays und linke ...

Gai Dao

 

Zero-Covid??? - "Corona-Blasphemie!"

– Quarantäne auf Grundlage völlig unzuverlässiger PCR–Tests
– Besuchsverbot bei alten, kranken Verwandten und Freunden in Pflegeheimen
– Ausgangssperren bei einem willkürlich hochgetesteten Inzidenzwert
– Abschaffung von Grundrechten wie der Unverletzbarkeit der Wohnung
– Masken in Schulen für Kinder, die Erwachsene nicht länger als 70 Minuten tragen dürfen
– Spaltung der Gesellschaft, von Leitmedien und Politik befeuert
– Hausdurchsuchungen bei Kritikern (darunter Künstler, Richter, Wissenschaftler)
– Diffamierungen renommierter Experten
– Zerstörung der Lebensgrundlage investigativer Journalisten (Schließungen von Konten)
– Zensur auf Internetplattformen
– Löschung von Beiträgen und Webseiten (10 Millionen allein bei YouTube und Google)
– Manipulierte Lebensläufe von Kritikern auf Wikipedia
– Stigmatisierung Andersdenkender, in dem man sie in die rechte Ecke packt
– Zweiklassengesellschaft von Geimpften und Nichtgeimpften
– Indirekte Impfpflicht (sonst droht Berufsverbot!)
– Vernachlässigung des Schutzes des Kindes durch Maskenzwang und drohende Impfpflicht
– Impfpflicht für medizinisches Personal in Ländern wie Frankreich, Italien, Griechenland
– Vertuschung massive Nebenwirkungen der Impfung
– Haftungsausschluss der Pharmaindustrie in Bezug auf Nebenwirkungen der Impfstoffe
– Inflationswelle
– Massenpleiten
– Vernichtung des Mittelstandes.

Anarchistische Antworten und Perspektiven Über die Zeugen Coronas und den Ausstieg daraus Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich am 29.5. bei der Anarchistischen Buchmesse Mannheim hielt.

Aufgrund des grossen Gesprächsbedarfs, aber auch einer auf medizinische Aspekte fokussierten Debatte – bei der etwa die von mir in den Vordergrund gestellten herrschaftskritischen Aspekte etwas untergingen – kam insbesondere die Frage nach den Konsequenzen aus den Erfahrungen der letzten 2 Jahre und die Frage nach den Perspektiven für die Zukunft zu kurz. Für alle in Mannheim Anwesenden – und natürlich darüber hinaus für alle Interessierten – deshalb hier noch einmal der Vortragstext.

2022 gehört erstmals in der Geschichte Deutschlands weniger als die Hälfte der Biodeutschen einer der christlichen Kirchen an. Eine neue medizinisch-technokratisch-biopolitische Religion hat das Christentum abgelöst. Diese neue Religion vertritt, wie andere Religionen, ein geschlossenes, praktisch beratungs- und erfahrungsresistentes Weltbild.

Wir haben es bei den Zeugen Coronas mit einer Religion im Entstehen zu tun. Nicht bei allen der gleich genannten Merkmale sind sich alle Gläubigen einig, analog zur Geschichte des Christentums, wo Waldenser, Hussiten, Täufer, urkommunistische Kommunen etc. sich gegen einige Dogmen des Katholizismus wandten, ohne dem Glauben gänzlich zu entsagen.

Gleich den Zeugen Jehovas – die übrigens betonen, keine Verschwörungstheorien zu verbreiten… - gehen übrigens in einigen Städten „Impf-Lotsen“ von Haus zu Haus, oder beglücken ausgewählte Einrichtungen. Man kann diese ganzen Zeugen also durchaus verwechseln…

Gleich religiösen Bewegungen wird jede abweichende Meinung als Ketzerei abgetan – bzw. in der modernen Variante heute als „Verschwörungstheorie“. Dabei machen es sich die Zeugen Coronas indessen zu einfach, hat sich doch so manche „Verschwörungstheorie“ später als wahr erwiesen. Nur ein Beispiel: das US-Geheimdienste das Internet überwachen und unzählige Daten sammeln, galt lange als Verschwörungstheorie. Mit Edward Snowden, der den NSA-Skandal aufdeckte, konnte diese Vermutung bewiesen werden.

Auch manche frühe Befürchtungen von Corona-Massnahmen-Skeptiker:innen erwiesen sich schliesslich als zutreffend, siehe z.B. die Debatte um eine (vorerst nicht umgesetzte) Impfpflicht, die noch wenige Monate zuvor vom damaligen Gesundheitsminister Spahn bestritten wurde. Daher: wenn alles Verschwörungswahn und alles Rechts ist, dann dient dies nicht der Kenntlichkeit, sondern führt zu Unschärfe, Beliebigkeit & Verharmlosung.

Bei der folgenden Aufzählung bitte ich alle, einmal kurz innezuhalten und selbstkritisch zu reflektieren, inwiefern zumindest manche dieser Überzeugungen zeitweise geteilt wurden.

Was macht nun die Zeugen Coronas aus?

Einige Merkmale der Zeugen Coronas sind diese Ansichten:

Der Glaube an medizinische Prognostik: Diese wird als legitime Basis für alle folgende Massnahmen angesehen wird. Diese Kaffeesatzleserei widerspricht jeder evidenzbasierten Medizin. So wurde die Richtigkeit eines vollkommen nichtssagenden Wertes wie der „Inzidenz“ lange nicht infrage gestellt. Und wenn diese Prognostik doch so toll ist, dass mensch an ihren Lippen hängt: warum wurde nicht rechtzeitig ein solides, nicht profitorientiertes Gesundheitssystem geschaffen? Warum gab es keine Bevorratung mit Hygienemitteln? So plötzlich kam die Pandemie nicht, sie war, nach den Sars- und Mers-Epidemien Anfang der 2000er Jahre, nur eine Frage der Zeit. Ökologischer Raubbau, Regenwaldvernichtung, Klimawandel und bauliche Verdichtungen machen solche Zoonosen schliesslich immer wahrscheinlicher.

Der Glaube an „Experten“: Übersehen wurde, dass selbst innerhalb der Virolog:innen-Zunft nur eine sehr verlesene Auserwählten-Schar zu Regierungsberatungen und Pressekonferenzen eingeladen wurde. Abweichende Ansichten wurden auch hier in den Bereich des Verschwörungsdenkens verwiesen. Die Expertokratie spricht allen emanzipatorischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte Hohn, in denen zu Recht eine Begrenzung von Expert:innenmacht gefordert wurde zugunsten von Selbst- und Mitbestimmung. Ein Lesetipp dazu ist bis heute das bereits in den 1970er Jahren veröffentlichte Buch „Entmündigung durch Experten“ von Ivan Illich. Das Buch ist heute aktueller denn je, hat sich doch seither der Beratungs-, Coaching- und Dienstleistungsbereich enorm ausgeweitet.

Der Glaube an die Wissenschaft: sie wird ehrfürchtig betrachtet als etwas, das irgendwie über allem steht. „Wissenschaftlich“ zu argumentieren – oder Wissenschaftler:in zu sein -, das bedeutete, besonderes Gewicht zu haben. Dies offenbart jedoch ein naives, geradezu blindes Vertrauen in die Wissenschaft, die per se irgendwie als „vernünftig“ gilt. Denn dabei wird übersehen, dass Wissenschaft nie von den Strukturen der sie umgebenden Gesellschaft zu trennen ist, sie also gerade auch im Corona-Zeitalter wieder bestimmten Interessen unterworfen ist. Nur in einer freien Gesellschaft, die Staat und Wissenschaft trennt, kann Wissenschaft eine befreiende Kraft entwickeln. In diesem Sinne ist das Buch „Erkenntnis für freie Menschen“ von Paul Feyerabend auch über 40 Jahre nach der Veröffentlichung immer noch eine inspirierende Lektüre.

Der Glaube daran, dass der Staat etwas irgendwie Positives sei: der Staat soll uns irgendwie unterstützen oder retten vor Bedrohungen. Deshalb soll ein starker, autoritär auftretender Staat gut und nötig sein. Wir erlebten solchen Staatsglauben bereits anlässlich des Neoliberalismus, wo vielfach der Staat als Schutz- und Hilfsinstanz vor einem „entfesselten Kapitalismus“ angerufen wurde. Das es dem Staat zuvorderst darum geht, den Fortgang der Geschäfte sicherzustellen, wird dabei übersehen. Ebenso wird übersehen, dass staatliche Gesetze – so auch das Bevölkerungsschutzgesetz – vor allem dazu dienen, politische Kontrolle zu erlangen und soziale Unruhen zu vermeiden bzw. niederzuhalten. Warum also sollte mensch irgendeiner Regierung – die die Staatlichkeit managt, ohne deren grundsätzlichen Charakter anzutasten - vertrauen?

Der Glaube daran, dass das Virus so gefährlich sei – und zwar für alle: Angst ist demnach die angemessene Reaktion. Dabei wird übersehen, dass buchstäblich jede „Normalität“ der Angst geopfert wurde, sich anzustecken (vom bisherigen sozialen Leben und Freundschaften bis hin zu bisherigen politischen und religiösen Überzeugungen) Angst führt zu Misstrauen und Vereinzelung. Dabei wurde die Angst erst produziert, um dann drakonische Massnahmen zur vermeintlichen Linderung ergreifen zu können. Vergleiche dazu das geleakte Szenario des RKI von 2013 mit prognostizierten 7,5 Millionen Toten und gezielter Angsterzeugung. Dabei haben wir es mit einem vergleichsweise freundlichen Virus zu tun: eindeutig trifft es vor allem Menschen, die älter als 80 Jahre sind (das Sterbealter der nachgewiesenen Corona-Toten liegt im Schnitt über der durchschnittlichen Lebenserwartung), was beispielsweise bei der „spanischen Grippe“ ganz anders war.

Der Glaube, dass es bei den Corona-Massnahmen darum geht, besonders verletzliche Gruppen zu schützen: Dabei wurden ältere Menschen vielfach gegen ihren Willen „geschützt“ wurden – bzw. eben auch nicht wirklich gezielt geschützt wurden, wie die Statistik zeigt. Die brutale Isolierung in Pflegeheimen hat vielmehr zu zahllosem Leid und zu unzähligen Demenztoten geführt, jedoch keinen Tod verhindert. Damit hat das Coronavirus auch den Finger auf ein auch in Mitteleuropa vollkommen desolates Pflegesystem gelegt – ohne das sich daran seither ausser warmen Worten und Beifall (der aufgrund dieses Zynismus entschieden zurückgewiesen gehört!) etwas getan hätte.

Der Glaube daran, dass auf Freiheit verzichtet werden muss, um die Freiheit zu retten: Die faktische Einstellung jeder Form von politischer Teilhabe – siehe Demonstrationsrecht – ist in dieser Logik die vollendete, weil „verantwortungsvollste“ Form der Beteiligung. Freiheitsentzug wurde hier zur pädagogischen Massnahme: ihr bekommt eure Freiheit wieder, wenn ihr geimpft seid. Da dies eine kollektiv ausgesprochene Drohung ist, ist sie auch der Basis für den Hass gegenüber Ungeimpften: die nehmen mir ja meine Freiheit. Von der unlogischen Figur des „durch Unfreiheit zur Freiheit“-Kommens einmal abgesehen wäre auch der doch offenkundig sehr reduzierte bürgerliche Freiheitsbegriff hier einmal auseinanderzunehmen.

Der Glaube an den Sinn von Lockdowns („Zero Covid“): und das, obwohl 1. längst erwiesen ist, dass global mehr Menschen an den Kollateralschäden von Lockdowns sterben als durch das Virus und 2. freiwillige Massnahmen (Abstand, Hygiene) viel erfolgreicher sind als staatlich verordnete (vergleiche hierzu den 2021 von Karl Heinz Roth publizierten Band „Blinde Passagiere“). So gibt es in Afrika mehr Corona-Opfer durch Lockdowns als durch das Virus, nicht zuletzt durch während der Lockdowns vollkommen vernachlässigte Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV und Tuberkulose. Die Armen dieser Welt sind durch Lockdowns besonders verletztlich, so bilanziert die Welthungerhilfe Millionen zusätzliche Hungertote. „Zero Covid“ ist insofern nichts weiter als zynische Klassenpolitik gegen die Armen.

Der Glaube daran, dass es alternativlos ist, in vielen Staaten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Ausgangssperren zu verhängen: teils sogar solche, die weitgehender waren als die Ausgangsbeschränkungen im 2. Weltkrieg. Dabei wird übersehen, dass die Gefahr des Virus primär in Innenräumen droht, was auch schon früh bekannt war. Monatelange Einschränkungen der Bewegungen im Aussenbereich haben die Gesundheit von Millionen Menschen massiv beeinträchtigt (psychische Erkrankungen, zugenommener Drogenmissbrauch, Übergewicht, Herz- und Kreislauferkrankungen).

Der Glaube daran, dass es unbedingt nötig ist, eine strikte soziale Distanzierung zu praktizieren: Dabei wird übersehen, dass gute Sozialbeziehungen ein positiver Gesundheitsfaktor sind (während Angst, Isolierung etc. negativ wirken). Die Corona-Massnahmen sind damit eine systematische Zerstörung des Immunsystems. Die Distanzierung kommt vor allem den Kapitalinteressen der Digitalwirtschaft entgegen sowie den staatlichen Kontrollinteressen. Das Virus war eine Möglichkeit, die Akzeptanz von Biotechnologien und fortschreitender Digitalisierung zu erhöhen. So wurde während der Pandemiezeit weitgehend unwidersprochen die soziale Kontrolle bis ins Uferlose ausgeweitet.

Der Glaube daran, dass es nötig ist, auf Spass und Zusammenkünfte zu verzichten und stattdessen im Verzicht gemeinsam „solidarisch“ zu sein: Übersehen wurde, dass der Kampf gegen alles, was Lust und Genuss bereitet, eines der Kernelemente des Faschismus ist. Vergleiche hierzu das wegweisende Buch „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit. Eine staatstragende Antifa hat dies allerdings nicht begriffen. Abweichende Ansichten wurden mindestens als „unseriös“ betrachtet und mit „Faktenchecks“ beantwortet, die eigentlich ihrerseits Faktenchecks erforderten.

Der Glaube daran, dass alle, die abweichende Meinungen vertreten, mindestens „Verschwörungsschwurbler“, wenn nicht „Rechts“ sind (was mehr oder weniger das selbe war): selbst vor dem Begriff des „Coronaleugners“ scheute man dabei nicht zurück, womit der Holocaust verharmlost wird. Übersehen wurde dabei die problematische, rassistische Ideologiegeschichte des RKI ebenso wie der Umstand, dass eine auf AfD etc. fokussierte Faschismusanalyse verengt ist, weil Faschismus aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Mit ihrem autoritären Agieren wurde die „Antifa“, die nicht davor zurückscheute, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, in der Pandemie ihrem Feindbild immer ähnlicher (https://wolfwetzel.de/index.php/2022/02/08/wir-impfen-euch-alle-warum-und-worin-der-covid-antifaschismus-den-rechten-so-aehnlich-ist/).

Der Glaube daran, dass der Körper nicht einfach mir gehört, sondern er legitimerweise Gegenstand öffentlichen Interesses ist: der Einzelkörper wird zum Volkskörper. Das Recht auf Gesundheit wurde zur Gesundheitspflicht. Verantwortung, das heisst nun: Verantwortung „für uns alle“, d.h. in einer staatsförmigen Welt letztlich: für den Staat, für die Volksgemeinschaft. Dabei gab es seit Jahrzehnten demokratische und emanzipative Konzepte von Gesundheit, in denen es um körperliche Selbstbestimmung ging, Traditionslinien, die nun umstandslos entsorgt wurden. Vergessen ist etwa eine selbstbewusste „Krüppelbewegung“, die den „unperfekten Menschen“ gegen jeden Optimierungs- und Gesundheitswahn ins Zentrum stellte (vgl. Christoph Franz/ Christian Mürner: Der Gesundheitsfetisch).

Der Glaube daran, dass Impfungen der einzige Ausweg aus der Pandemie sind, die Pandemie damit zu bewältigen sei, und dass Kontaktverfolgungen sinnvoll und nötig sind: so wurden zuvor weithin kritisierte Biotechnologien (Impfstoff!) und Überwachungstechnologien akzeptanzfähig. Kritik an den Interessen von Pharmakonzernen beschränkte sich einzig und allein nur noch an der Patentierung von Impfstoffen, während etwa die Gates-Stiftung mit ihren neoliberalen Gesundheitsparadigmen gegen Kritik verteidigt wurde.

Vergessen wurde die grundsätzliche Kritik am pharma-medizinischen Komplex, wie sie etwa die BUKO-Pharma-Kampagne jahrzehntelang formulierte. Ich bin kein grundsätzlicher Impfkritiker, festzuhalten ist aber, dass Alternativen zum Impfen kaum erforscht wurden und eine allgemeine Impfpflicht beim Coronavirus durch nichts zu rechtfertigen ist (vgl. dazu meine Broschüre „Wider den Impfzwang“).

Der Glaube daran, dass das Virus ökonomische und soziale Verwerfungen sichtbar gemacht hat: dabei haben im Gegenteil diese Verwerfungen die Verbreitung des Virus erst ermöglicht – von globalen ökologischen Raubbau über die Mobilität einer „Globalisierung von oben“ im Interesse der globalen Warenproduktion und -verteilung bis zu wachsenden Verarmungsprozessen sowie prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen. Indem „wir, du, alle zusammen gegen Corona“ sind (so die Werbung der linken bremischen Gesundheitssenatorin), werden Interessengegensätze und soziale Konflikte übertüncht. Es braucht keinen Blick in die Kristallkugel, um festzustellen, dass (in dem Masse, in dem die gesellschaftlichen Konflikte ignoriert bzw. zugespitzt werden) auch die nächste Pandemie wieder vor allem die Armen sowie die unterversorgten Alten treffen wird.

Diese Beispiele mögen genügen. Zusammenfassend muss man sagen, dass im Sinne der Foucaultschen Analysen von Bio-Politik die pandemische Medizin-Technokratie zum neuen Gefängnis geworden ist. Namentlich eine Linke, die die Lust in all ihren Formen negiert, nicht zuletzt die Lust am wilden Denken, die hat sich selbst aufgegeben. Sie wird den Ausstieg aus den Zeugen Coronas nicht mehr schaffen.

Die Art und Weise, wie linke Bewegungen einen Medizin-Fundamentalismus das Wort redeten, einen Gehorsam gegenüber staatlichen Massnahmen forderten, die Macht der Expertokratie und der Digital- und Pharmakonzerne verkannten oder verleugneten und sich mit dem Verweis auf „Verschwörungstheorien“ jedem Diskurs verweigerten, hat zur Selbstaufhebung dieses Spektrums geführt. Diese Ansicht teile ich mit namhaften Künstlern und langjährigen politischen Aktivisten mit linksradikaler Geschichte, die dies aber noch nicht öffentlich äussern wollen, in der Befürchtung, bei Auftrittsmöglichkeiten, Lehraufträgen etc. beschnitten oder sozial ausgegrenzt zu werden.

Von den politischen bzw. anti-politischen emanzipatorischen Bewegungen sehe ich einzig beim Anarchismus noch Lichtblicke, er ist die einzige Strömung, die nicht komplett kopflos geworden ist, wenngleich auch hier sich einige Teile den Zeugen Coronas zuwendeten.

Buenaventura Durruti äusserte: „Anarchisten bekämpfen keine Menschen, sondern Institutionen“ – unter dem Banner staatlich verordneter Solidarität wie auch der linken Selbstentmündigung und der Denunziationen gegen Andersdenkende geschah in den letzten 2 Jahren allerdings das Gegenteil. So haben Linke missliebige, ihnen „verdächtige“ Menschen bekämpft, indem sie den Staat und seine Massnahmen unterstützten und drohten: „Wir impfen euch alle“.

Der Begriff „Freiheit“ war in den letzten Jahren fast nur noch von Rechten zu hören (die, bevor sie ihr Alleinstellungsmerkmal in dieser Hinsicht entdeckte, noch zu Beginn des Jahres 2020 nach autoritären „Massnahmen wie in China“ rief). Wobei das Freiheitsverständnis von Rechten selektiv und zudem populistisch funktional ist. Kritisiert wird die Beschränkung dessen, was uns staatlich zugestanden wird, ein sehr reduzierter Freiheitsbegriff also, der vorrangig dem Stimmenfang dient, weil man sich darüber nun vom restlichen Parteienspektrum abheben kann. Sich primär an den (realen oder angeblichen) Spaziergangs-Rechten abzuarbeiten statt an Staat & Kapital scheint mir allerdings die falsche Stossrichtung zu sein.

Die anarchistische Geschichte bietet mir hingegen Werkzeug, aus der herrschenden Misere hinauszukommen.

Ich zitiere Michael Bakunin: „Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, dass sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können“.

Anarchismus kann also weiterhin einen Beitrag dazu leisten, den gerade in der Pandemie epidemisch gewordenen Gehorsam gegenüber Staat und Autorität zu zerstören. Dies auch deshalb, weil Anarchist:innen noch am ehesten eine konsequente Staatskritik betreiben, die gegen staatliche Zumutungen immunisiert. Eine zentrale Aufgabe wird es sein, Staatlichkeit, Autoritarismus und Konformismus wieder aus den Köpfen derer herauszubekommen, die (noch) keine Anarchist:innen sind.

Zurückgreifen können Anarchist:innen auch auf das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Dabei geht es nicht zuletzt darum, partizipatorische, ressourcenerweiternde Prozesse zu unterstützen, auf das ein möglichst unabhängiges, selbstbestimmtes, gutes Leben für alle möglich wird. Angesichts der bestehenden globalen wie lokalen Spaltungen, Ausschlüsse und Lebensunsicherheiten, die durch die Corona-Massnahmen extrem verstärkt wurden, ist die gegenseitige Hilfe ein gegenwartstauglicher Baustein einer empowernden, inklusiven Unterstützungskultur. Ein derartiger, konkreter Anarchismus kann die anarchistische Theorie und Praxis auch für Menschen attraktiv machen, die (noch) keine Anarchist:innen sind. Denn das gute Leben für alle, das sollten gerade die Corona-Jahre doch gezeigt haben, wird eben nicht vom Staat garantiert.

Den Prinzipien von gegenseitiger Hilfe und Selbstbestimmung liesse sich noch das Prinzip der Solidarität hinzufügen. In der Pandemie war diese nur noch als staatlich bzw. moralisch verordnete Verpflichtung sichtbar, in Form einer exklusiven, ausgrenzenden Solidarität, die begleitet wurde von verbalen Vernichtungsphantasien gegenüber Ungeimpften und einer völligen Verkennung der sozialen Realitäten. „Stay at home“ – was bedeutet das in überfüllten, zu kleinen Wohnungen, oder für Wohnungs- und Obdachlose? Es ist keine einfache Aufgabe, das Prinzip der Solidarität aus dieser autoritären Herabwürdigung herauszulösen und wieder mit anarchistischem Gehalt zu füllen.

Anarchismus verwirft die autoritäre Ent-Mündigung, die im Corona-Zeitalter durch Masken geradezu buchstäblich versinnbildlicht ist. Anarchismus ist anti-politisch im Sinne der Ablehnung von Appellen an die Herrschaft, da die hierarchischen Institutionen konsequent abgelehnt werden, und er setzt den Zwängen von oben eine Selbstorganisierung von unten auf entgegen. Eine ganze Reihe anarchistischer Prinzipien sind auch für das Zeitalter der Pandemien anregend. Eine anarchistisch inspirierte Wissenschaftskritik und eine Kritik der Expertenherrschaft etwa wären gerade höchst aktuell.

Anarchistische Grundhaltungen können dazu beitragen, den Vorhang „aus Angst, Hass, nicht überprüfbaren Informationen, widersprüchlichen Massnahmen und einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen Zielen und Methoden“ freizulegen und gegen ihn zu opponieren, so die Anarchistische Initiative Ljubljana 2020, die auch schrieb: „Verbreiten wir das Virus des Widerstandes an Arbeitsplätzen, in Nachbarschaften und auf den Strassen“.

Das ist, angesichts der fast konsensualen Zustimmung zum Corona-Regime und seinen ideologischen Grundlagen, keine einfache Aufgabe. Aber diese Aufgaben ist wahrhaft alternativlos. Beginnen wir also damit: nehmen wir den Dirigenten den Taktstock und schreiten wir voran auf dem Weg aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (vergleiche Immanuel Kant, wobei der Kampf um eine Mündigkeit kein individueller, sondern ein gesellschaftlich-emanzipatorisches Projekt ist!). Es ist an der Zeit, sich nicht länger von Angst dirigieren zu lassen.

Es ist Zeit, Staat, kapitalistisch determinierter Wissenschaft und dem medizinisch-biotechnologisch-digitalem Komplex das Vertrauen zu entziehen und Zeit, für eine befreite Gesellschaft zu kämpfen.

Es ist Zeit für die Zurückweisung der Autoritäten und Zeit für eine antiautoritäre Rebellion. Nicht die alte sterile Normalität, die alles und jede:n zur Ware degradiert, braucht es, sondern eine neue, diverse Normalität. Es ist, mit Peter Brückner gesprochen, Zeit für die „Zerstörung des Gehorsams“.

Gerald Grüneklee

Anmerkung: die „Zeugen Coronas“ sind kein patentierter Markenbegriff. So bleibt es nicht aus, dass dieser Begriff auch von zweifelhaften Veröffentlichungen genutzt wird, wie mir nach Abfassung dieses Textes zur Kenntnis gelangte.

Positionspapier Kritik am Umgang mit der COVID 19 Pandemie. Positionspapier zur Corona-Krise der antiautoritären Gruppe ’Autonomie und Solidarität’.

Die in Schockstarre und Ohnmacht gefangene linke Szene hat auch nach zwei Jahren Corona-Pandemie noch keine Position gefunden, welche eine Antwort auf die staatliche Pandemiepolitik darstellt. Wir wollen hiermit eine anti-autoritäre, staatskritische, wissenschaftsbasierte und solidarische Position der Linken in der Coronakrise vorschlagen. Selbst wenn sich das Ganze jetzt dem Ende zuneigen sollte, wollen wir dazu anregen ein Resümee zu ziehen und die Rolle der Linken zu reflektieren. Gesundheitsschutz und Ablehnung von Autorität schliessen sich dabei nicht aus. Man kann sehr gut autonom und solidarisch handeln anstatt fremdbestimmt und unsolidarisch. Dass „Menschen vor Corona schützen“ und „autoritäre Massnahmen ablehnen“ einander ausschliessen, ist ein konstruierter Gegensatz.

Die staatliche Gesundheitspolitik ist unsolidarisch, kapitalistisch und autoritär!

Es gilt zu realisieren, dass die Massnahmen, die es gibt, nicht als gnädiger staatlicher Gesundheitsschutz angesehen werden können, sondern Ausdruck eines autoritären Staates sind, der eine Krisensituation zur Autoritarisierung ausnutzt. Der Staat ist nicht am Schutz unserer Gesundheit interessiert. Das äussert sich u.a. durch die aktuelle Untätigkeit im bewusst zerstörten Gesundheitswesen, durch die Verkürzung des Genesenstatus, die Nicht-Gültigkeit von Antikörpertests oder das Unterlassen jeglicher Massnahmen zur Verbesserung der Raumluft. Die Krisenpolitik ist eine schwer einsehbare und alles andere als übersichtliche Politik.

Von Masken-Deals bis zum Aussetzen kostenloser Schnelltests wirkten die staatlichen Massnahmen weder beruhigend, noch folgten sie einem nachvollziehbaren, rationalen Plan. Das Gesundheitswesen ist staatlich geduldet und offensichtlich gewollt nicht auf Gesundheitsfürsorge und die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet, sondern auf Umsatzgewinne. Es wurden in der Pandemie über 5000 Intensivbetten meist aufgrund von Personalmangel abgebaut. Kontakbeschränkungen sind nicht primär für die Verhinderung von Fällen geeignet, sondern für die Verschiebung dieser bzw. zur Verhinderung von Kapazitätsüberlastungen („flatten the curve“). Eine staatlich verordnete Impflicht widerspricht unseren Vorstellungen von einer selbstbestimmten Gegenwart und autonomen Entscheidungen über das eigene Leben und der Gesundheit.

Nur weil eine Impfung einen persönlichen Schutz bieten kann, bedeutet das nicht, dass dieser Schutz die Motivation von Politiker*innen ist. Anzunehmen, dass die systemisch bedingten profitorientierten Unternehmen in Kooperation mit dem Staat nichts anderes als unser gesundheitliches Wohlbefinden im Fokus haben, ist schlichtweg naiv.

Autoritarisierung als Gefahr

Mit Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 beobachteten wir, wie die Autoritarisierung, Überwachung und digitale Kontrolle sehr vieler Lebensbereiche eine Beschleunigung erfuhren. Wir mussten mitansehen, wie Staat und Gesellschaft durch Lockdowns, nächtliche und tägliche Ausgangssperren, 3G, 2G, 2G-Plus-Regelungen, Registrierungsapps, Tracing-Apps, Impfausweisapps und Pflichten zur Datenherausgabe und Nachweisen gegenüber Behörden/Polizei immer weiter ins offen autoritäre glitten. Wir sehen seither, dass sich digitale und analoge Kontrollmethoden weiter im Alltag verfestigen.

Wir bekamen mit, wie der Datenschutz und die Privatsphäre der Menschen von weiten Teilen der Politik zum Feindbild erklärt wurden. Wir hörten, wie der Überwachungskapitalismus „Lösungen“ versprach, deren Beiträge zur Pandemiebekämpfung bestenfalls fragwürdig schienen aber die zu noch mehr Kontrolle und Überwachung beigetragen hätten.Wir erlebten, wie technische Infrastrukturen und gesetzliche Grundlagen zur Kontrolle und Überwachung von Staat und Privatunternehmen vorangebracht wurden, die unter anderen Umständen vermutlich auf grössere Widersprüche und Widerstände gestossen wären, nun aber in der Krise weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz fanden. Wir fühlten uns dabei immer wieder an Naomi Kleins Werk zur Schockstrategie erinnert.

Mit den Plänen zur Einführung der Corona-Warn-App sahen wir dabei schon sehr früh, wie unter anderem der deutsche Staat versuchte, eine ursprünglich zentralisierte Tracking-App zu erschaffen. Diese hätte z.B. einen sozialen Graphen der gesamten Bevölkerung erschaffen können. Immerhin führte das im Frühjahr 2020 noch zu Widerständen in Teilen der Öffentlichkeit, darunter von nicht wenigen Linken und linksradikalen Gruppen. Die Einführung von digitalen Test- und Impfausweisen, die seitdem ständig in Kombination mit Identitätsdokumenten kontrolliert und abgescannt werden und zum Einlass- und Ausschlusskriterium wurden, führte kaum ein Jahr später zu weitaus weniger Widerspruch in der Gesellschaft.

Wenig überraschend war dann, dass Polizeibehörden auf die Datentröge der Luca-App zugriffen. Und zwar unabhängig davon, ob ihnen das gesetzlich erlaubt war oder nicht. Denn wenn Daten einmal gesammelt worden sind und irgendwo zur Verfügung stehen, wird auch von allen möglichen Seiten irgendwann darauf zugegriffen. Forderungen nach gesetzlichen Erlaubnissen lassen dabei meist nicht lange auf sich warten. Und selbst wenn einige der digitalen Kontroll- und Überwachungswerkzeuge wie die Luca-App doch wieder verschwinden, so könnte die Gewöhnung an Kontrollen und „freiwilligen Zwang“ zur Nutzung von ähnlichen Werkzeugen lange überdauern.

Auch an die Impfkampagnen und Debatten um Impfpflichten waren und sind weitergehende Kontrollvorhaben geknüpft, die wir ablehnen. Impfungen als hilfreich und empfehlenswert zu sehen, steht auch nicht im Widerspruch zur Ablehnung von Pflichten und direkten oder indirekten Impfzwängen. Dass Akteur*innen des Überwachungskapitalismus wie die Konzerne um „ID2020″, die Bundesdruckerei, der Rüstungskonzern Thales oder IBM über Impfkampagnen und Impfpässe digitale Identitäten, Zertifikate und biometrische Verifizierungs- und Überwachungsprodukte ausrollen wollen, zählt zu den gut belegbaren, von den jeweiligen Seiten sogar offen kommunizierten Fakten. Dass dystopische Vorhaben, wie solche errichtet werden, nicht als Dystopie sondern im besten „Tech-Solutionismus“-Sprech als Hilfe mit den bestmöglichsten Absichten beworben werden, überrascht uns nicht, denn so funktioniert (Überwachungs-)Kapitalismus nun mal.

Auch staatlicherseits war die Impfkampagne früh mit weitergehenden Kontrollvorhaben verbunden. So sollten mit dem Gesetz und Vorschlägen zur Impfpflicht auch polizeiliche Kontrollen von Gesundheits- und Identifizierungsdaten eingeführt werden. Eine indirekte Mitführungspflicht des Personalausweises drohte ebenfalls. Mehr noch steht die Erstellung eines Impfregisters nach wie vor im Raum das zu einem zentralen Gesundheitsregister werden könnte. Diesen „bestmöglichen Absichten“ des Staates vertrauen wir nicht.

Die zunehmende Verschmelzung von Staaten und Konzernen und die Digitalisierung verändern die Realitäten von Arbeit und Alltag, die Rollen von Staat, Gesellschaft und vom Individuum. Wir sollten Begriffe wie „Fortschritt“ kritischer hinterfragen und uns nicht mit vermeintlichen „Alternativlosigkeiten“ abfinden. Wir brauchen eine kritische, differenzierende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verschwörungstheorie. Und als Mindestanspruch müssen wir gegen digitalen und zunehmend offen autoritär auftretenden Kapitalismus auftreten, welcher in seiner jetzigen Form übergriffiger und unmenschlicher wird. Kämpfen wir für den Erhalt von Freiräumen!

Nachhaltiger Gesundheitsschutz

Da der Staat offensichtlich nicht an dem Schutz unserer Gesundheit interessiert ist, müssen wir uns fragen, wie wir einen solidarischen Gesundheitsschutz schaffen wollen bzw. welche Forderungen effektiv wären. Wissenschaftlicher Konsens ist es, dass Corona nicht verschwinden wird, und wo Kontaktbeschränkungen nur verschieben können, brauchen wir weiterhin nachhaltigen und solidarischen Gesundheitsschutz. Dass seit den 2000ern jährlich Krankenhausbetten abgebaut und Krankenhäuser geschlossen werden, sowie die Tatsache, dass Menschen im Gesundheitssektor unterbezahlt und unter schlechten Arbeitsbedingungen zur Profitrendite einzelner Grossverdiener*innen arbeiten müssen, ist Ausdruck der Neoliberalisierung des Gesundheitssektors und hauptsächlich für die Überlastung von Intensivstationen verantwortlich.

Nachhaltiger Gesundheitsschutz würde bedeuten, Interventionen gegen die Kapitalisierung des Gesundheitssystems in den Mittelpunkt zu stellen, ebenso die damit verbundenen Kämpfe des Gesundheitspersonal um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn. Zugleich muss sichergestellt werden, dass Menschen, für die Corona eine Gefahr darstellt, sich unabhängig von Einkommen, Klasse oder Herkunft schützen können. Neben kostenlosen PCR-Tests und Masken gehört dazu auch ein jährliches Impfangebot im August/September. Auch ein Bewusstsein für die Übertragungswege von Coronaviren über Aerosole sowie die damit verbundene Verbesserung der Raumluft fehlen.

Indien und Südafrika haben den sogenannten „Trips Waiver“ Antrag gestellt, in dem die Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Technologien für den Zeitraum der Pandemie gefordert wird. Seit über einem Jahr stimmt Deutschland diesem Antrag nicht zu und verhindert somit eine Verteilung des Impfstoffes weltweit. Wir sollten die Konzerne in die Mangel nehmen und konsequent eine Aufhebung der Impfpatente fordern.

Unteilbare Solidarität

Solidarität darf nicht nur selektiv die von Coronaviren gefährdeten Menschen einschliessen, sondern genauso auch von Massnahmen Betroffene. Die Massnahmen haben sowohl psychische Krankheiten ausgelöst oder befördert als auch Armut verstärkt und Existenzen zerstört. Generell ist die Corona-Politik eine zutiefst unsoziale Politik, durch die gesellschaftliche Ungleichheiten massiv verschärft werden: In den letzten zwei Jahren hat das globale Arm-Reich-Gefälle drastisch zugenommen. Von einer internationalen „Krise der Frauen“ ist zudem die Rede – in ökonomischer ebenso wie in gesundheitlicher Hinsicht, wobei der Anstieg genderbasierter Gewalt ebenfalls eine Rolle spielt.

Besonders in Deutschland wurden die Rechte von Kindern und Jugendlichen stark beschnitten, Schüler*innen und Student*innen aus weniger privilegierten Milieus im Bildungssystem weiter abgehängt, während Menschen in Alten- und Pflegeheimen seit fast zwei Jahren sozial isoliert leben – und sterben! – müssen. Inflation und stark erhöhte Strompreise treffen nun vor allem diejenigen, die über wenige finanzielle Ressourcen verfügen. Kontinuierlich schreitet die Aushöhlung von Arbeitnehmer*innenrechten voran, indem etwa Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall vom Corona-Impfstatus abhängig gemacht werden. Grundsätzlich zeigt sich: Je marginalisierter Menschen sind, desto heftiger treffen sie die „Massnahmen“. So wurden im Zuge der Lockdowns ganze Wohnblocks abgeriegelt, in denen Menschen in prekären Verhältnissen leben, Geflüchtete auf „Quarantäneschiffen“ festgehalten oder in den Sammelunterkünften weiter segregiert.

Die später geltenden 2G/3G-Regeln begünstigten Racial Profiling und bedeuteten eine zusätzliche Bedrohung für Menschen ohne Ausweispapiere. Zuletzt hatten zahlreiche Obdachlose und Geflüchtete kurzfristig sogar ihren Impfstatus verloren. Diese Massnahmen und ihre Folgen sind als unsolidarisch abzulehnen und zu hinterfragen. Eine echte solidarische Position muss sich von Lockdowns und 2G/3G-Regelungen verabschieden und richtigen Gesundheitsschutz fordern. Solidarität ist unteilbar!

In welcher Gesellschaft wollen wir leben

Die vielen kleinen und grösseren Massnahmen, Gesetze, Vorschriften, Lizenzen, Identitätsnachweise und Formulare, schrittweise eingeführt mit den Verweis auf ihre Rationalität, formen ein immer straffer werdendes Gehäuse der Hörigkeit. Mit jeder neuen Regel, jeder neuen Verordnung und jeder Beschneidung der individuellen Handlungsfreiheit verliert der Mensch ein Stück seiner Menschlichkeit. In der Corona-Pandemie haben die Zertifizierung, die Kontrollen und das Misstrauen gegenüber den Menschen zugenommen. Überall wird man kontrolliert, kategorisiert und durchnummeriert, muss sich ausweisen und beweisen. An jeder Strassenecke und in jeder Institution des öffentlichen Lebens werden Menschen gezwungen zu kontrollieren, sich kontrollieren zu lassen, dabei ihre Daten offenzulegen, und wenn eine*r (z.B. kein Pass) sich nicht einfügt, wird er*sie ausgeschlossen. Wer anders sein will, nonkonform, oder die Autorität in Frage stellt, gilt als unangepasst und als Aussenseiter.

Es braucht ein System, welches von unten nach oben organisiert ist, von den Rändern zum Zentrum hin. Ein System freier Menschen, die freiwillig zusammenkommen, um ihre Probleme zu lösen. Ein System, in dem sich jeder Mensch frei entfalten und solidarisch mit seinen Mitmenschen leben kann. Die Corona-Politik hat genau das Gegenteil vermittelt und normalisiert. Die Träume von Dezentralisierung und Selbstverwaltung, von Mutualismus, von einer Geselschaft ohne Monopole, offenen Grenzen und der Auflösung des Arbeitnehmer-Monopols rücken durch die Corona-Politik in immer weitere Ferne. In einer idealen Gesellschaft sind Konsens und Freiwilligkeit, sowie das Recht am eigenen Körper, unverzichtbar.

Umgang mit Massnahmenkritik/Querdenken

Die „massnahmenkritische Bewegung“ besteht zum grössten Teil aus einem (klein-)bürgerlich-unpolitischen Milleu. Dieses Milleu kann man als Massnahmenverlierer*innen bezeichnen. Von Rechtsextremen gibt und gab es taktische Überlegungen, die Bewegung zu übernehmen, um eigene Propaganda zu verbreiten und die Menschen zu radikalisieren. Dabei inszenieren sie sich ganz bewusst als Nicht-Nazis.

Gegendemonstrationen bzw. das Abwerten der Bewegung mit politischen Kampfbegriffen wie „Coronaleugner*innen“ (wohl kaum eine*r leugnet Corona) oder Ableismus sind absolut nicht dazu geeignet, diesem Phänomen zu begegnen. Gegendemonstrationen sind letztlich nicht nur staatstragend und verteidigen die absolut desaströse Politik, sie setzen auch nicht an der Wurzel des Problems, sondern nur an den Symptomen an. Es gab und gibt so viele Änderungen und moralische Erwartungen an das „Solidarisch“-Sein, da ist es nicht verwunderlich, dass Menschen dies hinterfragen. Die jahrzehntelange kapitalistische Gesundheitspolitik gegen ärmere Schichten hat dazu beigetragen, dass jene Schichten oft dem Gesundheitssystem nicht mehr vertrauen.

Eine Kooperation mit der Querdenken-Bewegung aus der Hoffnung heraus, man könne – wie in Frankreich – die Bewegung von links übernehmen und das revolutionäre Potential nutzen, ist derweil nicht nur absolut illegitim, da man so mit knallharten Faschos, neuen Rechten gemeinsam demonstrieren müsste. Sie wäre auch absolut ineffektiv, weil die Bewegung schon so mit Faschos durchsetzt ist, dass wir einfach zu wenige wären. Im Gegenteil, den Faschos würde es am meisten schaden, eine staatskritische linke Position in die Öffentlichkeit zu tragen und die bürgerlichen und linken Massnahmenkritiker*innen von ihnen weg zu ziehen.

Was es zu tun gibt

Wir stellen uns gegen:

– unsolidarische, aufschiebende Massnahmen zu Lasten von Armen und Marginalisierten

– Überwachung, Kontroll- und Auschlussmechanismen durch digitale Zertifikate und ähnliche Instrumente

– die symbolische, autoritäre Impfpflicht

– Verschwörungstheorien

– Autoritarisierung des kapitalistischen Staates

Wir sind für:

– eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne für Gesundheitspersonal

– ein auf Gesundheit ausgelegtes Gesundheitssystem und die Freigabe von Impfstoffpatenten

– kostenlose Schutzmöglichkeiten für jede*n und Verbesserung der Lufthygiene

– unteilbare Solidarität sowohl mit jenen, die von Corona betroffen sind, als auch mit Massnahmenverlierer*innen

– eine konsequent antiautoritäre, staatsablehnende Haltung

Gruppe Autonomie und Solidarität

Wir sind eine autonome Gruppe von Antiautoritären, die sich im Laufe des vergangenen Jahres zusammengefunden hat. Uns eint unsere Kritik und Ablehnung des staatlichen Umgangs mit der Corona-Pandemie. Mehr noch aber hat uns das Verhalten der linken und linksradikalen, in Teilen auch anarchistischen Szenen und einiger Antifa-Gruppen in Deutschland während der Pandemie erschrocken und entsetzt. Daher haben wir uns Gedanken dazu gemacht, wie wir aufzeigen können, was alles schiefgelaufen ist, welche Kritikpunkte und Gefahren wir sehen und welche Perspektiven und Positionen wir bei so vielen Genoss*innen in den letzten zwei Jahren vermisst haben. Herausgekommen ist eine Reihe von Texten, die wir aus unseren unterschiedlichen Perspektiven individuell verfasst haben und nun gemeinsam veröffentlichen möchten.

Zur Reflexion und zum Verfassen unserer Gedanken haben wir einige Zeit benötigt. Schlussendlich kamen wir ins Grübeln, ob unsere Positionen überhaupt noch eine Aktualität besitzen und ihre Veröffentlichung überhaupt noch notwendig und hilfreich ist. Wir kamen jedoch schnell zu dem Schluss, dass das alles noch immer der Fall ist. Auch wenn der Umgang mit der Corona-Pandemie nicht mehr, das Thema innerhalb der Medienlandschaft und gesellschaftlichen Debatten sein mag; wenn vormalige Reizthemen in der deutschen Linken, wie der Umgang mit „Querdenken“, „Schwurbel“ und „ZeroCovid“ zunehmend an Bedeutung verlieren mögen; wenn das autoritäre Handeln des Staates in einigen Bereichen von diesem wieder zurückgefahren und der Umgang mit der Pandemie routinierter geworden zu sein scheint und sich nicht zuletzt ein paar unserer Befürchtungen vorrübergehend oder vielleicht endgültig nicht bewahrheitet haben – die Corona-Krise und ihre Folgen für die Gesellschaft und die Linke sind längst nicht überwunden und wird viele von uns noch lange beschäftigen.

Zum einen könnten einmal eingeführte autoritäre Praktiken noch lange erhalten bleiben oder rasch auch unter geringeren Umständen wieder eingeführt werden. Der Staat und Teile der Gesellschaft haben sich daran gewöhnt, mit der pauschalen Einschränkung von Freiheitsrechten und anderem autoritären Vorgehen, statt mit gezielten und nachhaltigen Lösungen, Probleme und Krisen wie die Pandemie anzugehen. Corona ist nicht die einzige gegenwärtige Krise und wird auch leider nicht die letzte gewesen sein: Die Klimakrise, die Folgen von Inflation, von wachsender Armut und Ungleichheit, die voranschreitende Ausbeutung von Menschen und Umwelt, daraus resultierende Fluchtursachen, Proteste, Aufstände, Bewegungen verschiedener politischer Spektren und Ideologien, der digitale Überwachungskapitalismus, eine zunehmende Militarisierung und permanente Kriege – das sind bereits gegenwärtige Realitäten und sie drohen zu einer noch dystopischeren Zukunft zu werden, wenn sich der „Ausnahmezustand als Normalzustand“ für die Herrschenden erweisen sollte.

In Politik, Teilen der Gesellschaft und für den Staat könnten sich weitere Tendenzen zum offen Autoritären gegen einen befürchteten Kontrollverlust, zur Verwaltung des Elends und zur Wahrung eines Gefühls von Sicherheit und Effizienz, ja letztlich zum Erhalt des herrschenden Systems verstärken und sich aufgrund ausbleibender solidarischer und antiautoritärer Perspektiven ohne Widerstände von Links durchsetzen. Schon jetzt drohen einige eingeführte autoritäre Massnahmen des Staates nicht mehr von diesem zurückgenommen zu werden. Ähnlich wie nach den Anschlägen seit dem 11. September 2001 könnten nun unter der Begründung der „Biosicherheit“ oder der „Alternativlosigkeit“; Massnahmen erhalten bleiben und über ihren ursprünglich verkündeten Zweck erweitert werden, auch nachdem der Anlass ihrer Einführung einmal weit zurück liegen wird.

Dies umfasst nicht nur jene sogenannte „Basisschutzmassnahmen“, von denen manche ein sinnvoller Schutz sein mögen, sondern auch Behördenbefugnisse, digitale Überwachungstools, erhobene Datenschätze, absehbare Gesetzesvorhaben und gesellschaftlich normalisierte Verhaltensweisen und Affekte des einstigen Ausnahmezustandes. In der gegenwärtigen Debatte scheinen Themen wie weitere Impfpflichten, Impfregister, digitale Zertifikate und neue Lockdowns mit Ausgangssperren zumindest noch längst kein endgültiges Ende gefunden zu haben.

In keinem Fall sind die sogenannten „Kollateralschäden“ der Krise überwunden. Auch wenn sie zum Teil längst nicht im ganzen Ausmass erfasst wurden und oftmals „unsichtbare Leiden“ sein mögen, verschwinden die in der Corona-Krise entstandenen psychischen und sozialen Probleme der Menschen nicht einfach so. Sie dürfen auch nicht anderen Ursachen zugeschrieben, verdrängt oder marginalisiert werden. Mit unseren Texten wollen wir auch daran erinnern, dass Linke schlichtweg in der Verantwortung stehen, dieses Thema konstruktiv anzugehen. Auch der Umgang mit verschiedenen (bürgerlichen / rechten) Protestbewegungen in der Corona-Pandemie soll hinterfragt und konstruktivere Alternativen aufgezeigt werden. Und schliesslich sollen unsere Texte, die wir in den nächsten Wochen jeden Samstag/samstäglich veröffentlichen möchten, vor allem ein Angebot an alle Leser*innen sein. Auch wenn unsere Positionen vielleicht provokante und kontroverse Stellen enthalten mögen, sollen sie weder unversöhnliche Abrechnungen noch herablassende Belehrungen sein.

Wir erheben auch nicht den Anspruch, dass unsere Positionen der Weisheit letzter Schluss sind. Vielmehr wollen wir damit zur kritischen Reflexion der Entwicklung der vergangenen Jahre anregen und erhoffen uns nicht zuletzt, somit auch zur Selbstreflexion der Leser*innen beizutragen. Wir erhoffen uns, dass sie zu kritischen Diskussionen und/oder zum Hinterfragen von etablierten Positionen, eigenen Privilegien und Selbstverständnissen der Leser*innen anregen können. Schlussendlich möchten wir auch aufzeigen, wie ein Umgang mit der Pandemie möglich gewesen wäre, der statt autoritärem Handeln und dessen Einforderung durch die Gesellschaft, lieber Wege der Autonomie und echte Solidarität in der Krise anstrebt. Denn in einer Sache sind wir uns besonders einig: Das, was in den letzten zwei Jahren passiert ist, möchten wir nie wieder erleben!

Kapitulation im Klassenkampf.

In der Kritik der Linken spielt die soziale Ungerechtigkeit infolge der Lockdown-Maßnahmen keinerlei Rolle. Die Internationale vergeigt das Menschenrecht. So könnte man es in Anlehnung an eine traditionelle sozialistische Hymne ausdrücken. Nicht nur ist die Linke in den USA, aber auch in Europa überwiegend ein an Freiheit völlig desinteressiertes Milieu — auch die offensichtlichen sozialen Verwerfungen durch Lockdowns, De-facto-Berufsverbote und massive Umverteilung von unten nach oben „interessieren nicht“. Wo innerhalb eines gesellschaftlichen Spektrums „links“ ist, erkennt man keinesfalls mehr an einer irgendwie gearteten Parteinahme für die Armen und Ausgegrenzten. „Links“ ist heutzutage, wo man dich als „rechts“ beschimpft und dabei mit einer Attitüde moralischer Überlegenheit die Partei der dominierenden gesellschaftlichen Kräfte ergreift. Dies liegt mit Sicherheit auch daran, dass die meisten Linken vom tatsächlichen Leben — speziell bei den prekären Bevölkerungsschichten — eigentlich keine Ahnung haben. Freilich gibt es zum Glück Ausnahmen… Darren Allen

 

 

Vor einem Jahr schrieb ich einen Beitrag zur Reaktion der Linken auf den Lockdown. Darin stellte ich fest, dass der größte Teil der Linken geschwiegen oder Lockdowns unterstützt hatte. Keiner von ihnen sorgte sich, dass Lockdowns einen gewaltigen Vermögenstransfer an die bereits aufgeblähte Schicht der Wohlhabenden nach sich ziehen, die Armen umbringen und weiter ruinieren oder uns tiefer in eine techno-totalitäre Dystopie führen würden.

 

Keiner von ihnen hat die sogenannten „Fakten“ auch nur in Frage gestellt, geschweige denn versucht, sie — und das ist das Entscheidende — in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Wir befanden uns in einer „Pandemie“, die ungewöhnlich tödlich war oder zumindest eine ausreichende Bedrohung darstellte, um Lockdowns, Masken, Impfstoffe und Impfpässe zu rechtfertigen. Ende der Diskussion.

 

Die Liste der Stimmen unter den Linken, die entweder schwiegen oder die Geschehnisse offen unterstützten, war lang: Noam Chomsky, David Graeber, Media Lens, Jonathan Cook, Caitlin Johnstone, Chris Hedges, John Pilger, John Zerzan, Paul Kingsnorth, Dougald Hine, Glenn Greenwald, Asa Winstanley, The Canary, Novara, Squarkbox, Libcom, Moon of Alabama, Matt Taibi, Aaron und Gabor Maté, George Monbiot, „Mr. Ethical“, Billy Bragg, Max Blumenthal, Slavoj Žižek, George Galloway, Rachael Swinden, Michael Rosen, Peter Joseph, CounterPunch … und so weiter und so fort, und das ist auch heute größtenteils noch so.

Es ist wichtig zu verstehen, dass dies überhaupt nicht überraschend ist. Wer sich darüber wundert, hat nicht verstanden, was der linke Flügel eigentlich ist, wie er funktioniert und welche Interessen er verfolgt. Erlauben Sie mir, das zu erklären.

Manche glauben, die Linke zeichne sich in erster Linie dadurch aus, dass sie für marxistische Ideen, für Gewerkschaften, für das Eigentum an den Produktionsmitteln, für staatliche Unternehmen, für den Sturz des Faschismus, für die Abschaffung des Privateigentums, für die atomare Abrüstung oder für ein anderes hehres Ziel eintritt. Man könnte viel über diese Dinge sagen, aber das sind alles sekundäre Überzeugungen. Um die Linken zu verstehen, müssen wir begreifen, was sie tun und wie sie leben. Dadurch wird klar, warum sie die Dinge glauben, die sie tun, und, was noch viel wichtiger ist, warum sie so handeln, wie sie es tun; in diesem Fall, warum sie Lockdowns unterstützen.

Wenn wir damit beginnen, was die Linken tun und wie sie leben, sehen wir, dass sie die Managementklasse sind — sie sind die Fachleute, die das System oder „die Maschine der Welt“ organisieren, konzipieren, verwalten oder, im Falle der Schriftsteller, die uns hier interessieren, fördern und rechtfertigen. Die Macht der Managementklasse kommt nicht wie bei der Eigentümerklasse vom Eigentum, das heißt aus dem Kapital, daher „Kapitalismus“, sondern vom Management, von und durch die Gesellschaft, daher „Sozialismus“.

Das bedeutet nicht, dass die Linken nicht auch die gleiche Art von Macht haben wie Eigentümer, dass sie nicht auch manchmal rechte Ansichten vertreten, dass die beiden nicht auch ineinander übergehen und letztlich in ihrer impliziten Akzeptanz des Systems ununterscheidbar sind. Sie tun es und sie sind es.

Wenn wir jedoch von „den Linken“ sprechen, meinen wir jene Menschen, deren Macht auf der Anhäufung abstrakter Fakten und der Kontrolle von Informationen beruht und die daher Bildung und Geschmack über Moral und Sinn stellen und folglich niemals die Macht der geschmackvollen, gebildeten Klasse kritisieren.

Wenn wir von der „Linken“ sprechen, meinen wir diejenigen, die dazu berufen sind, die Maschine zu steuern, und die daher an die Macht der Maschine, der Technologie und, sofern die Maschine die Gesellschaft ist, an kollektivistische, staatliche, demokratische Lösungen für soziale Probleme glauben, die sie als „Toleranz“, „Inklusivität“, „Mitgefühl“, „Respekt“ und so weiter verpacken, die aber immer die heimliche, unausgesprochene Annahme enthalten, dass sie, die immer so nette Berufsklasse, diesen toleranten, mitfühlenden kollektiven Mechanismus irgendwie organisieren, oder erklären, oder bewerten oder reparieren werden.

Dies erklärt zum Teil auch die verhängnisvolle Hyperabhängigkeit der Linken von der Wissenschaft, vom Rationalismus, dessen religiöse Natur die Linke überhaupt nicht zu ergründen vermag. Alle Rationalisten sind blind für die Aspekte der Realität, die nicht abstrahiert oder begrifflich verwaltet werden können, aber die professionelle Klasse, die dafür bezahlt wird, der rationalen Maschine zu dienen, ist besonders militant, um nicht zu sagen selbstgefällig, in ihrem Festhalten an dem, was sie „Vernunft“ nennt, was aber, losgelöst von der irrationalen Gesamtheit des Lebens (hier erklärt), alles andere als vernünftig ist.

Apropos Erfahrung: Die Linken — und hier überschneiden sie sich mit den Rechten — üben nur selten handwerkliche Tätigkeiten aus und neigen daher dazu, die Form — intellektuelle Ideen und Theorien, Design, strukturelle Anpassungen und so weiter — gegenüber der Funktion und der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der realen Welt zu bevorzugen.

Darüber hinaus sind sie fast immer wohlhabend, bequem, mit Eigentum ausgestattet und in einer Welt aufgewachsen, in der Unsicherheit, geschweige denn die Notwendigkeit, sich für ihr Überleben direkt auf andere Menschen zu verlassen, eine untergeordnete Rolle spielt. All dies führt zu einer qualitativen „Atmosphäre“, an der die Linken teilhaben — einer Borniertheit, einer Selbstgefälligkeit, einer Verklemmtheit —, auch wenn ihre spezifischen Meinungen variieren.

Die Linken haben so gut wie keine gelebte Erfahrung mit dem, was die Menschen — die Arbeiterklasse und die Armen — das „wahre Leben” nennen, und sie sind kaum in der Lage, dieses Leben so zu sehen, wie es ist oder wie es von denjenigen erlebt wird, die am äußersten Ende ihrer Gesellschaft stehen.

Stattdessen „sorgen“ sie sich — sie „sorgen“ sich um die Armen, insbesondere die Armen in fernen Ländern, und um die Ausgegrenzten und um die Regenwälder und um die tragischen hungernden Kinder. Dies führt zu zwei zentralen Merkmalen der Linken.

Das erste ist ihre moralische Heuchelei — der ausdrückliche Wunsch zu „helfen“, verbunden mit einem Gefühl der netten, ethischen Überlegenheit, aber ohne tatsächliches Interesse daran, jemals etwas zu tun, das sich tatsächlich mit dem Problem befasst, das tatsächlich das System, das sie reparieren und verwalten, auseinandernimmt. Das zweite Merkmal derjenigen, die wenig Lebenserfahrung haben — und auch das teilen sie mit den Rechten —, ist ihre große Angst vor dem wirklichen Leben mit all seinen Unwägbarkeiten und vor den Menschen, die auch nur annähernd ein solches Leben führen.

All das ist der Grund, warum die Linke — als eine Klasse von Fachleuten, Akademikern, Managern und Wortführern — die Lockdowns akzeptiert hat. Sie sind süchtig nach technokratischen Lösungen für kollektive Probleme, wie sie die „Pandemie“ bot, ihre Macht und Sicherheit beruhen auf professionellem Fachwissen, das die „Pandemie“ verstärkt hat, sie beten den Staat an, den die „Pandemie“ ebenfalls verstärkt hat und von dem die Linke absurderweise glaubt, dass er uns irgendwie „vor dem Neoliberalismus schützt“.

Sie haben Angst vor Unsicherheit, Tod und Krankheit, ganz zu schweigen von der Menschheit; sie sehen das Leben abstrakt, so wie die „Pandemie“ die Menschheit durch das Prisma der „Fälle“ betrachtete, sie sind unkritisch gegenüber der „Wissenschaft“ und gegenüber der Leichtigkeit, mit der die „Wissenschaft“ manipuliert werden kann.

Wie Hannah Arendt es formulierte, „zeichnet sich totalitäre Propaganda durch ihr fast ausschließliches Beharren auf wissenschaftlicher Prophezeiung aus“, und sie haben keine Erfahrung damit, was es bedeutet, arm zu sein, von seiner verhassten Arbeit abhängig zu sein, um zu überleben, in mikroskopisch kleinen Elendsvierteln zu leben und immer nur einen Gehaltsscheck vom Ruin entfernt zu sein; die Klagen, dass Schließungen die Armen ruinieren würden, klangen, in Caitlin Johnstones Worten, wie „hysterisches Geschrei“.

Einige der Linken sind vielleicht in Armut aufgewachsen und wissen noch, wie es war, sich an einen Ast über dem Abgrund zu klammern, aber sie können nur aufsteigen, wenn sie sich als gehorsam, unkreativ und schwach erweisen, was sie auch sind, wenn sie gut zwanzig oder dreißig Jahre in der Wissenschaft, im Journalismus, in der Medizin oder im Recht verbracht haben.

Sie sind nicht in der Lage, sich gegen eine maschinell verstärkende Lüge auszusprechen, die die Gesellschaft erfasst hat, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie nicht in der Lage sind, das technokratische System zu kritisieren, das sie pflegen und an dem sie basteln; weil sie Angst haben, Leser einzubüßen oder ihren Status oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder — was am schlimmsten ist — das zu riskieren, was sie mit diesen Dingen versorgt.

Nun, und das versteht sich wohl von selbst, gibt es, wie immer in solchen Situationen, alle möglichen Ausnahmen von der oben skizzierten Situation. Wer sich auf dieses oder jenes Detail dessen, was ich gerade beschrieben habe, fokussiert, wird leicht Einwände und Ausnahmen finden. Außerdem, und das ist für uns hier wichtiger, gibt und gab es sicherlich viele Leute „auf der Linken“, die gegen die Lockdowns und den Mythos der Pandemie waren.

Unter den prominenten Kommentatoren der Linken schlugen Charles Eisenstein, CJ Hopkins, Dmitry Orlov, John Micheal Greer, Neil Clark, David Cayley, Giorgio Agamben, OffGuardian, Vanessa Beeley, Eva Bartlett, Patrick Henningsen, Daniel Fooks und andere mit unterschiedlicher Schärfe und Dringlichkeit Alarm. Ich hoffe, es ist jetzt ein wenig klarer, dass diese bewundernswerten Leute entweder keine Linken sind oder dass ihr Linkssein in gewisser Weise fehlgeleitet ist.

Linke Kritik(un)fähigkeit und patriarchaler Rollback Corona und linke Kritik(un)fähigkeit

 

Ausgerechnet in der Corona-Krise, in der autoritäre Herrschaft und Profitwirtschaft deutlich sichtbar werden, scheint die gesellschaftliche Linke nichts Besseres zu tun zu haben, als sich in Grabenkämpfen genüsslich selbst zu zerlegen und die Kritik an Staat und Kapital der gesellschaftlichen Rechten zu überlassen.

Die Parole „Wir impfen euch alle!“, voller Hass gegen demonstrierende Corona-Massnahmekritiker:innen gebrüllt, ist für mich zum Symbol dieses Versagens geworden.

Im Folgenden versuche ich, zu verstehen und aus feministischer Perspektive einzuordnen, was in dieser Corona-Krise passiert ist und immer noch passiert. Nicht als umfassende Analyse, sondern mit einem subjektiven Blick, vor allem auf Aspekte der Kommunikation. Dabei spreche ich nur für mich und beanspruche keine allgemeingültige Definitionsmacht.

Wenn ich Begriffe wie „patriarchal“ oder „feministisch“ verwende, dann beziehe ich mich damit auf das Patriarchat als hierarchische Form sozialer Organisation. Es ist älter als der Kapitalismus, aber die Strukturen der historischen Männerherrschaft bestehen bis heute. Sie sind nicht unbedingt vom biologischen Geschlecht abhängig, Frauenbewegungen haben viele Rechte erkämpft, aber auch heute bekleiden überdurchschnittlich oft Männer machtvolle Positionen, und es sind meist Männer, die Gewalt- und Gräueltaten begehen, unter denen Frauen und Transpersonen leiden und gleichzeitig die Verantwortung aufgeladen bekommen, die Folgen auszuputzen. Eine Kanzlerin Merkel macht noch keinen Feminismus, relevanter finde ich den Ansatz der Stadtregierung in Barcelona, wo die Basisbewegung „Barcelona en Comú“ mit der Bürgermeisterin Ada Colau für eine Feminisierung von Politik angetreten ist.

Gewalt ist patriarchal

Die Gesellschaft ist nicht freundlicher geworden in diesen pandemischen Zeiten. Eine Mischung aus Angst und Empörung ist das Grundgefühl, Härte und Rücksichtslosigkeit lassen sich von allen Seiten beobachten. Zurecht fragten im Oktober 2020 Vertreterinnen des Kollektivs „Feministischer Lookdown“ im Züricher Radio LoRa: „Warum waren wir – Frauen aus der feministischen Bewegung und andere Menschen, die sich links oder kritisch oder feministisch verstehen – so rasch bereit, die Definition darüber, was uns heute geschieht, an männliche Expertengremien – und damit auch an den Staat – abzugeben? [1]

Das Schüren von Angst – der Angst vor dem Ersticken und der Angst davor, diesen qualvollen Tod Angehöriger verschuldet zu haben – war bereits im Frühjahr 2020 vom Innenministerium im Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ erwogen worden, das in Auftrag gegeben wurde, um „‚weitere Massnahmen präventiver und repressiver Natur‘ planen zu können“, wie die WELT im Februar 2021 berichtete [2]. Eine Strategie des Ministeriums, dessen Minister Horst Seehofer sich an seinem 69. Geburtstag freute, dass 69 Menschen abgeschoben wurden.

Das Online-Spiel „Corona-World“ – öffentlich-rechtlich betrieben von ARD und ZDF – lädt ein: „Werde zum Helden der Coronakrise“. Zu „Helden“ assoziiere ich: männlich, kriegerisch und selbstgewiss, weil von höheren (eben heldenhaften) Motiven angetrieben. Einzelkämpfer (selten Kämpferinnen), die wissen wo es lang geht. Die nicht fragen, sondern anpacken. Das Spiel hetzt zu Gewalt (wenngleich nur am Computer) auf: „Schlüpfe in die Rolle einer Krankenschwester, die nach einem harten Arbeitstag einfach nur im Supermarkt einkaufen will. Aber Vorsicht! Überall lauern Infektionsgefahren. Nimm dich in Acht vor Joggern, Party People, Preppern und hochansteckenden Kindern. Schlage zurück, indem du deine Gegner desinfizierst. Hast du das Zeug, um Corona ein für alle Mal zu besiegen?“ [3] Während die Bundesregierung das Virus schnell zum Feind erklärt hatte, gegen den Krieg geführt werden müsse – was von links mit der Ausrottungsfantasie von Zero Covid aufgegriffen wurde – wird die Seuchenabwehr hier individualisiert.

Aber auch von massnahmekritischer Seite gibt es Übergriffiges, wenn beispielsweise Captain Future und seine Leute von der Freedom Parade ohne Masken durch einen Supermarkt oder einen Zug tanzen. Unabhängig von der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von Masken ist es rücksichtslos und gewalttätig, in der Corona-Situation andere in Angst und Schrecken zu versetzen und ihnen grenz­überschreitend die eigene Körperlichkeit und den eigenen Atem aufzudrängen.

All dies verstehe ich als Ausdruck patriarchaler Haltungen von Dominanz und Rechthaberei. Auch die vorgeblichen Schutzmassnahmen verströmen nur zu oft den kalten Hauch von Autoritarismus und Ausgrenzung. Am meisten haben mich jedoch die verbalen Gewalttätigkeiten von Linken erschrocken.

Rechthaben genügt?

Hätte ich diesen Satz „Wir impfen euch alle!“ als Demobeobachterin nicht selbst mehrmals gehört, hätte ich nicht glauben wollen, dass Antifas eine solche Parole rufen. Sind das die gleichen Leute, die sonst so viel Wert auf Achtsamkeit legen, sich den Kopf zergrübeln über ihre Privilegien und sich akribisch um eine gewaltfreie und inklusive Sprache bemühen? Kann diese Konstruktion des „wir“ und „ihr“ nicht ebenso als Othering, als Konstruktion vom „Anderen“, verstanden werden, wie es oft zurecht menschenfeindlichen Ideologien vorgeworfen wird? Mit dieser verbalen Attacke wird anderen abgesprochen, überhaupt Gesprächspartner:innen, geschweige denn potenziell Verbündete zu sein. Da gelten auch keine minimalen Regeln höflicher Distanz mehr, wie sie zwischen politischen Gegnern üblich sein sollten, sondern die anderen werden zu Feinden gemacht, denen gegenüber keinerlei Respekt mehr erforderlich ist.

Dabei ist der Inhalt dieses Satzes keine Banalität. Egal wie mensch zum Impfen steht, stellt es doch in jedem Fall einen Eingriff dar, eine Überschreitung der körperlichen Grenze und das Einbringen einer körperfremden Substanz, deren Wirkungsweise zumindest langfristig noch nicht bekannt ist, nicht bekannt sein kann. Auch wenn es nur eine Parole ohne unmittelbare Wirkmächtigkeit ist (mittelbar kann sie durchaus auf Debatten um eine Impfpflicht einwirken), wirft sie doch alles, was in der Linken an Gewaltfreiheit und Respekt vor der Integrität einer jeden Person entwickelt wurde, über den Haufen. Es waren vor allem Impulse aus der Frauenbewegung, die linke Bewegungen für Grenzüberschreitungen verbaler und körperlicher Art sensibilisiert haben.

Die Parole „Wir impfen euch alle!“ scheint einen patriarchalen Rollback zu markieren, der sich in den Umgangsformen auf der linken reflect-Mailingliste [4] spiegelt, wo beispielsweise am 20. Januar 2021 ein:e User:in in autoritärem Befehlston schrieb: „Laber mich und andere nicht voll. Lockdown. Maske. Alle Impfen. Abwarten. Punkt.“ Solche Antworten fängt sich leicht ein, wer auf Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen zu Corona hinweist, gar abweichende wissenschaftliche Meinungen zitiert oder auch nur kritische Fragen stellt. Ganz schnell kommt dann auch der Vorwurf „Schwurbler“. Argumente scheinen nicht mehr nötig zu sein, es genügt zu behaupten, Recht zu haben, auch innerhalb linker Bewegungen, nicht nur im Umgang mit denen, die aus unterschiedlichsten Motiven auf Demos von Querdenken oder anderen Massnahmekritiker:innen mitlaufen.

Wobei unter den Demonstrierenden auch Linke sind, aber auch Leute, die bisher nicht auf Demos gegangen sind. Da sind nicht alle so gut informiert, recherchieren nicht permanent, und ihnen vorzuwerfen, dass sie rechte Aussagen oder Nazis nicht gleich erkennen können, hat auch einen Beigeschmack von bildungsbürgerlicher Überheblichkeit, abgesehen davon, dass es nicht nur eindeutig rechts oder links einzusortierende Auffassungen gibt, sondern viele Zwischentöne.

Corona als das absolut Böse

Verbale Übergriffigkeiten sind nicht neu, haben aber mit Corona zugenommen. Beispielsweise versuchte jemand im April 2021 auf der öffentlichen, mittlerweile streng moderierten Attac-Diskussionsmailingliste inmitten erbitterter Streitigkeiten auch Gemeinsamkeiten zu formulieren und schlug vor: „Übereinstimmung: Leben schützen und anerkennen, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe.“ Sogleich bekam er die Antwort: „Es ist ist keine Übereinstimmung von uns, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe. Das rhetorische Mittel Corona in einem Satz mit normaler Grippe zu setzen, kennst Du und es verharmlost die Situation und zieht indirekt einen Vergleich.“

Diese Unterstellung einer Intention kann schon für sich als verbale Gewalt verstanden werden. Dass Corona nicht mit der Grippe verglichen werden dürfe, erinnert an das Argumentationsmuster, der Holocaust würde verharmlost, wenn er mit anderen Völkermorden verglichen würde. Schon der Begriff „Coronaleugner“ kann Assoziationen zu „Holocaustleugner“ wecken. Wer Corona zum absolut Furchtbaren, Unvergleichlichen stilisiert, beansprucht eine nicht kritisierbare Position, schon Nachfragen gelten als Sakrileg. Insofern spiegelt sich in diesem kleinen Beispiel die kommunikative Verhärtung, die nicht nur innerhalb linker Diskurse, sondern in der ganzen Gesellschaft prägend geworden ist. Hinzu kommt, dass der Vorschlagende ein einfaches Listenmitglied war, während der Antwortende kurz darauf in den KoKreis, das geschäftsführende Gremium von Attac, also in eine nicht ganz machtlose Position gewählt wurde.

Während Linke sich streiten, wissen die Rechten ihre Chance zu nutzen, geben sich mal wieder „nicht rechts, nicht links“ und bauen an ihren Netzwerken. Insofern sind akribische Antifa-Recherchen und aufklärende Öffentlichkeitsarbeit wichtig und notwendig, wenn sie überprüfbare Fakten zusammentragen. Mitunter ähneln jedoch die Vorwürfe, die von linker Seite gegenüber Massnahmen-Skeptiker:innen geäussert werden, eher Verschwörungserzählungen als rationaler Kritik.

Verschwörungserzählungen und linke Kritik

Ingar Solty und Velten Schäfer haben Ende 2020 vier Eckpunkte zur Definition von Verschwörungserzählungen benannt [5], die ich im Folgenden kurz (ggf. verkürzend) benennen und an ihnen Vorwürfe von links gegen Massnahmekritiker:innen spiegeln werde:

Erstens seien „Verschwörungstheorien radikal simplifiziert und personalisiert“. Das lässt sich über linke Kritik ebenso sagen, wenn auf Fragen oder Argumente nicht mehr eingegangen wird, sondern diese pauschal als „Geschwurbel“ abgetan werden, und wenn es ausreicht zu behaupten, jemand stünde beispielsweise den Querdenkern nahe oder sei bei denen aufgetreten, um sich mit so jemandem nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen, egal was diese Person äussert, sei sie auch fachlich noch so kompetent.

Zweitens „denken (sie) in Schwarz und Weiss und kennen keine Schattierungen.“ Auch dies findet sich in Kritiken von links. Es deutete sich bereits früher bei anderen heiklen politischen Themen an, aber nun, wo die Corona-Diskussionen hoch aufgeladen um existenzielle Fragen von Tod oder Leben geführt werden, scheint die Kultur des vorsichtig fragenden Abwägens von Ambivalenzen und Widersprüchen gänzlich verloren gegangen zu sein. Simplifizierende Parolen suggerieren stattdessen, es gäbe nur noch gut oder böse, falsch oder richtig – vielleicht ein Reflex auf das zunehmende Leben in digitalen Welten, deren Null-Eins-Null-Eins-Struktur sich unbewusst auch ins Denken und Fühlen einschreibt?

Drittens steht in ihnen „das Ergebnis jedweder gesellschaftlichen Debatte a priori fest.“ Das ist die klassische Haltung patriarchaler Rechthaberei, die im Grunde aus dem oben bereits Ausgeführten folgt.

„Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktischen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderbar, erst recht innerhalb des gegebenen politischen Systems.“ Hier ist die Parallele nicht ganz so einfach zu ziehen. Jedoch sehe ich eine ähnlich fatalistische Haltung in der Stilisierung von Corona als das absolut Böse, in der aggressiven Abwehr von Vorschlägen zur selbsttätigen Stärkung des Immunsystems und der hilflosen Hoffnung auf die Rettung durch die Impfstoffe der Pharmaindustrie.

Für Solty und Schäfer ist solches Verschwörungsdenken Ausdruck eines politischen Vakuums, „das durch die Schwäche einer antikapitalistischen Linken entsteht.“ Sie warnen: „Ganze soziale Felder schon bei Spuren ‚unreinen‘ Denkens abzuschreiben, ist aber nicht nur unpolitisch, sondern zeugt auch von geringem Selbstbewusstsein.“ Genau dies tun die Teile der Linken, die mit ihren feindlichen Attacken gegen Andersdenkende denen ähnlich werde, die sie kritisieren wollen.

Wo jedoch Kritik notwendig wäre, gegenüber den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, zeigen sie oft eine erstaunliche Unfähigkeit oder Unwilligkeit. So wird Antifaschismus zur leeren Selbstdarstellung in der neoliberalen Konkurrenz um Aufmerksamkeit, bleibt ideologisch ohne real etwas zu bewirken. Mit Erich Fried lässt sich feststellen: „Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Aber ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist!“

Sicher gibt es viele, die sich eher zurückziehen, das Corona-Thema meiden, um sich nicht zu zerlegen, wie es in Familien, Freundeskreisen und selbstorganisierten politischen Initiativen und Projekten viel zu oft geschehen ist. So sind vor allem die Lauten zu hören, und vielleicht ist es gar keine Mehrheit der Linken, die sich so aggressiv aufführt. Bedachtere Stimmen, die abwägen und nach wie vor ein breites Meinungsspektrum respektieren, gibt es ja durchaus auch. Sie sind allerdings viel weniger wahrzunehmen und haben sich vor allem nicht organisiert, um der zunehmenden Feindseligkeit, die letztlich nur den Mächtigen und den Rechten nützt, etwas entgegenzusetzen.

Respektvoll und gewaltfrei kommunizieren?

Wo sind die kulturellen Errungenschaften respektvoller und gewaltfreier Kommunikation geblieben, die seit vielen Jahren alternative Bewegungen geprägt haben? Ist nicht einer der wichtigsten Grundsätze eines gedeihlichen Miteinander, nicht über andere, sondern über sich selbst zu sprechen – aus der Erkenntnis heraus, dass es gar nicht möglich ist, in andere hineinzuschauen und Aussagen über deren Beweggründe zu machen? Beobachtungen des Verhaltens oder der Äusserungen anderer können aus Sicht der Betrachter:in formuliert werden und ermöglichen ein Gespräch zwischen Subjektivitäten. Wer sich jedoch verobjektiviert und Aussagen über die Intention einer anderen Person macht, begeht eine Form verbaler Gewalt und Grenzüberschreitung, denn über das eigene Innenleben kann nur jede:r selbst Auskunft geben. Warum nicht einfach nachfragen?

Selbstverständlich können solche Selbstauskünfte angezweifelt werden, aber das wäre dann eine Aussage über den eigenen Zweifel, und keinesfalls eine Tatsachenfeststellung über eine andere Person. Behauptungen über andere oder Vorwürfe, die Gesprächspartner:innen in eine Verteidigungsrolle drängen, haben in solidarischen Zusammenhängen nichts zu suchen. Konstruktive Kritik stellt die eigene Auffassung neben die Auffassungen anderer, ohne sich über diese zu erheben und die eigene Meinung als die einzig richtige darzustellen. Eine kooperative, feministische Haltung äussert sich meines Erachtens im Sowohl-als-Auch, das die Möglichkeit des eigenen Irrtums mitdenkt, während das Entweder-Oder aus der Gefühls- und Gedankenwelt patriarchal geprägter Konkurrenz entspringt.

Die heilige Inquisition – Wissenschaft oder Religion?

Im Umgang mit Corona zeigt sich auch, wie wenig geblieben ist vom Aufbruch der alternativmedizinischen Bewegung der 1970/80er Jahre, als ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Rolle von Ärzt:innen im Nationalsozialismus auch die einseitige Orientierung auf Pharmaindustrie und Medizintechnik kritisiert wurde. Ganzheitliche Erfahrungs- und Naturheilkunde ergänzte die Schulmedizin, und in Selbsthilfegruppen fanden viele zu einem neuen, weniger entfremdeten Umgang mit sich selbst. Solche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit waren etwas vollkommen anderes als das, was von neoliberaler Seite als Eigenverantwortung gefordert wird und nur die Kehrseite von entwürdigenden Sparprogrammen darstellt.

Heute scheint der Begriff „alternativ“ fast zum Schimpfwort geworden zu sein. Alternative Medien gelten als Organe zur Verbreitung von Fake News, und wenn bei Berichten über Querdenken-Demos Esoterikerinnen, Homöopathen, Anthroposophinnen und Impfskeptiker als Teilnehmende aufgezählt werden, dann schwingt zumindest unausgesprochen mit, es sei doch klar, dass die alle irgendwie verschwörungstheoretisch oder rechts seien, mindestens rechtsoffen.

Die Art und Weise, wie manche Linke heute auf Wissenschaftlichkeit beharren, die vermeintlich Eindeutiges festgestellt hätte, hat fast schon einen religiösen Charakter, denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind vielfältig und widersprüchlich, ebenso deren Interpretationen durch Expert:innen aus medizinischen und anderen Fachgebieten. Widersprüche und kontroverse Diskussionen sind ein Nährboden zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, das unterscheidet Wissenschaft von Religion.

Wissenschaft ist oft hilfreich, aber sie ist nicht die Wahrheit, sondern interpretierbar und auch manipulierbar, und ihre Erkenntnisse sind nicht unabhängig davon, wer sie finanziert. Wenn diejenigen, die Unbotmässiges äussern, harsch zurechtgewiesen und belehrt werden, dann ist ein Hauch von heiliger Inquisition zu spüren. Dafür reicht es mitunter schon, auf die Bedeutung des Immunsystems für den Verlauf von Infektionskrankheiten hinzuweisen. Früher wurden naturheilkundige Hexen verbrannt.

Das Verbindende betonen

Einen Impuls zur Aussöhnung veröffentlichte im Juli 2021 eine Gruppe von 16 Expert:innen aus Deutschland und Österreich, darunter die Politikprofessorin Ulrike Guérot, der Begründer der Gemeinwohl-Ökonomie Christian Felber und der frühere Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber, der in den 1970er Jahren den ersten Gesundheitsladen mitgegründet hatte und heute Vorstandsvorsitzender des Berufsverbandes der Präventologen ist. Sie möchten die Spaltung der Gesellschaft überwinden, indem sie die Corona-Krise analysieren und dazu beitragen, „die Ziele umfassende Gesundheit aller, Grundrechte und Demokratie, sozialer Zusammenhalt und nachhaltiges Wirtschaften besser in Einklang“ zu bringen [6].

Während ich schreibe, sind die Zapatistas aus dem mexikanischen Chiapas in Europa unterwegs auf einer „Reise für das Leben“, mit der sie Bewegungen „von links und unten“ vernetzen wollen, indem sie das Verbindende betonen und nicht das Trennende [7]. In der Selbstverwaltung und den Kämpfen der Zapatistas spielen Frauen und Transpersonen eine wichtige Rolle. Ihre Praxis ist eingebettet in eine Kosmologie des Lebens in der und mit der Natur. In ihrer Haltung des „fragend voran“ drückt sich das Bemühen um Resonanzbeziehungen aus, das sozialen Kämpfen einen gänzlich anderen Charakter verleiht als das hier beschriebene patriarchale Dominanzverhalten.

 

Elisabeth Voss

Dieser Artikel erschien im Herbst 2021 in:

Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2021, 240 Seiten, 19 Euro: http://www.agspak-buecher.de/epages/15458842.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/15458842/Products/%22M%20356%22

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik Kritik an den „Corona-Massnahmen“

 

Wir erleben seit März 2020 die grössten Freiheits- und Grundrechtsbeschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir legen mit unserem Buch die erste Veröffentlichung vor, die sich aus kritischer, linker Perspektive mit den Entwicklungen der letzten Wochen beschäftigt.

Damit positionieren wir uns. Wir widersprechen zugleich postmodernen Sichtweisen, nach denen die Kategorien rechts und links heute nicht mehr tauglich seien. Im Gegenteil, das Thema ist zu wichtig, um es dem Mainstream oder den Rechten zu überlassen. Das sich in diesen Tagen formierende Querfront-Milieu aus rechten, rechtsextremen, neu-rechten und weiteren unappetitlichen Kräften greift zum Teil berechtigtes Unbehagen auf, um es politisch zu vereinnahmen und in die eigenen, antiaufklärerischen und antiemanzipatorischen Aktionen, Demonstrationen, Youtube-Videos und Pamphlete zu integrieren.

Dieser Strategie ist eine klare Absage zu erteilen, wir grenzen uns entschieden von rechter Corona-Kritik sowie von den unterschiedlichsten (antisemitischen, den Holocaust verharmlosenden, esoterischen) Verschwörungsmythen in Deutschland ab. Es gibt weltweit neo-nazistische, islamistische und weitere antisemitische Diffamierungen, die Juden oder Israel mit Covid-19 in Beziehung setzen, was man z.B. in Karikaturen sehen kann.

Wir wenden uns scharf gegen die derzeit zu beobachtende Tendenz, nach der jede Kritik an den „Corona-Massnahmen“ bewusst als Verschwörungstheorie denunziert wird, um sie damit ohne weitere inhaltliche Auseinandersetzung abzutun. Dass kein kritischer Diskurs erwünscht ist, zeigt auch der ganz aktuelle Fall eines hohen Beamten im Bundesinnenministerium, der vor den Kollateralschäden der Corona-Massnahmen warnte und die Verhältnismässigkeit der rechtlichen Einschränkungen infragestellte – er wurde ohne sachliche Diskussion seiner Thesen kurzerhand im Mai seines Dienstes enthoben. Abweichende Argumente werden offenbar als Meuterei betrachtet und pauschal diffamiert. Diese Formierung der Gesellschaft macht uns mehr Angst als das Virus selbst.

Wir betonen: Das Coronavirus existiert. Es ist keine Erfindung und keine Verschwörung. Es ist offenkundig nicht weniger gefährlich als die Influenza. Wir halten die Rücksichtnahme auf gefährdete Risikogruppen für eine Selbstverständlichkeit, die gegen die Prämissen der aktuellen wirtschaftsradikalen Politik durchgesetzt werden muss. Einige der Initiativen, die sich dafür einsetzen, haben wir in dem Buch dokumentiert. Doch gerade die Influenza (nehmen wir 2018) zeigt, dass der Tod Teil des Lebens ist. Die aktuellen Massnahmen sind vollkommen unverhältnismässig. Sie gefährden die Demokratie.

Wir kritisieren ein fragwürdiges Sicherheitsdispositiv, das bestimmte – aber bei weitem nicht alle, siehe z.B. die Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel – Risiken zu mindern versucht, indem Gesundheit und Freiheit gegeneinander ausgespielt werden. Im Gegensatz zur Influenza ist COVID-19 sehr spezifisch in der Auswahl seiner „Zielgruppe“: alte und vorerkrankte Menschen. Wie die Forschung (u.a. Prof. Ioannidis aus den USA) empirisch gezeigt hat, ist das Risiko für Menschen unter 65, an diesem Virus schwer zu erkranken, so extrem selten wie ein schwerer Unfall auf dem Weg zur Arbeit.

Angesichts eines mit Sondervollmachten ausgestatteten, am Parlament vorbeiagierenden Superministers Spahn, der sich im wörtlichen Sinne „ermächtigen“ liess (Bundestagsprotokoll), von im Eilverfahren beinahe einstimmig durchgepeitschten Gesetzesänderungen, von entmündigenden Zwangsmassnahmen, von Grenzschliessungen, die nur nationalistische Stimmungen verstärken (das Virus schert sich nicht um Grenzen), und eines wochenlangen vollständigen Demonstrationsverbots wurde das Coronavirus seitens der Regierungen offenbar genutzt, das bereits erreichte Mass der von der Zivilgesellschaft der letzten Jahrzehnte erkämpften Emanzipation wieder massiv zurückzudrehen. Erzeugt wurde eine Atmosphäre von Angst und Massenpanik – verstärkt durch Massnahmen wie der „Maskenpflicht“ –, vor deren Hintergrund autoritäres Staatshandeln schliesslich als vermeintlich „alternativlose“ „Lösung“ verkauft wurde.

Wenn von der „Bild“-Zeitung bis zur Antifa beinahe alle Menschen bereit zu sein scheinen, einen Ausnahmezustand zu akzeptieren, der zum Normalzustand zu werden droht – inklusive eines nicht offiziell erklärten, faktisch aber umgesetzten Notstands, hoher Bereitschaft zu digitaler Überwachung, verbreiteter Denunziationen, in Vorbereitung befindlicher schärferer Polizeigesetze –, dann betrachten wir es geradezu als unsere Pflicht, gegen den verheerenden Konsens anzuschreiben.

pm

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik. Edition Critic 2020. 190 Seiten, ca. SFr 17.00. ISBN 978-3-946193-33-3

Eine Polemik Zero Covid

 

Die Liste menschlicher Albernheiten ist unendlich lang, und nun hat sich eine neue fixe Idee in vielen Hirnen eingenistet: es ist die Idee, man könnte Covid-19 ausrotten. Komplett und dauerhaft. Zero Covid.

Nun gibt es in der Geschichte der Medizin ein paar wenige Beispiele, wo man ein Virus tatsächlich ausrotten konnte, oder wenigstens fast – wobei fast eben immer noch unzureichend ist. Eine ziemlich vollständige Ausrottung gelang bisher, trotz jahrelanger Kampagnen und Programme auch bei anderen Seuchen, eigentlich nur bei Pocken. Und da lagen die globalen Verhältnisse noch anders: die neoliberale Wirtschaft hatte sich noch nicht global durchgesetzt, in vielen Weltregionen waren die Ungleichheitsverhältnisse daher weniger ausgeprägt – und wir haben gesehen, dass Armut zwar nicht Ursache des Coronavirus ist, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse aber seine Ausbreitung erleichtern und beschleunigen.

Zudem haben Pocken immer klare Symptome, während das Coronavirus in den allermeisten Fällen symptomfrei verläuft – weshalb die WHO auch davon ausgeht, dass es, Stand Anfang 2021, auch mindestens 750 Millionen Infektionen weltweit gab, etwa das Zehnfache der damals offiziell erfassten Fallzahl. Das macht es dem Virus viel einfacher, sich zwischendurch zu verstecken. Ausserdem hüpft das Coronavirus im Gegensatz zu Pocken – die allerdings auch locker 40 mal so tödlich waren wie Covid-19 – munter zwischen Mensch und Tier hin und her. Tiere mögen keine Impfgegner*innen zu sein – sie für Impfprogramme zu gewinnen, ist andererseits auch schwierig, und alle potentiell virentragenden Tiere weltweit zu „keulen“, wie es heisst, dürfte, zumal viele Nutztiere darunter sind, auch weder machbar noch durchsetzbar sein.

Warum das Coronavirus nicht mehr verschwinden wird, dass ist neben der ursächlichen Seite – es müsste der Raubbau an Mensch und Natur gestoppt werden – auch der Umstand, dass es nicht lohnt: das Coronavirus ist zu ungefährlich. „In dem Moment, in dem man verhindern kann, dass eine Corona-Welle hunderte Menschen pro Tag tötet und Krankenhäuser schliessen lässt, ist einfach kaum noch ein Anreiz da, eine Jahrzehnte dauernde Auslöschungskampagne zu starten“ (Fischer 2021). Auch wenn Initiativen wie ZeroCovid dies beharrlich ignorieren: für den Grossteil der Menschen ist das Virus eben nicht gefährlicher als eine Grippe, wenn auch die Infektiosität aufgrund noch nicht vorhandener Herdenimmunität zweifellos deutlich grösser ist.

Diese Fakten geben den Hintergrundrahmen ab für die neueste Tragödie, die sich deutsche Wohlstandslinke nun ersonnen haben. Ja, „links“ verorten sich die „ZeroCovid“-Verfasser*innen, im Gegensatz zum von mehreren Wissenschaftler*innen verfassten „NoCovid“-Aufruf, der einmal mehr gegen alle statistische Belastbarkeit betont, dass Covid-19 auch für junge Menschen gefährlich sei, und der sich schon damit selbst diskreditiert (kleine Erinnerung: von den rund 62.000 vom RKI Anfang Februar ausgewerteten deutschen Corona-Toten waren ganze 13 unter 19 Jahren alt).

Bereits die formulierten Grundaussagen von ZeroCovid sind vor allem eines – nämlich grundverkehrt. „Das erste Ziel ist, die Ansteckungen auf Null zu reduzieren“, schreibt ihr – und zeigt damit nur, dass ihr keine Ahnung vom Coronavirus habt. Mag sein, dass ihr in eurer Welt mal erlebt habt, dass das Wünschen geholfen hat – weltfremd bleibt euer Ziel dennoch. „Die Strategie, die Pandemie einzudämmen, ist gescheitert“, schreibt ihr. Oh, ihr Tagträumenden, reisst die Augen auf. Ziel war es von vornherein, die Pandemie so einzudämmen, dass das privatisierte Gesundheitssystem nicht zusammenbricht und die Wirtschaft der Industriestaaten nicht kollabiert. Das hat funktioniert – kollabieren tut die Ökonomie zwar anderswo, doch dies zu erkennen hindert euch eure eurozentristische Brille. Ihr wollt Europa retten, während der Rest der Welt vollends aus den Fugen gerät – und nennt das noch „Solidarität“.

Eine auf Covid-19 fokussierte Maxime, dass jede/r Tote eine/r zu viel sei, ist in der Pandemie ein monströser Wahn, ein irrsinniges Eigentor, das umso mehr Tote gebiert, je länger daran festgehalten wird. Das zeigt sich an den immensen Folgeschäden von Lockdowns. Solche Tatsachen könnt ihr beiseite wischen wie ihr das vermutlich auch mit der Stanford-Studie rund um John A. Ioannidis tut, die zeigte, dass ein Lockdown keinen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat. „Faktenchecks“ versuchen die Standford-Studie ja auch im Misskredit zu bringen, u.a. mit dem Hinweis, dass sie sich „vor allem bei Verharmlosern verbreitet“ und „gewählte Regierungen delegitimiert würden“ (BR, 21.1.2021). Das sind ja wirklich umwerfende Gründe.

„Wir wollen die politische Lähmung in Bezug auf Corona überwinden“, schreibt ihr. Ja, was war denn bitte schön gelähmt? Der Staat hat politisch agiert wie seit langem nicht, gelähmt wart doch ihr selbst. Sonst könntet ihr erkennen, dass die führenden Industriestaaten das Coronavirus für eine forcierte gigantische Umverteilung von unten nach oben genutzt haben (national wie global), markiert gerade auch in ihren „Hilfspaketen“. Ihr glaubt offenbar, die Regierung habe irgendwie versagt, doch das hat sie nicht, das Katastrophen-Management, dass das des grössten anzunehmenden Unfalls zur Leitlinie erklärt – und darüber u.a. eine Stimmung der Angst erzeugt, deren Effizienz sich gerade in euch erweist -, war alles in allem durchaus erfolgreich. Die Toten sind dazu kein Widerspruch, denn Tote waren - Vorsicht: Staatskritik! – noch nie ein grundsätzliches Problem für Staaten.

„Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat“, schreibt ihr – und habt doch genau diesen autoritären Staat mitgetragen, oder habt ihr gegen irgendeine der zahllosen autoritären Massnahmen in den letzten Monaten demonstriert? Ich habe nichts gehört. Im Übrigen überseht ihr, das Demokratie und autoritärer Staat kein grundsätzliches Gegensatzpaar sind – immerhin hat das „demokratische“, von Staaten ermöglichte und abgesicherte neoliberale Wirtschaftssystem erst zum verheerenden Zustand des Gesundheitssystems geführt, auf den nun das Coronavirus trifft.

Euer Demokratieverständnis ist offenbar bestenfalls sozialdemokratisch. „Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht“, das ist von Benjamin Franklin, der ist immer für markige Sprüche gut, und auch wenn ich hier nicht der Waffenlobby das Wort reden will, so lohnt doch der erste Teil des Zitates mal des Nachdenkens.

Auch der Rest eures Manifestes ist bestenfalls alte Sozialdemokratie: die Gewerkschaften werden erinnert, sich für die Beschäftigten einzusetzen, die bisherigen Privatisierungen im Gesundheitswesen sollen artig „zurückgenommen“ werden. Ihr wollt Sonderabgaben für hohe Einnahmen und Unternehmensgewinne. Dass Einkommensungleichheit und Gewinne der eigentliche Skandal sind, schreibt ihr nicht – offenbar glaubt ihr noch an die guten Reichen, die euch gerne etwas abgeben werden für die gute Sache, wenn sie nur daran erinnert werden. Ihr wollt die totale Kontaktbeschränkung, auch am Arbeitsplatz. Gut, gegen die Arbeit kann man sein, das „Recht auf Arbeit“ ist schliesslich im Grunde ein Recht auf Ausbeutung (siehe Paul Lafargue´s „Recht auf Faulheit“, aber soweit geht eure Arbeitsverweigerung dann auch wieder nicht.

Ihr fragt nicht nach dem Sinn eines komplett geschlossenen Kulturbetriebs bei minimalem Infektionsrisiko, ihr fragt nicht, wie das Sozial- und Gesundheitswesen „arbeitslos“ organisiert werden kann, ihr fragt nicht, ob manche Menschen vielleicht unter den gegebenen Bedingungen gar keine andere Wahl haben, als zu arbeiten. Wie, bitte schön, stellt ihr euch euren „solidarischen Lockdown“ vor? Oder wollt ihr doch heimlich den Kapitalismus abschaffen und eine weitgehende Vergesellschaftung? Zu lesen ist davon jedenfalls nichts. Auch die Idee eines Generalstreiks – die einzige Aktionsform, mit der zumindest die noch Beschäftigten tatsächlich eine gewisse Durchsetzungsmacht erreichen könnten – fehlt bei euch. Gut, der ist in Deutschland ja auch verboten, und Verbotenes wollt ihr doch nicht fordern.

Ihr wollt niemanden zurücklassen, doch welche Folgen hat euer „Stay at home“ beispielsweise für Frauen, die bei eurem Lockdown zuhause verprügelt werden, wenn nicht Schlimmeres? Welche „besondere Unterstützung“ habt ihr für sie vorgesehen? Kollektiver Hausarrest, das ist vielfach kein „trautes Heim“, nicht die skandinavische „hygge“-Idylle. Wollt ihr vor jeder Haustür Polizist*innen abstellen? Häusliche Gewalt ist schliesslich kein Privileg von klar definierbaren Bevölkerungsgruppen. Ihr fragt nicht, wie viele Menschen an unterschiedlichsten Krankheiten erkranken und deren Immunsystem geschwächt wird, eben weil ihnen eben die letzten Kontakte genommen werden (es leben ja nicht alle in euren plüschig-solidarischen WG´s).

Mal angesehen von den Hungertoten ausserhalb Europas: eine Studie aus der Schweiz kommt zum Ergebnis, dass durch die Lockdown-Politik in den Industriestaaten erheblich mehr Lebensjahre durch Suizide, Depressionen, Suchterkrankungen, Armut, häusliche Gewalt und die Folgen sozialer Isolation verloren gehen als gerettet werden (Moser et al. 2020).

Euer Lockdown würde höchstens in einer wirklich solidarischen Weltgesellschaft ohne massive Kollateralschäden funktionieren – vielleicht seht ihr die, ich nicht. Und bevor ihr nun auf die Idee kommt, ich wollte da zynisch etwas gegeneinander aufrechnen: selbstverständlich gehören Risikogruppen soweit irgend möglich geschützt. Das aber geschieht eben gerade nicht durch Lockdowns.

Schon der erste Lockdown hat nichts gebracht, nun ist euch der zweite, dritte, vierte… (ja, wer zählt die noch?) zu halbherzig, ja, ihr seid wirklich beratungsresistent. Wäre im Übrigen der gezielte Schutz von Menschenleben euer Anliegen, so bräuchtet ihr nicht euer Manifest zu schreiben, sondern könntet euch für optimale Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen für ältere Menschen einsetzen. Das wäre dann punktgenaue Hilfe, ja, sogar solidarisch. Aber ihr hinterfragt nicht, wie kontraproduktiv ein Lockdown ist, sondern ruft wie Suchtkranke nach mehr Stoff vom vermeintlichen Wundermittel.

Als positives Beispiel für ZeroCovid gilt euch wahrscheinlich Australien – aber fragt mal, wieviel Elend hinter den Wohnungstüren entsteht, wenn wegen eines einzigen Infektionsfalles ganze Millionenstädte sofort dicht gemacht werden. Schon mal was von häuslicher Gewalt gehört, oder gibt es das in euren akademischen Kreisen nicht? Klar ist es erstrebenswert, die Zahl von Neuinfektionen zu senken – aber um welchen Preis?

Mir scheint, eure eigene Angst hat beim Schreiben den Stift – oder die Finger an der Tastatur – geführt. Angst an sich ist nichts, dessen man sich schämen muss; schon gar nicht angesichts monatelanger regelrechter Angstkampagnen von Politik und Medien (man weiss inzwischen, dass es dazu von Frühjahr 2020 an ein regierungsamtliches Drehbuch namens „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“ gab). Aber man sollte doch zumindest ehrlich sich selbst und anderen gegenüber sein und die Angst auch offen kommunizieren. Was macht ihr, wenn die Menschen nicht freiwillig zuhause bleiben? Braucht es – ganz „solidarisch“, natürlich - mehr Polizei? Werden die Renitenten, Unbelehrbaren eingesperrt, wenn sie nicht den Abstand einhalten? Ist ja zu ihrem eigenen Besten…

In den letzten Monaten konnten wir mehr als genug sehen, wie gern ihr mit dem Staat kooperiert, an den ihr jetzt auch eure Forderungen richtet. Ihr wollt Impfstoffe zum Allgemeingut machen – warum eigentlich nur Impfstoffe? Glaubt ihr, das Impfen alleine wird euch erlösen? Ich glaube, ihr habt euch einfach schon noch früher ein Impfmittel und ein schnelleres Durchimpfen erhofft, damit ihr keine Angst mehr haben braucht. Und sonst so? Nicht einmal ein bedingungsloses Grundeinkommen oder wenigstens die Sozialisierung von Grund und Boden fordert ihr. Euer Aufruf drückt Besitzstandsdenken aus, ja, eigentlich soll im Grossen und Ganzen alles bleiben wie es ist. Damit seid ihr euch einig mit der Regierung.

Eine Linke, die ihren Namen verdiente, hätte ihre Unterstützung den Ärmsten, Prekärsten, Verletzlichsten zu erweisen. Ihr tut das Gegenteil davon. Arbeitslosigkeit – im Kapitalismus eine Lockdown-Folge – hat eine höhere Mortalität, Morbidität und Suizidrate zur Konsequenz (Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin 2020). Der Lockdown macht die Reichen reicher und die Armen ärmer - aber ihr gönnt den Armen immerhin ein Rettungspaket, da werden sie sich hoffentlich dankbar erweisen. Die Armen sind doppelt gestraft, weil sie von eurer fürsorglichen Umarmung „mitgenommen“ werden sollen. Und das alles erdreistet ihr euch auch noch, einen „radikalen Strategiewechsel“ zu nennen. Lest mal beim Duden nach: radikal, das heisst an die Wurzel gehen.

Ihr legitimiert mit eurem Apell den starken Staat, könnt deshalb die noch autoritärere Politik in Ländern wie China und Taiwan offen bewundern (nicht in eurem Aufruf, aber das gaben Unterzeichnende eures Appells in Interviews zu Wort). Das ist alles ebenso falsch wie öde. Ihr qualifiziert euch mit eurem Appell, mit Grünen oder Linken mitzuregieren. Das kann man machen, man kann es auch lassen. Aber verkauft das bitte schön nicht noch als irgendwie progressiv, gar radikal. Eine fast religiös anmutende Heilserwartung spricht aus euren Zeilen, die doch überaus weltfremd sind. Es tut mir leid: euer Weltbild ist paternalistisch und reaktionär, eure Vorstellungen sind autoritätshörig und staatstragend. Ihr macht Politikberatung und nennt das „links“.

Eure herausposaunte vermeintliche moralische Überlegenheit ist anmassend und widerlich. Ihr kennt offenbar in euren Wohlstandsquartieren nur eine einzige Gefährdung eures Daseins: das Coronavirus. Die Milliarden wirklich Elenden, an diversen behandelbaren Krankheiten Leidenden, Verdammten und an den Rand gedrängten Existenzen dieser Welt werden mit keinem Wort in eurem eurozentrischen Aufruf erwähnt, doch sie werden die Zeche der Lockdowns vielfach mit ihrem Leben bezahlen. Stattdessen applaudiert ihr dem nationalstaatlichen bzw. europäischen Konkurrenzdenken.

Aber hej, schon mal von einem Virus gehört, dass vor Staatsgrenzen kehrt macht? Aufgemerkt: Pandemien sind ein Katalysator für nationalistisches Denken. Ist es „links“, wenn der Nationalismus nun als „europäisch“ etikettiert wird? Manche von euch waren einst für offene Grenzen, weltweit wohlgemerkt, und einige von euch haben in der Vergangenheit, als sich das Virus der Angst noch nicht in den Köpfen eingenistet hatte, Nationalismus mit guten Gründen kritisiert, ihr könntet es also besser wissen. Anbiedern beim Staat und seinen Repressionsorganen, das können andere besser – wundert euch also bitte nicht, wenn rechte Bewegungen erhöhten Zulauf erhalten. Überlebt lieber mal, was das mit eurem Agieren der letzten Monate zu tun hat.

Ihr fordert noch mehr von der Medizin (also noch härtere Massnahmen), auf dass dieses Land bald genesen sei. Es steckt eben noch eine Menge Kolonialismus in euren Köpfen. Es ist „solidarisch“, europäische Menschenleben zu schützen, gegen die Menschenleben ausserhalb Europas? Wer von uns geht über Leichen? Dass die Schlinge des Kapitalismus sich nun durch das Virus beschleunigt zuzieht – das nehmt ihr in eurer Blase offenbar gar nicht wahr. Linkssein, das hatte mal etwas mit Kämpfen zu tun. Mehr noch: angesichts der Herausforderungen der Zukunft müssen sich die unterschiedlichen Kampffelder mehr miteinander verbinden. Euch aber fällt nichts Besseres ein, als die Gesellschaft dichtmachen zu wollen. Dabei nutzten die Herrschenden die Schockstarre der letzten Lockdowns bereits bestens.

Der Kampf um gesellschaftliche Veränderung aber, er erfordert die Wiederaneignung des offenen Raumes, er erfordert die Strasse – der Lockdown als freiwillige Selbst-Einschliessung verhindert diese Auseinandersetzungen. Sagte ich Kampf? Ja, Kampf – ein Wort, das bei euch fehlt. Ihr redet lieber von Strategie – an den Begriffen scheiden sich die Fronten. Solidarität, wenn sie nicht nur eine Worthülse sein soll, braucht unmittelbaren Austausch. Euer Lockdown verhindert dies. Menschen müssen sich kennen, sie müssen direkt miteinander kommunizieren, das ist Grundlagen jeder konkreten Solidarität, jeder gesellschaftlichen Veränderung. Ansonsten hat die Solidarität bloss denselben hohlen Appellcharakter, wie wenn die Regierenden den Gemeinschaftssinn ihres Staatsvolkes ausrufen.

Mit eurem Traktat habt ihr euch allen gegenüber, denen es wirklich um eine umfassende Aufklärung und Emanzipation geht, klar auf der anderen Seite positioniert. Euer Aufruf ist bestenfalls überflüssig. Wahrscheinlich ist es noch schlimmer, denn ihr tragt mit dazu bei, dass das Gelegenheitsfenster für linke Politik ungenutzt bleibt, ja, dass sich die Linke selbst aufhebt.

Das ist enttäuschend, weil etliche von euch es besser wissen sollten, viele von euch haben schliesslich mal kluge, kritische und anregende Texte geschrieben. Und es ist schmerzhaft, da sich hier Wege trennen und ich einige von euch – oder zumindest ihre Publikationen – bisher sehr geschätzt habe. Aber Ent-Täuschungen sind ja auch immer Phasen der Klärung, und so trägt die Pandemie nun zu Trennungen, aber auch zu Neusortierungen bei, das ist besser, als weiter Täuschungen mit sich herumzuschleppen. Um mal mit einem markigen Zitat zu enden: „Mir ist die gefährliche Freiheit lieber als eine ruhige Knechtschaft“ (Jean-Jacques Rousseau).

 

Gerald Grüneklee

Literatur

Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (2020): Stellungnahme 8.9.2020; Berlin

Fischer, Lars (2021): zit. nach https://scilogs.spektrum.de/fischblog/warum-covid-19-nie-wieder-verschwinden-wird/

Grüneklee, Gerald (2021): Corona – Gegenwart und Zukunft unter dem Virus; Wetzlar (in Vorbereitung)

Moser, Dominik Andreas et. al (2020): zit. nach https://www.researchgate.net/publication/340844921_Years_of_life_lost_due_to_the_psychosocial_consequences_of_COVID19_mitigation_strategies_based_o

Corona und linke Kritik(un)fähigkeit Corona-Profiteure sind weltweit im Aufwind

 

Mit jeder Krise nehmen Spaltungen zu – zwischen oben und unten und zwischen Nord und Süd, zwischen denen, die profitieren, und denen, die das oft ohnehin schon zu Wenige verlieren.

Corona und die Eindämmungsmassnahmen treffen nicht alle gleich. Profiteure sind globale Konzerne, allen voran die Pharma- und Digitalwirtschaft, einschliesslich des Onlinehandels. Auch die Umsätze der Rüstungsindustrie stiegen im Coronajahr 2020 kräftig an. BMW und andere machten dank Kurzarbeitergeld Millionengewinne, die sie als Dividenden auszahlten. So werden die Reichen immer reicher, und die öffentliche Hand verschuldet sich.

Die Umverteilung von unten nach oben und von öffentlich zu privat ist nicht neu. Konzerne wie Microsoft führen Gewinne steuersparend an gemeinnützige Stiftungen ab, beispielsweise an die Bill & Melinda Gates Stiftung. Diese legt ihre Stiftungsmittel zum Beispiel in Pharmakonzernen an und finanziert aus den Dividenden Impfprogramme – bevorzugt in Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP), also gemeinsam mit der öffentlichen Hand und mit öffentlichen Geldern.

Wenn die Impfstoffe von den Unternehmen eingekauft werden, an denen die Stiftung Anteile hält, fliessen weitere Dividenden ins Stiftungsvermögen, für weitere wohltätige Zwecke, und so wächst und wächst das Vermögen. Die Gates-Stiftung ist der grösste private Finanzier der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Durch ihre finanzielle Macht nehmen solche Stiftungen nicht nur direkt Einfluss darauf, um welche Probleme sich gekümmert werden soll – und um welche nicht – sondern lenken auch die Verwendung öffentlicher Mittel in Partnerschaftsprojekte.

Pandemie-Szenario „Event 201“ für Privatisierungen

Im Oktober 2019 wurde im „Center for Health Security“ (CHS) der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität ein Szenario für eine weltweite Grippe-Pandemie unter dem Namen „Event 201“ erstellt. Gründer und Finanziers des CHS sind neben der WHO eine Reihe privater Stiftungen. Das Szenario einer Corona-Epidemie mit weltweit 65 Millionen Toten wurde in Kooperation mit der Bill & Melinda Gates Stiftung und der Schweizer Stiftung Weltwirtschaftsforum durchgeführt. Es sollte offensichtlich dazu dienen, Privatisierungen und neoliberale Umstrukturierungen des globalen Gesundheitswesens mit dem Anstrich von Wissenschaftlichkeit voranzutreiben.

Die Empfehlungen zielten auf eine schon vorsorglich verstärkte Zusammenarbeit von Regierungen und privaten Unternehmen in ÖPPen zur Erforschung von Impfstoffen und zur Bekämpfung von Falschinformationen. Medienunternehmen sollten im Falle einer Pandemie schnell mit den gewünschten Botschaften und Informationen überflutet und Falschmeldungen auch technisch unterdrückt werden [1].

Ein „unsichtbares Netz von Abhängigkeiten und Dominanz“

Auf der Fachtagung „Win-win oder Win-lose?“ der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit im November 2019 in Berlin wurde Kritik an solchen ÖPPen formuliert. Anna Holzscheiter, Professorin an der TU Dresden und Leiterin einer Forschungsgruppe für globale Gesundheit am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), betonte in ihrem Einführungsvortrag: „Ich denke, wir sind uns alle einig darüber, dass gerade in der globalen Gesundheitspolitik die Verflechtungen zwischen den grossen privaten Stiftungen Gates, Wellcome Trust, Open Society Foundation und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, den Medien und der Wissenschaft so dicht geworden sind, dass man von einem unsichtbaren Netz von Abhängigkeiten und Dominanz sprechen kann.“

Die Privaten würden nicht nur finanzieren, sondern auch Themen und Begriffe setzen. Ganz selbstverständlich ginge es dann um Ökonomisierung und „Effizienz“, Gesundheitsfragen würden entpolitisiert. Als „Not-for-profit-Akteure“, die angeblich nicht auf Gewinnerwirtschaftung ausgerichtet seien, würden sie ihre vermeintlich alternativlosen marktbasierten Lösungen durchsetzen – ohne demokratische Legitimation [2].

Die Vereinten Nationen im Zangengriff der Konzerne

Im Sommer 2019 hatten die Vereinten Nationen (UN) mit dem Weltwirtschaftsforum ein strategisches Partnerschaftsabkommen zur Umsetzung der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung abgeschlossen. Namhafte NGOs wie das Transnational Institute, FIAN und Friends of the Earth reagierten alarmiert und forderten die UN auf, das Abkommen zu kündigen, um sich nicht dauerhaft mit Konzernen zu verbinden, die selbst Verursacher der sozialen und ökologischen Krisen seien. Ziel des Weltwirtschaftsforums sei es, die Rolle der Staaten zu schwächen und den politisch gesteuerten Multilateralismus in ein Multistakeholder-System umzuwandeln, in dem private Unternehmen an globalen Entscheidungen beteiligt werden. Mehr als 400 Organisationen unterzeichneten den Offenen Brief [3].

Angesichts der Corona-Krise wurde die Aufforderung zur sofortigen Beendigung der Partnerschaft im Frühjahr 2021 erneuert. Es sei typisch für diese Zusammenarbeit, dass die reichsten Länder sich durch exklusive Verträge mit privaten Pharma-Unternehmen Impfstoffe gesichert hätten, während die Verteilung der Impfstoffe an die Ärmsten an die neue Multistakeholder-Gruppe COVAX ausgelagert wurde, die zwischen Impfstoffherstellern, der Gates-Stiftung und den Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung vermitteln solle. Statt sich weiter an die globalen Konzerne auszuliefern, müssten die Staaten ihre Regierungsführung partizipativ im öffentlichen Interesse gestalten [4].

Für einen besseren Kapitalismus: Great Reset und Social Business

Auch Wirtschaftsmächtige sehen angesichts der multiplen Krisen, dass es so nicht weitergehen kann. Unter der Bezeichnung „The Great Reset“ propagiert das Weltwirtschaftsforum einen Neustart von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Pandemie, mit dem wie auf Knopfdruck alles gut werden soll. Unternehmen sollen nicht mehr ihren Aktionären dienen, sondern allen Beteiligten nützen, der Kapitalismus soll grün und sozial werden. 2020 hat das Weltwirtschaftsforum Annalena Baerbock in sein Führungskräfteprogramm „Young Global Leaders“ aufgenommen, in dem es seit 1992 – damals unter dem Namen „Global Leaders for Tomorrow“ – vielversprechende Persönlichkeiten im Interesse öffentlich-privater Partnerschaften vernetzen und darin unterstützen möchte, die Welt zu verbessern. Auch Angela Merkel hat in den 1990er Jahren das Programm durchlaufen, 2016 wurde Gesundheitsminister Jens Spahn aufgenommen.

Auch die Social-Business-Bewegung möchte die Welt verbessern. Der Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, hat schon 1998 gemeinsam mit seiner Frau Hilde die „Schwab Foundation for Social Entrepreneurship“ als Schwesterorganisation des Weltwirtschaftsforums gegründet. Sie möchte „Soziale Innovationen“ beschleunigen, indem sie führende Sozialunternehmer:innen unterstützt und vernetzt, die soziale Probleme mit unternehmerischen Mitteln lösen möchten. Mit solchen Geschäftsmodellen werden jedoch bestenfalls Symptome gelindert, wenn marktgerechte Ansätzen auf die Probleme ausgewählter Zielgruppen ausgerichtet sind – von oben nach unten und ohne demokratische Legitimation.

Finanzinvestor Blackrock, ein „Konzern, dem die Welt gehört“

Mit dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus sind neue Akteure ins Spiel gekommen. Fondsgesellschaften sammeln unvorstellbare Geldmengen ein und beteiligen sich damit an Banken und Unternehmen, und auch gegenseitig aneinander, wie der Kölner Publizist Werner Rügemer detailreich beschrieben hat [5]. Der grösste von ihnen, Blackrock, ist an nahezu allen wichtigen Unternehmen beteiligt, war beispielsweise auch beteiligt an Wirecard und dessen grösstem Kreditgeber Goldman Sachs sowie an der Ratingagentur Moody‘s, auf deren Analyse hin die Kreditwürdigkeit von Wirecard festgestellt wurde.

Blackrock berät die Zentralbank FED in den USA und die Europäische Zentralbank EZB, welche die 750 Milliarden Euro Corona-Wirtschaftshilfen aus dem Wiederaufbauprogramm der Europäischen Union ausreicht. Der Finanzinvestor ist Aktionär in Öl- und Kohlekonzernen, in Rüstungsunternehmen und im Agrobusiness und berät gleichzeitig die Europäische Kommission in Nachhaltigkeitsfragen [6]. Mit nachhaltigen Geldanlagen möchte Blackrock nach der Pandemie ökologische und soziale Probleme lösen.

Unter dem Titel „Der Konzern, dem die Welt gehört“ haben Journalist:innen der europäischen Mediengenossenschaft Investigate Europe umfangreiche Recherchen zum Finanzinvestor Blackrock zusammengetragen. Dieser habe „eine grössere Wirtschaftsmacht als nahezu aller Staaten der Welt“[7]. Im September 2020 fand in Berlin ein Blackrock-Tribunal statt, initiiert von dem kurz darauf verstorbenen Politikpofessor Peter Grottian und Werner Rügemer. Nach der Beweisaufnahme verlangte das Urteil des Tribunals die Auflösung des Unternehmens und die Offenlegung aller Geschäftsunterlagen. Volkswirtschaftlich nützlichen Teile sollten in öffentliche Hand überführt und demokratisiert werden. Eine Fortsetzung ist geplant [8].

Daten als profitabler Rohstoff

Die ohnehin schon alltagsbestimmende Digitalisierung hat mit Corona einen weiteren Schub und eine scheinbar alternativlose Akzeptanz erfahren. Der Onlinehandel boomt, mit Verweis auf den Infektionsschutz soll mit Karten statt Bargeld bezahlt werden, Eintrittskarten für Kultur oder Schwimmbäder sind zunehmend nur online zu erwerben. Statt Präsenzunterricht oder persönlicher Treffen wird die Kommunikation in Videokonferenzen distanziert und körperlos, auf Worte reduziert. Keine Pausengespräche und kein persönlicher Augenkontakt mehr, der doch auch ohne Worte so viel sagen kann.

Jede digitale Handlung legt Spuren, die in grossen Mengen (Big Data) gesammelt das ermöglichen, was die Digitalindustrie euphemistisch als „künstliche Intelligenz“ bezeichnet. Auch wenn es nur Geräte sind, die mit Algorithmen mechanisch Schlussfolgerungen ziehen, so stellen doch die Daten einen profitabel verwertbaren Rohstoff dar. Um riesige Datenmengen verarbeiten zu können, wird der neue Mobilfunkstandard 5G flächendeckend ausgebaut, obwohl Gesundheitsrisiken nicht ausgeschlossen werden können, wie die NGO Diagnose Funk immer wieder betont [9]. Und wer fragt schon nach Datenschutz, wenn es dem Schutz vor Corona dient?

Massenhafte Corona-Tests produzieren massenhaft Daten. Die Gruppe Zerforschung fand mehrfach Datenlecks und konnte Zigtausende Testdaten auslesen [10]. Auch die Luca-App weist Sicherheitslücken auf, der Chaos Computer Club kritisierte: „Zweifelhaftes Geschäftsmodell, mangelhafte Software, Unregelmässigkeiten bei der Auftragsvergabe“ [11].

Seit dem Jahr 2000 verleiht Digitalcourage (damals noch FoeBud) den Schmähpreis BigBrotherAward. Ein Preisträger 2021 ist die Proctorio GmbH für den „vollautomatischen Prüfungsaufsichtsservice“, der mithilfe der Überwachung der Blicke von Studierenden bei Online-Prüfungen Täuschungsmanöver erkennen soll. Die Doctolib GmbH wurde für die Vermittlung von Arztterminen über ihre Plattform ausgezeichnet, weil sie die Daten unter Missachtung der Vertraulichkeitsverpflichtung verarbeitet und für kommerzielle Marketingzwecke nutzt.

Einen Preis erhielt auch der Philosoph und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Julian Nida-Rümelin, für seine öffentlich mehrfach geäusserte Behauptung, dass Datenschutz die Bekämpfung von Corona erschwert und Tausende von Toten zu verantworten habe. Demgegenüber betont Laudator padeluun (Pseudonym eines Künstlers und Netzaktivisten): „Datenschutz tötet nicht. Datenschutz ist die dünne Membran, die uns alle vor der Barbarei staatlicher und kommerzieller Übergriffigkeiten schützt“ [12]. Der aktuelle Skandal um die Spionagesoftware Pegasus bestätigt dies.

Weltzerstörung oder „System Change“

Mit Corona hat die Geld- und Machtkonzentration sich verschärft. Biotechnologische und digitale „Lösungen“ für die emotional hoch aufgeladene Bedrohung sind nahezu unhinterfragbar geworden und bekommen damit – ebenso wie ihre industriellen Anbieter – eine Akzeptanz, die profitable Geschäfte auch für absehbare zukünftige Krisen verspricht. Das kann gar nicht genug angeprangert werden. 1973 erschien von Bernt Engelmann und Günter Wallraff das Buch „Ihr da oben – wir da unten“, die Verhältnisse schienen klar.

Heute wird denjenigen, die Eliten kritisieren, oft viel zu schnell vorgeworfen, Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Dabei ist doch dieses Gefühl, dass „die da oben“ ihre eigenen Interessen verfolgen und sich bereichern, zutreffend und legitim, auch wenn es nicht mit Sachkenntnis und gewählten Worten formuliert wird. Statt ideologischer Grabenkämpfe wären soziale Kämpfe um reale Macht angesagt, und das solidarische Teilen von Bildungs- und Wissensprivilegien, statt sie als Waffen gegen Aufbegehrende einzusetzen, und diese damit möglicherweise sogar den Rechten in die Arme zu treiben, die auch als Profiteure der Corona-Krise gelten können.

Corona hat gezeigt, wie verletzlich das ist, was hierzulande bislang als alltägliche Normalität galt – dass existenzielle Bedrohungen anderenorts längst zum Alltag gehören, verweist auf die Ignoranz der Nutzniessenden einer „imperialen Lebensweise“ [13]. Hinter Corona schien die Klimakatastrophe zu verschwinden, bis sie mit den katastrophalen Unwettern im Juli 2021 auch in Deutschland unübersehbar wurde. Plötzlich trifft auch dies Bedrohliche nicht „die Anderen“, sondern es rückt näher, und all dies ist vermutlich erst ein Anfang.

Die in strukturellen Wachstumszwängen gefangenen und oft genug auch aus persönlichen Bereicherungswünschen handelnden Machthabenden werden die Bedrohungen durch absehbar kommende Krisen verschärfen, statt deren Ursachen endlich zu stoppen. Unabhängig davon, ob Corona von Tieren übertragen oder in einem Labor gezüchtet wurde, ist das Virus ebenso wenig eine Naturkatastrophe wie der Klimawandel. Beides entspringt einem System, das mit patriarchalem Machbarkeitseifer für Wachstum und Profite Menschen ausbeutet und Natur zerstört.

Dieses System scheint an sein Ende zu kommen, jedenfalls wenn es noch eine lebenswerte Zukunft geben soll. Wann, wenn nicht jetzt, wäre also der Moment aufzustehen, das Bestehende grundsätzlich in Frage zu stellen, nicht nur „die Welt ein bisschen besser zu machen“, sondern mit aller Kraft zu versuchen, diese Welt ganz anders zu machen im Sinne des vielbeschworenen „System Change“?

Elisabeth Voss

Eine gefährliche Rücksichtslosigkeit als Folge des bürgerlichen Materialismus Mit Corona-Politik auf dem Weg in den „Obrigkeitsstaat“?

 

Immer wieder ist die Rede davon, die staatlichen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie seien „obrigkeitsstaatlich“.

AfD- und FDP-Politiker sagen das gern. Und auch manche Linksliberale und Linke sprechen vom „autoritären Staat“.

Björn Höcke hat am 21.11. auf einem Parteitag der Thüringer AfD in Pfiffelbach (!) seinen Kameraden aufgetischt, die Präventionsmassnahmen seien „Teil einer Kampagne gegen die AfD. Denn so, sagt er, werde die Mobilisierung erschwert“ (Spiegel 2020). Dabei zeigt das Handeln der Polizei bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik das glatte Gegenteil von Obrigkeitsstaat. So viel Nachgiebigkeit und so viel Toleranz gegenüber tausendfachen Überschreitungen von Vorgaben (hier: Maske tragen, Abstand halten) hat die Öffentlichkeit selten gesehen.

Unter den Anti-Corona-Politik-Demonstranten sind viele, die Corona für eine schwache Version der Grippe halten und die Angst vor Corona für gefährlicher als Corona selbst ansehen. Wer keine objektive Bedrohung annimmt, muss den Grund für die Corona-Politik jenseits von ihr verorten. Dann liegen Vorstellungen von einem „geheimen“ Plan nahe, unter dem „Vorwand“ der Corona-Pandemie eine „Diktatur“ zu errichten.

Kommen wir zu den legitimen Gründen für die staatlichen Auflagen: Erstens existieren Ursachen für Ansteckungsgefahren, die die Einzelnen nicht vermeiden können. In modernen Gesellschaften treffen viele Menschen zusammen. Ohne Staat müssten sich die Einzelpersonen untereinander verabreden. Ein solches Vorgehen dürfte in grösseren Orten recht aufwendig und zeitintensiv sein. Insoweit die hohe Anzahl von Individuen die Chancen ihrer selbstorganisierte Kooperation verringert, wird staatspolitisches Handeln nötig.

Der Staat „muss jene Verdünnung des Vertrauens ausgleichen, die dadurch entsteht, dass sich die Menschen in grossen Gruppen nicht mehr unmittelbar beobachten und korrigieren können und dass sie nicht mehr so ganz voneinander abhängig sind“ (Esser 2000, 160). Der Staat handelt, wenn er denn so handelt, als exogener Förderer der Kooperation. „Gerade in der regelmässigen Ausführung von Verhaltensweisen, die ohne eine gezielte Einflussnahme auf den Handelnden nicht oder jdf. nicht häufig genug ‚von selbst’ seinen Absichten entsprechen, ist mithin ein entscheidender Aspekt der sozialen Ordnung lokalisiert.

Eine Hauptsäule dieser Ordnung bilden soziale Handlungen, die nicht allein durch natürliche oder ‚spontan’ entstehende, sondern nur durch ‚künstliche’ Verhaltensdeterminanten herbeigeführt werden können“ (Baurmann 1998, 254f.). In einer nachkapitalistischen Gesellschaft fallen zwar günstigenfalls gesellschaftsstrukturelle Ursachen für „Ausbeutung“ weg. Die Versuchung, eigene partikulare Interessen ohne Rücksicht auf andere zu verfolgen oder sich an Trittbrettfahrerverhalten zu orientieren, wird allerdings nicht automatisch verschwinden. Antiautoritäre Linke haben in manchem zu Recht den Staat kritisiert, dieses Moment seiner Legitimität aber meist nicht berücksichtigt.

Zweitens haben die Individuen innerhalb der Marktwirtschaft wohl oder übel ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Der Vertrag bildet die Normalform der Geschäftsbeziehungen. Inhaltlich sind die Interessen der Vertrags„partner“ oft voneinander verschieden oder einander entgegengesetzt. Im marktwirtschaftlichen Warentausch verfolgen die Teilnehmer ihren Eigennutz, ihren Sondervorteil oder ihr Privatinteresse. Zugleich müssen sich die Teilnehmer an Waren-, Konsum- und Arbeitsmärkten an die rechtlichen Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung halten. Diese überwinden allerdings nicht die Ursachen, die aus Kooperation eine antagonistische Kooperation machen.

Die Privateigentümer „sind niemandem etwas schuldig, sie erwarten sozusagen von niemandem etwas; sie gewöhnen sich daran, stets von den anderen gesondert zu bleiben, sie bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen“ (Alexis de Tocqueville 1987, 149). Vorzufinden ist sowohl das Instrumentalisieren anderer für eigene Vorteile als auch die „mir sind die anderen praktisch egal“-Variante. Sie muss sich gar nicht offensiv artikulieren. Die Maxime „Rücksicht nehmen ist mir zu anstrengend“ reicht schon.

Ein Beispiel aus der Berliner Grundschule: Die Bezugserzieherin einer Klasse hat Corona. Die Klasse wird für 2 Wochen in Quarantäne geschickt. Zum Teil haben die Schüler Geschwister, die auf die gleiche Schule gehen. Das Gesundheitsamt ermöglichte die Gelegenheit, sich kostenlos testen zu lassen. Nur wenige Eltern schickten ihre Kinder dahin. Das Geschwister des nun vorsichtshalber in Quarantäne geschickten Schülers besucht weiter die Schule.

Ich spreche hier nicht von einer Schule in einem Berliner Problemkiez. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Es zeigt das gegenwärtige Unvermögen oder den Unwillen staatlicher Stellen zum Handeln gegenüber Bürgern, deren bürgerlicher Materialismus sich ausgewachsen hat zur für andere gefährlichen Rücksichtslosigkeit. Nicht nur Lehrer und Erzieher beschweren sich deshalb über diese zu lasche Politik. Auch ein Krankenpfleger schildert plastisch deren gefährliche Konsequenzen.

Markus Söder hat ausnahmsweise Recht, wenn er sagt: Die Corona-Vorsorge-Regeln einhalten ist kein Akt der Loyalität oder des Gehorsams gegenüber dem Staat, sondern ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen. Ein Einwand gegen diese These ist beliebt: Zugestanden wird, es sei sinnvoll, in einem Supermarkt eine Maske zu tragen und Abstand zu halten. Dann kommt aber das schon gar nicht mehr so grosse „Aber“: „Wenn ich aber keine Notwendigkeit sehe, in 3/4 leere Museen oder in 2/3 leere Theater nicht hineinzudürfen, oder in 3/4 leeren Einkaufsstrassen eine Maske zu tragen, dann ist das blosser Gehorsam.“

Gehen wir die verschiedenen Annahmen, die in diesem Satz stecken, der Reihe nach durch: Es fällt auf, wie viele gegenwärtig zu Freunden des Museums und des Theaters werden, die faktisch selten dort zu sehen sind. Diejenigen, die jetzt ihr Herz für diese Institutionen entdecken, sehen es auf ihre Freiheit ab und sehen von etwas Relevantem ab: Es geht nicht allein um die Orte selbst, sondern um die Fahrten dahin. Es geht um Menschenansammlungen. Keineswegs handelt es sich um Willkür, wenn die staatliche Politik Kriterien anlegt: Was braucht die Nation? Eine Ökonomie mit Arbeitskräften, sodann u. a. Schulen, die den Eltern den Rücken frei halten und ein Gesundheitswesen, das einerseits nicht zu viel kostet und andererseits jetzt nicht durch Corona-Patienten lahmgelegt werden soll. Man muss diese Rangfolge der Wertigkeiten nicht gut finden. Wer sie kritisiert, sagt aber nicht: Die Massnahmen sind willkürlich oder gehen in Richtung autoritärer Staat. Tatsächlich geht der Staat so vor, dass er diejenigen Risikoherde einschränkt, die sich reduzieren lassen, ohne die Geschäftsgrundlagen zu gefährden, auf die es in einer kapitalistischen Marktwirtschaft ankommt.

Nun zu dem Argument der „leeren Einkaufsstrasse“, auf der aus lauter „Willkür“ verlangt werde, die Maske zu tragen: Bislang handelt es sich z. B. in Berlin um wenige Strassen. Und die sind am Tag rappelvoll. Wie verhält es sich auf anderen „leeren“ Strassen? Nehmen wir mal einen Asthmapatient. Also einen unter bloss vier Millionen in Deutschland. Er wird häufig auf Gehwegen ausweichen, weil ebenso freiheitsliebende wie unbekümmerte Mitbürger zu zweit oder dritt nebeneinander flanieren und den Gehweg blockieren – und keine Maske tragen.

Als wenig durchdacht erweist sich die Idee, es sei „willkürlich“, dass ich mich auch dann an Regeln halten soll, wenn ihre Übertretung pragmatisch niemandem schade. Dieses Argument stellt das Einhalten von gesellschaftlich geltenden Regelungen ins Belieben der Individuen: „Vor der roten Ampel halten – warum denn? Ich habe niemand gesehen, der sich der Kreuzung nähert.“

Der Einfall, Regeln seien eigentlich unnötig und die Entscheidungsbefugnis lasse sich an den Einzelnen übertragen, hat eine hohe Meinung von dessen Kompetenz, im Einzelfall die Situation angemessen einzuschätzen. Er muss sehen können, ob sich jemand der Kreuzung nähert. Und natürlich werden sich solche Freigeister und Eigensinnigen gegenseitig auf einander berufen. Wenn der eine im Einzelfall riskant handeln dürfe, könne das dem anderen nicht verwehrt werden. Zu viel Sicherheit schade der Freiheit – das meinten Anhänger der Marktwirtschaft schon immer. Peter Sloterdijk sieht angesichts der Corona-Seuche die „Machtergreifung der Securitokratie’“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.4.2020, S. 33).

Warum feiern die Anti-Coronapolitik-Demonstranten nicht die Falschfahrer auf Autobahnen? Diese vermehren die Extremsportarten um eine weitere Variante und praktizieren ihre Selbständigkeit und Autonomie. No risk, no fun! „Nur Konformisten und Untertanen halten sich an den Rechtsverkehr“ könnte eine neue Parole sein. Auf der Rückseite der Autos von entsprechenden Kandidaten lesen wir schon heute den Spruch „Kein Airbag: Wir sterben wie Männer!“

Angesichts einer Seuche darauf zu beharren, dass man sich aber auch nicht der kleinsten Einschränkung unterwerfen möchte, passt zu einer Kritik am „Obrigkeitsstaat“, die vom anarcholiberalen Standpunkt ausgeht (vgl. Creydt 2020). Viele US-Amerikaner sind gegen alles, was aus Washington kommt, gegen Steuern, gegen Einschränkungen des Rechts, ihre Waffen zu tragen usw. Sie meinen, den autoritären Staat zu bekämpfen und bekämpfen stattdessen gesellschaftliche Kooperation und Rücksicht auf gesundheitlich weniger robuste Mitmenschen. Etwas wie positive Gesellschaftlichkeit existiert für solch entfesselte Bürger nicht, sondern nur Individuen und Familien. (So lautete schon die Maxime von Margaret Thatcher.) Bereits das Tragen einer Maske in Seuchenzeiten gilt Freiheitsfanatikern als Symbol von Unfreiheit.

Hauptsache, die „Freiheit“ von denjenigen, die Covid für harmlos und sich selbst für unverwundbar halten, werde nicht eingeschränkt. Die Ansprüche anderer Menschen, die das nicht tun, auf Gesundheit sind solchen Egozentrikern gleichgültig. „Menschen müssen für sich selbst sorgen. Wenn jemand Angst hat, soll er eben zu Hause bleiben“ (Wolfgang Kubicki (FDP) in der Sendung „Anne Will“ vom 10.5.2020). Nicht einmal im Jahr 2020 wird es als Problem angesehen, Rettungsdienste und Krankenhäuser an Silvester mit Feuerwerks-Unfällen zu belasten. In Ländern wie Frankreich, Dänemark und Griechenland gibt es keinen privaten Kauf und Gebrauch von Feuerwerk. Handelt es sich deshalb um „Tugenddiktaturen“ oder „Obrigkeitsstaaten“?

Bei manchen Kommentatoren und Parlamentariern steht die Manöverkritik am Verfahren an erster Stelle ihrer Aufmerksamkeit, nicht die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Wo alle politischen Parteien ausser AfD und FDP im Prinzip einig sind über die Massnahmen, ist es nachrangig, ob der Bundestag erst tagt und dann das beschlossen wird, was die grosse Mehrheit für notwendig erachtet, oder umgekehrt. Eine „Kungelrunde“ (Alice Weidel, AfD) ist die Konferenz der gewählten Regierungschefs der Bundesländer keineswegs.

Wer der Coronapolitik unabhängig von ihrem Inhalt etwas am Zeug flicken will, kann immer Einwände erheben: Entweder werden die Bundesländer zu wenig berücksichtigt oder der Bundestag. Er hat sich seit März mit der Corona-Seuche siebzig Mal befasst (Das Parlament, Nr. 45, 2.11.2020, S. 2).

Selbstverständlich kann das Parlament eine Verordnungsermächtigung, die schnelles Handeln im Notfall erlaubt, jederzeit widerrufen. Ein Freifahrtschein für die Exekutive ist nicht erteilt worden. Gewiss können sich die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bzw. Bereiche darum streiten, wer beim Ziel, die Kontakte massiv zu reduzieren, das Nachsehen hat. Die Vorstellung, es liessen sich die „Risikogruppen“ schützen, und die anderen brauchten sich nicht einzuschränken, ist unrealistisch. Wer es auf solche „Patentrezepte“ absieht, sieht beflissen davon ab, wie viel Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt sind und wie viel Prozent relevante Vorerkrankungen aufweisen.

Ein so grosser Teil der Bevölkerung lässt sich nicht vor dem Kontakt mit Jüngeren und gesünderen abschirmen. Die These, die gegenwärtige Coronapolitik bewege sich in Richtung „Obrigkeitsstaat“, ist eng mit der Suggestion verknüpft, eine Wahl zwischen substanziell verschiedenen Strategien zur Corona-Eindämmung sei möglich. Wer diese Annahme teilt, kann nicht erklären, warum alle Staaten lock-down-Strategien folgen. Die meisten fallen viel strikter aus als in Deutschland. Der „schwedische Weg“ hat sich nicht als erfolgversprechend herausgestellt.

Vieles Räsonieren von „Linken“ über die ggw. Coronapolitik, deren Vertreter schon selbst ihre Vorbehalte gegen Einschränkungen betonen, resultiert aus einem Mangel: Es handelt sich um Leute, die keine eigene Agenda haben, was für sie wichtig ist und was nicht, was unterstützenswerte Tendenzen und Kräfte in Richtung nachkapitalistische Gesellschaft sind und was nicht. Bei diesem Mangel an Zentrierung herrscht eine Entropie der vielen Themen. Entsprechend reaktiv und pseudokonkret auf das jeweils einzelne Thema fixiert ist dann die Herangehensweise.

Die Fähigkeit, Phänomene urteilskräftig auf eine Totalität zu beziehen, ist vielen verloren gegangen. Sie können weder die Corona-Epidemie noch die staatliche Politik begreifen und stöpseln mit unverstandenen einzelnen Versatzstücken herum. Das Phänomen der „Abstraktionen der Hilflosigkeit“ ist auch aus der Psychotherapie bekannt: „Der Klient ist sehr beschäftigt und konstruktiv tätig, indem er seine Gefühlsinhalte auf verschiedene Weisen anordnet und gleichsam in Muster legt, ohne dass es klar ist, um was es für ihn eigentlich dabei geht und wie er das empfindet, was da von ihm hin und wieder arrangiert wird“ (Dahlhoff, Bommert 1978, 70f.).

Wer nicht von einer eigenen durchdachten Diagnose der Gegenwart und einem eigenem Paradigma des guten Lebens (vgl. dazu Creydt 2017, 2019) ausgeht, verbleibt zudem häufig in einem formellen Willen zur Kritik und folgt dem Motto: Ich bin kritisch, also muss ich irgendetwas finden, was ich an jedem einzelnen Phänomen in Staat und Gesellschaft auszusetzen habe. Diese zwar felsenfest auftretende, aber in ihrer inhaltlichen Substanz wackelige „Kritik“ hat in Bezug auf den Staat eine dogmatische Prämisse: Der Staat dieser Gesellschaft kann und darf nichts richtig machen.

Eine gesellschaftskritische Analyse von Staat und Gesellschaft kann demgegenüber bspw. unterscheiden: Die Zwecke und Folgen des rot-grünen Umbau des Sozialstaats (Hartz-Reform) verdienen Kritik. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass die Weigerung der gleichen Regierung, sich aktiv am Krieg gegen den Irak zu beteiligen, falsch war.

Viele Beanstandungen der Coronapolitik zeigen: Um die wirkliche Bekämpfung einer Pandemie geht es weit weniger als darum, dass der jeweilige Kritiker seinem Anspruch nachkommt, etwas zu Kritisierendes zu (er)finden. Das jeweilige Thema wird zum blossen Anlass dafür, einmal wieder die eigene „Kritikfähigkeit“ inszeniert zu haben.

Meinhard Creydt

Literatur:

Baurmann, Michael 1998: Universalisierung und Partikularisierung der Moral. In: Hans-Joachim Giegel (Hg.): Konflikte in modernen Gesellschaften. Frankfurt/Main, S. 245-287
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Creydt, Meinhard 2019: Was kommt nach dem Kapitalismus? Berlin, hg. von Helle Panke/RLS Berlin (Broschüre, 54 Seiten)
Creydt, Meinhard 2020: Die Mentalitäten von Corona-Skeptikern. http://www.meinhard-creydt.de/archives/994
Dahlhoff, Hans-Dieter, Bommert, Hanko 1978: Das Selbsterleben in der Psychotherapie. München
Esser, Hartmut 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 3: Soziales Handeln. Frankfurt/Main
Nielsen, Paul 2020: Ein intensiver Einblick in die Welt von Corona-Leugnern. http://www.trend.infopartisan.net/trd1220/t101220.html
Paulsen, Kai 2020: Die Methoden von Corona-Skeptikern.
https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2020/10/Paulsen290820.pdf
Spiegel 2020: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bjoern-hoecke-wie-der-thueringer-landeschef-corona-instrumentalisiert-a-64c1fc69-b9c8-4e4c-bc45-27fbe068b481
Tocqueville, Alexis de 1987: Über die Demokratie in Amerika. Zürich

Ein Diskussionsbeitrag Corona und die (radikale) Linke

 

Seit bald einem Jahr prägt Covid-19 all unsere Lebensbereiche und hat viel zu vielen Menschen weltweit das Leben kostet.

Momentan lassen die Herrschenden uns die Folgen einer durch den Kapitalismus mit hervorgerufenen Pandemie ausbaden. Dies zeigt sich ganz besonders brutal in diesem zweiten „Social Lockdown“ in Deutschland (dieser Text wurde vor dem „harten“ Lockdown geschrieben). Den Menschen ist es faktisch nur noch erlaubt zu konsumieren und zu arbeiten. Soziale Kontakte sind zwar nicht gänzlich verboten, aber nur stark eingeschränkt erlaubt, obwohl von jeglichem Kontakt abgeraten wird. In Ländern, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, ist es noch brutaler, denn da dürfen die Menschen nicht einmal ohne Erlaubnis nach draussen. Das Leben ist banalisiert auf seine kapitalistische Verwertbarkeit. „Gesundheitsmanagement“, „Public Health“ und „Gesundheitspolitik“ sind dabei die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Kapitalismus der Pandemie diese Verwertbarkeit aufrechterhalten.

Seitdem Covid-19 im März zu einer offiziellen Notlage wurde, scheint sich der Diskurs auf zwei Positionen verengt zu haben. Entweder man „nimmt Corona ernst“, das heisst man folgt weitestgehend allen staatlichen Massnahmen, oder schränkt sogar noch weitergehend sein Leben ein, um damit nicht selbst verantwortlich zu sein die Pandemie voranzutreiben. Oder man „nimmt Corona nicht ernst“ und ist damit Corona-Leugnerin, unverantwortlich und Verschwörungsideologin. Doch weder heissen wir es gut, wenn Menschen nach (autoritären) Führerinnen rufen noch sollten wir es stillschweigend hinnehmen, wenn der Staat unser Leben bis in die letzten Ecken versucht zu kontrollieren, während die Menschen weiter fürs Kapital schuften dürfen. Als (radikale) Linke ist es unsere ureigenste Aufgabe eine dritte Position zu entwickeln, die sich jenseits der vorherrschenden Rationalitäten befindet: Jenseits von staatlicher „Moral“; neoliberaler Selbstverantwortung und dem Recht des Stärkeren und autoritären Antworten.

Auch in der Linken wird häufig nur ein für oder wider der Massnahmen diskutiert. Streitet man jedoch für die Massnahmen macht man sich mit dem Staat gemein. Dabei wissen wir, dass es dem Staat niemals um das individuelle Wohl der Menschen geht. Es geht ihm lediglich darum, das System am Laufen zu halten, dafür braucht es einen gesunden Bevölkerungskörper. Natürlich gibt es auch hier widerstreitende Interessen. So fokussieren einige eher auf die Verhinderung der Überlastung der Krankenhäuser, wieder andere auf die Aufrechterhaltung der Wirtschaft. Gemeinsam ist diesen Interessen jedoch, dass sie einen Status Quo (der einigermassen unter Kontrolle stehenden Pandemie) aufrechterhalten oder wiederherstellen wollen (Kapitalismus ohne Corona). Wir lehnen jedoch jeden Status Quo ab! Eine (radikale) Linke, die sich aktiv für die staatlichen Massnahmen ausspricht, kämpft für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus, lediglich ohne Covid-19.

Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen.

Alle staatlichen Massnahmen werden mit Infektionsschutz und der Notwendigkeit die Ausbreitung des Virus zu verhindern, begründet. Doch uns sollte klar sein, dass angeblich rationale Argumente, die naturwissenschaftlich und objektiv daherkommen, weiterhin bürgerliche Wissenschaft sind. Wie all unser Wissen, unsere Emotionen, unser Sein gesellschaftlich, Produkt von Menschen ist, und damit kritisch zu hinterfragen sind. Die Staatskassen seien leer, man könne dies und jenes nicht bezahlen, es könnten schliesslich nicht alle Geflüchteten kommen, Klimaschutz sei zu teuer, Griechenland hätte schlecht gewirtschaftet.

All dies sind und waren Argumente die wir niemals als Rechtfertigung für Entscheidungen gegen das Wohl der Menschen gelten lassen. Denn die Notwendigkeit eines guten Lebens für Alle lässt sich nicht rational und naturwissenschaftlich begründen, genau so wenig, wie die Ewigkeit des Kapitalismus. Als (radikale) Linke sollten wir nicht in solch menschenverachtende Argumentationsmuster verfallen, denn letztlich halten sie das Leben einer Person, die sich nicht infiziert für schützenswerter, als das einer Frau, die von häuslicher Gewalt betroffen ist, oder einer Person die über Suizid nachdenkt und nicht die Hilfe bekommt, die sie vielleicht braucht. Überlassen wir diese Logik den Herrschenden.

Unsere Logik ist die von Überleben & Leben. Das heisst nicht, dass man sich dem Maske tragen grundsätzlich verweigert oder Partys mit vielen Menschen feiert. Es heisst, dass man immer wieder anhand der eigenen linken und kollektiv entwickelten Massstäbe abwägt. Im Alltag heisst das: Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen.

Im herrschenden Diskurs erscheint die Corona-Pandemie wie ein höheres Übel, das über uns gekommen ist und das es nun zu beherrschen gilt. Hierfür ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass das Corona-Virus eben genau dies nicht ist. So haben zahlreiche Studien und Forschungen der letzten Jahrzehnte bereits gezeigt, dass die kapitalistische Landwirtschaft und die Urbanisierung der Gesellschaften das Entstehen und die schnelle Verbreitung von Viren hervorruft und rasant befördert.

Doch auch jetzt herrscht im breiten Diskurs schon wieder das Prinzip TINA: Die Bevölkerung wird bereits auf kommende Pandemien eingeschworen, wenn es heisst, dass die Menschen sich eben an das Tragen von Masken gewöhnen müssten, oder das Home Office als das neue ständige Arbeiten besprochen wird. Ein in Frage stellen der Tatsache, dass wir nun in der ständigen und unabwendbaren Gefahr von Pandemien leben und dass all die Massnahmen gerechtfertigt sind, gibt es nicht, geschweige denn, dass die Frage nach Gründen und der Überwindung der Gründe und Zustände die uns in diese Situation gebracht haben, gestellt werden.

Doch auch die (radikale) Linke in Deutschland scheint sich nicht zu trauen all dies praktisch und hörbar in Frage zu stellen. Noch viel schlimmer: Es scheint, als haben wir noch nicht einmal begriffen, was die staatlichen Massnahmen mit uns als Genossinnen machen. Wir entfernen uns ganz materiell voneinander, wir sind eine Gefahr füreinander. Einfach all unsere Treffen ins digitale zu verschieben und unsere Räume zu schliessen bedeutet, dass wir der Meinung sind, dass wir uns als Körper gegenseitig nicht brauchen. Dabei sind es eben diese Körper, die uns in Aktionen gegen Polizeigewalt geschützt haben, mit denen wir auf Partys geschwitzt haben, in zu engen Räumen auf Plena fast aufeinander gesessen haben, die uns in schweren Zeiten getröstet haben.

In den sozialen Räumen fand politischer Austausch und Vernetzung statt. Wir erfuhren von Ideen, Initiativen und Debatten. Es existierte so etwas wie Kooperation. Heute erfahren wir von drei thematisch ähnlichen Demos am selben Wochenende durch Twitter, spektren übergreifende Diskussionen finden nur sporadisch statt und so etwas wie Enthusiasmus ist ein Fremdwort auf Big Blue Buttom (oder auch Zoom). All das verweist auf die alte Erkenntnis, dass das soziale/private, politisch ist: Eine fast vergessene Erkenntnis aus fernen Zeiten, in denen sich die Linke noch Analyse leisten konnte.

Doch selbst die oben erwähnten Veranstaltungen die zumindest die wirtschaftliche Seite der Corona-Politik adressierten waren so klein, dass der Eindruck entstehen muss, der radikalen Linken seien die autoritären Massnahmen egal, oder noch schlimmer, dass sie einverstanden ist mit dieser Politik.

Doch anstatt hierüber zu sprechen, geht alles weiter wie bisher, nur eben mit Maske und draussen oder digital. So kann man eben nicht behaupten, dass es 2020 keine linken Aktionen gegeben hätte. Von der BLM Demo, über die Aktionen im Danni bis zur Demo gegen die Liebig-Räumung, war alles dabei. Eine laute Kritik an den staatlichen Massnahmen, geschweige denn ein Aufbegehren gegen diese war jedoch kaum zu hören geschweige denn zu spüren. Man konnte bei all diesen Gelegenheiten den Eindruck gewinnen Corona habe es nie oder schon immer gegeben.

Die paar Veranstaltungen oder Aktionen die explizit die Politik der Regierung thematisierten, stellten die wirtschaftlichen Folgen in den Vordergrund. Doch das ständige Sich-empören über die angebliche Doppelmoral der aktuellen Politik verkennt, dass die ergriffenen Massnahmen in der Logik der Herrschenden äusserst kohärent sind. Malochen gehen und zu Hause bleiben. Einen anderen Lockdown wird es hier nicht geben! Doch selbst die oben erwähnten Veranstaltungen die zumindest die wirtschaftliche Seite der Corona-Politik adressierten waren so klein, dass der Eindruck entstehen muss, der radikalen Linken seien die autoritären Massnahmen egal, oder noch schlimmer, dass sie einverstanden ist mit dieser Politik.

Wir lassen uns vereinzeln und halten es für das einfachste, den staatlichen Massnahmen Folge zu leisten, anstatt gemeinsam zu überlegen, was für eine linke Gemeinschaft ein gangbarer Weg sein könnte. Ja, ein solcher Prozess ist anstrengend und erfordert Mut, denn es müssen Ängste ausgesprochen werden und in einem solchen Prozess würde deutlich werden, dass wir uns niemals 100% schützen können. Sicherheit existiert nur in der Ideologie von Herrschaft. Aber ein Kollektiv ist mehr als seine Einzelteile.

Es ist ein grosses Ganzes, das über die Einzelne hinausweist: Verantwortung für Ansteckung, durch eine gemeinsame Diskussion und vielleicht auch Entscheidung, auf das Kollektiv zu übertragen und damit jede Einzelne von der schweren Last der angeblichen „Schuld“, eine Freundin angesteckt zu haben zu entlasten, ist das, was zu gewinnen ist. Uns als Subjekte ernst zu nehmen oder Politik der 1. Person zu machen, heisst auch gemeinsam zu schauen, was diese Situation mit uns als Genossinnen macht, ganz zu schweigen vom Rest der Bevölkerung.

Die radikale Linke kämpft für ein würdiges Leben aller Menschen auf diesem Planeten. Doch ein würdiges Leben ist weit entfernt. Momentan mehr denn je. Die soziale Verwüstung in Form von Millionenarbeitslosigkeit, Hunger und Gewalt fegt wie ein Tsunami, fast ungesehen in Deutschland, über den Globus. Wir werden in unsere Wohnungen eingesperrt und in unseren sozialen Beziehungen bevormundet. Schlimmer noch: wir bevormunden uns gegenseitig.

So entscheiden Kinder, ihre Eltern nicht zu besuchen, weil sie sich für ein Risiko für sie halten, obwohl ein Besuch sehnlichst gewünscht wird. Man glaubt für andere entscheiden zu können, ob man sich trifft, anstatt sich als Subjekte ernst zu nehmen und zu fragen, ob die andere Person bereit ist, „das Risiko“ einzugehen. In anderen Ländern werden den Menschen die Ressourcen und das Wissen, um sich vor dem Virus zu schützen verweigert. Denn genug Ressourcen existieren im Kapitalismus nicht für alle, sondern hauptsächlich für uns. - Was ist ein Leben wert, wenn es nicht mehr mit anderen gemeinsam gelebt werden kann?

Damit ist das Leben auf das banale Überleben reduziert. So ist es begrüssenswert, wenn darauf hingewiesen wird, dass es für Menschen ohne Obdach kaum möglich ist zu Hause zu bleiben. Damit wird auf die soziale Ungleichheit in den Möglichkeiten sich vor einer Ansteckung zu schützen hingewiesen. Doch gleichzeitig wird Wohnen darauf reduziert sich vor anderen Menschen schützen zu können. Diesen Widersprüchen muss sich eine radikale Linke stellen. Worum es bei einem guten Leben für alle gehen muss, scheint in den Zeiten von Covid-19 aus dem Blick geraten zu sein.

Als radikale Linke müssen wir hiergegen aufbegehren und wie sollen wir dies tun, wenn wir uns aus dem öffentlichen Raum verabschieden und ihn den Rechten überlassen? Wenn wir für die Menschen nicht greifbar, nicht ansprechbar im materiellen Sinne sind? Also lasst uns nicht über das Für und Wider „der Massnahmen“ im medizinischen oder virologischen Sinne streiten. Lasst uns stattdessen analysieren, welchen Effekt sie auf die Gesellschaft haben, ob sie Errungenschaften linker Kämpfe einschränken und ob sie linken Prinzipien entgegenstehen und sie entsprechend kritisieren. Denn mit uns ist kein Staat zu machen!

Maria von M.

Zuerst erschienen auf Sūnzǐ Bīngfǎ

Die Angst vor dem Corona-Virus Worst-Case-Szenarien

 

„Zu bewundern wäre ein Prophet, der etwas Gutes vorausgesagt hat. Denn dieses, und nur dieses ist unwahrscheinlich.“ Elias Canetti

Glaubt eigentlich noch jemand daran, dass sich irgendwann etwas verändert? In diesen Tagen überbieten sich die Leute an Pessimismus. Nicht erst in diesen Tagen. Vor einem Dreivierteljahr schon bin ich solchen begegnet, die zu wissen meinten, wir hätten mit den Auswirkungen der Pandemie noch bis 2022 oder länger zu tun.

Komisch ist, dass sie dies nicht, wie zu erwarten wäre, mit resignierter Mine feststellen, aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus, nichts dagegen ausrichten, politische Willensentscheidungen nur passiv erdulden zu können, sondern mit einem Anflug von Stolz, als sei dies Beweis ihres unerschütterlichen Realitätssinns, einer hart erkämpften Position gegen sich selbst, einer heroischen Unterordnung unter die ,nackten Tatsachen', ihrer Fähigkeit, wie eine Wissenschaftlerin, wie ein Wissenschaftler vom eigenen Standpunkt, vom eigenen Interesse abzusehen - und als sei jedes Hoffen auf ein halbwegs normales Leben eine inzwischen kindische, unverantwortliche, beinah sträfliche Träumerei.

Mag sein, dass einige sich auf diese Weise vor ihren Emotionen zu schützen versuchen, vor der Wut und Enttäuschung etwa, dass die Politiker nicht einhalten, was sie soeben noch kategorisch ausschlossen (eine Verlängerung des Lockdowns). Aber warum sehen sie nicht, wie sie mit ihrem Pessimismus dem politischen Diskurs zuspielen? Offenbar hat die Regierungsstrategie ihre Spuren im allgemeinen Bewusstsein hinterlassen.

In einem zunächst internen Papier des deutschen Innenministeriums vom April 2020, das mit dem Ziel erarbeitet wurde, „unterschiedliche Szenarien der Ausbreitung des Coronavirus zum Zeitpunkt der Papiererstellung zu analysieren – unabhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts“, hiess es:

„Der Worst Case ist mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich (…) zu verdeutlichen. (…) Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.“

Wenn nichts getan werde, gehe man aus von einem „Worst-Case-Szenario von über einer Millionen Toten im Jahr 2020 – für Deutschland allein.“[1]

Gemäss dieser Logik des schlimmsten anzunehmenden Falls hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits 2005 davor gewarnt, dass die drohende Vogelgrippe-Epidemie zwischen zwei und 150 Millionen Leben fordern könnte, und dabei eine politische Strategie nahegelegt, die die Mitgliedsstaaten damals nicht anzunehmen bereit waren. In seinem Essay Tempêtes microbiennes, der 2013 bei Gallimard erschienen ist, zeigt Patrick Zylberman,

„dass das von der WHO vorgeschlagene Dispositiv auf drei Punkten beruhte:

1) Ausarbeitung eines fiktiven Szenarios auf Basis eines anzunehmenden Risikos, wobei die Daten gezielt präsentiert werden, um ein Verhalten herbeizuführen, das die Verwaltung einer extremen Lage ermöglichen würde;

2) Anwendung einer Logik des schlimmsten anzunehmenden Falls als Leitprinzip der politischen Rationalität;

3) lückenlose Reglementierung der Bevölkerung, um die grösstmögliche Zustimmung zu den Regierungsmassnahmen zu erzielen und eine Art überspitzten Bürgersinn zu erschaffen, bei dem die auferlegten Pflichten als Beweis der Selbstlosigkeit präsentiert werden und bei dem die Bürgerinnen und Bürger keine Recht auf Gesundheit (health safety) haben, sondern zur Gesundheit verpflichtet werden (biosecurity).“[2]

Dieses Leitprinzip der politischen Rationalität korrespondiert mit den Überlegungen des Wissenschaftstheoretikers Jean-Pierre Dupuy zu einem „catastrophisme éclairé“[3]. Der aufgeklärte Katastrophismus unterscheidet sich vom herkömmlichen Vorsorgeprinzip, dem Leitprinzip für die Bewältigung von Risiken in Erwartung einer Möglichkeit, insofern, als er eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit in eine Gewissheit verwandelt.

Katastrophismus ist extremer Pessimismus: Das Schlimmste passiert ganz gewiss! Dupuy rät so zu handeln, als stünde uns ein Verhängnis unmittelbar bevor, das heisst, so zu tun, als müsse die Menschheit den unaufhaltsamen Lauf der Dinge abwenden. In diesem Sinne empfiehlt er, vom schlimmsten Szenario auszugehen, um den maximalen Schaden auf ein Minimum zu reduzieren, damit das Unaufhaltsame nicht eintrifft. Es gilt also, das Tun zu koordinieren in Bezug auf einen negativen Gesellschaftsentwurf, der die Form eines fixen Zukunftsbilds annimmt, das man nicht will.

Um seinen Standpunkt zu veranschaulichen, greift Dupuy auf Günther Andersʼ Noah-Parabel „Die beweinte Zukunft“ zurück, die erstmalig 1964 in dem von Bernward Vesper und Gudrun Ensslin herausgegebenen Band Gegen den Tod: Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe erschien. Diese biblische Figur ist der typische Unglücksprophet, dem es nicht gelungen ist, sich Gehör zu verschaffen, ganz einfach, weil seine Botschaft ausserhalb des Erfahrungshorizontes seiner Zeitgenossen lag. Und so lässt Günther Anders seinen Noah voll des Zorns, dass er mit dem Wissen um die kommende Flutkatastrophe allein gelassen wurde, zu Gott sprechen:

„Aber du hast dein Angesicht fort gewendet. Auch du hast den Blinden gespielt, auch du den Tauben, wenn ich dich anrief in meiner Ratlosigkeit und dich anflehte um eine Weisung, wie ich (…) doch eindringen könnte in ihre Verstocktheit. Nun aber ist es genug. Denn für die Klagen ist die Frist zu kurz, die du mir gelassen hast, und ich werde es mir ersparen, ihren Mängeln weiter nachzujammern, sondern ich werde ihre Schwächen verwenden, so wie du sie geschaffen hast, und ich will sie zu meiner Stärke machen. Die im Trug leben, die werde ich betrügen. Die verführt sind, noch einmal verführen. Die neugierig sind, noch neugieriger machen. Die sich nicht ansprechen lassen, die sollen mir nachstellen mit ihren Fragen. Und die ängstlich sind, noch ängstlicher gemacht werden, bis sie teilhaftig werden der Wahrheit. Durch Gaukelei werde ich sie erschrecken. Und durch Schrecken zur Einsicht bringen. Und durch Einsicht zum Handeln.”

Um seinen Mitmenschen begreiflich zu machen, dass das Ende nur eine Frage der Zeit ist, zieht er im Totengewand als trauernder Mann durch die Strassen. Auf die Nachfragen der Schaulustigen, wer ihm denn gestorben sei, antwortet er:

„Weisst du denn das nicht? Viele sind mir gestorben.“ (...)
„Wer sind denn diese Vielen?“ (...)
„Wer diese Vielen sind? (…) Weisst du denn das nicht? Wir alle sind diese Vielen. (…)
Übermorgen wird die Flut etwas sein, was gewesen ist. (…) Wenn nämlich die Flut übermorgen etwas sein wird, was gewesen ist, dann heisst das: dies hier, nämlich alles, was vor der Flut gewesen, wird etwas sein, was niemals gewesen ist.“

Wenn dieser aufgeklärte Katastrophismus, diese Übertreibungslogik tatsächlich für die Regierungsstrategie handlungsleitend ist, muss man ihr – gemessen an den für Deutschland prophezeiten Toten „von über einer Millionen (.) im Jahr 2020“ – zweifellos Erfolg bescheinigen. Die „gewünschte Schockwirkung“ ist offenbar eingetroffen: Die Angst[4] vor dem Corona-Virus und folglich auch die Akzeptanz der ergriffenen Massnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens ist in der Bevölkerung nach wie vor hoch. Die Todesdrohung ist so sehr mit Macht und Autorität assoziiert, dass sie jede Reflexion unmittelbar in ihren Bann schlägt. Das Denken, eingeengt, perseverierend, kehrt immer wieder zum selben Punkt zurück – man kann sich nichts anderes mehr vorstellen, ist, wie Adorno sagt, vereidigt auf die Welt, wie sie ist.

M. A. Sieber

Fussnoten:

[1] „Corona: Sicherheit kontra Freiheit. Deutsche, Franzosen und Schweden in der Krise“, NDR-Dokumentation, The European Collection 2020, Minute 07:30-08:38.

[2] Giorgio Agamben, „Biosicherheit und Politiker (11. Mai 2020)“, in: Ders.: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Turia + Kant: Wien 2021, S. 87–91, hier: 88f.

[3] Die folgende Darstellung der Position von Jean-Pierre Dupuy entnehme ich dem Kapitel „Aufgeklärter Katastrophismus“ aus Walter Francois: Katastrophen: eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Reclam Verlag: Stuttgart 2010, S. 272-275. Die beiden Werke von Jean-Pierre Dupuy, die sich diesem Thema widmen - Pour un catastrophisme éclairé. Quand l'impossible est certain, Seuil: Paris 2004 und Petite métaphysique des tsunamis, Seuil: Paris 2005 - wurden noch nicht ins Deutsche übersetzt.

(4) Nicht nur Angststörungen und Depressionen, auch Suchterkrankungen nehmen in diesen Zeiten zu - ganz nach dem Motto: "The risks that kill you are not necessarely the risks that anger and frighten you. (Peter Sandmann)


Links:

Corona: Sicherheit kontra Freiheit - Deutsche, Franzosen und Schweden in der Krise - Die ganze Doku

Günther Anders - DIE BEWEINTE ZUKUNFT auf Vimeo

Theodor W. Adorno - Über

Kurzer Zwischenruf Als hätten alle den Verstand verloren

 

Der westschweizerische Universitätsspitalsarzt Dr. Urs Scherrer, der auch nach seiner Emeritierung noch eine Forschungsgruppe leitet, beschreibt die aktuelle Coronakrise so:

"Da tritt ein neues Virus auf, mässig gefährlich, keine Pest. Experten malen den Teufel an die Wand, die ratlose Regierung verfällt in Panik und erklärt den Notstand. Das Volk kuscht, die Freiheit ist bloss noch eine Erinnerung, das Land steht still, das Volksvermögen wird hochwassernd die Aare hinuntergespült. Der Staat verfällt in einen inkohärenten Aktivismus."[1]

Als forschungs- und publikationserfahrener Kultur- und Sozialwissenschaftler könnte ich Lage und Entwicklung der aktuellen Covid19-Seuche in Ganzdeutschland unterm Doppelaspekt Schwindelpandemie und Pandemieschwindel seit Anfang 2020 nachzeichnen.[2] Und käme zu diesem Urteil im Sinne von Werner Hofmann als akademischem Lehrer, dem es um Wissenschaft als rational kontrollierte "methodische (d.h. systematische und kritische) Weise der Erkenntnissuche" ging[3]: Keine der Grundaussagen des massenmedial ausgelobten virologischen Dreigestirns regierungsberatender Virologenprofs (Wieler, Drosten, Kekulé) ist wissenschaftlich logisch tragfähig oder/und methodisch überprüfbar. So gesehen, geht es, als Besonderheit, um das Gegenteil von Wissenschaft – um Ideologie.

Entsprechend auch die politischen Wendungen und Massnahmen. Etwa in Nordrhein-Westfalen (NRW) mit seiner CDU/FDP-Landesregierung. Für diese forderte der gegenwärtige FDP-Chef Lindner am 12. April 2020[4]:

"Die Bundesregierung und die anderen Länder sollten auf der Grundlage der Vorschläge des grössten Bundeslandes in dieser Woche einen gemeinsamen Weg für die langsame Rückkehr in die Normalität beschliessen."

Vor allem was als "Rückkehr in die Normalität" behauptet und propagiert wurde, erweist sich als ihr grundlegendes Gegenteil – grad so als wäre die totalitäre Überwachung und Kontrolle sitzender und/oder liegender Tätigkeiten und Besuche in Kneipen, Biergärten, Gaststätten, Restaurants, Friseur-, Tätowierungs-, Massagesalons und Fitnessstudios Normalität. Und als wär´s normal, wenn in der Gastronomie nur die bedient würden, die ihre Kontaktdaten zwecks – angeblich möglicher – Rekonstruktionsversuche von Sars2-Virusinfektionsverläufen schriftlich hinterlassen.

In NRW werden "Restaurantbetreiber nach neuester Corona-Schutzverordnung [CoronaSchVO vom 11. Mai 2020] dazu verpflichtet, Kundenkontaktdaten sowie Zeiträume des Aufenthaltes in der Innen- und Aussengastronomie aufzunehmen. [...] Gästen, die sich in diese Listen nicht eintragen wollen, ist im Rahmen des Hausrechts der Zutritt zu verwehren."[5]

In dieser so absurden wie perversen Optik und ihren Menschen- wie Gesellschaftsvorstellungen bringt sich das ganzdeutsche Corona(krisen)lager zur Kenntlichkeit als Notstandsregime im Ausnahmezustand. Ein politisch zurückhaltender Sänger hat diesen Systemzusammenhang vor gut zwanzig Jahren bündig beschrieben[6]:

Es ist, als hätten alle den Verstand verlor‘n,
Sich zum Niedergang und zum Verfall verschwor‘n,
Und ein Irrlicht ist ihr Leuchtfeuer geworden.

Richard Albrecht

Fussnoten:

[1] https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-gott-ist-tot-es-lebe-die-gesundheit-ld.1554210

[2] Richard Albrecht, MUCH ADO ABOUT FEW: Covid-19 Virus – Pandemie – Coronakrise: Von der Definitionsmacht zum Risikoparadox; in:soziologie heute, 12 (2020) 71: 47

[3] Richard Albrecht, Stalinismus und Antikommunismus, Ideologie und Wissenschaft; in: soziologie heute, 9 (2018) 59: 47; im Netz http://www.trend.infopartisan.net/trd1218/t441218.html

[4] https://www.onvista.de/news/lindner-nrw-plan-fuer-rueckkehr-zu-normalitaet-vorlage-fuer-deutschland-348211101

[5] https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/restaurants-gaststaetten-oeffnung-kontaktdaten-namensliste-corona-unsicherheit-nrw-niedersachsen-baden-wuerttemberg/

[6] Reinhard Mey, DAS NARRENSCHIFF (1999): https://www.youtube.com/watch?v=Zwsof2nG4p4

Giorgio Agamben

Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, lehrt heute als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Das nackte Leben

 

Mit der Impfideologie wird jeder Mensch als asymptomatisch erkrankt definiert — die Sorge um die Existenz hat jeden Wertepluralismus eingeebnet.

 

Mehrfach in meinen vorhergehenden Einmischungen habe ich die Figur des nackten Lebens evoziert. In der Tat scheint es mir, als zeige die Epidemie ohne jeden Zweifel, dass die Menschheit an nichts mehr glaubt als nur die nackte Existenz, die es als solche um jeden Preis zu erhalten gilt.

Die christliche Religion mit ihren Werken der Liebe und des Erbarmens und ihrem Glauben bis zum Martyrium, die politische Ideologie mit ihrer bedingungslosen Solidarität, sogar der Glaube an die Arbeit und an das Geld scheinen an die zweite Stelle zu rücken, kaum dass das nackte Leben bedroht wird, und sei es in Form eines Risikos, dessen statistische Entität labil und vorsätzlich unbestimmt ist.

Der Zeitpunkt ist gekommen, den Sinn und den Ursprung dieses Konzepts zu benennen. Es ist deshalb notwendig, in Erinnerung zu rufen, dass das Menschliche nichts ist, was sich ein für alle Mal definieren ließe. Es ist eher der Ort unentwegt aktualisierter historischer Entscheidung, die jedes Mal die Grenze festlegt, die den Menschen vom Tier scheidet, das, was im Menschen menschlich ist, von dem, was in ihm und außerhalb seiner nicht menschlich ist.

Als Linné für seine Klassifikation ein charakteristisches Merkmal sucht, das den Menschen vom Primaten scheidet, muss er eingestehen, es nicht zu kennen, und er endet damit, dem Gattungsnamen homo nur das alte philosophische Motto nosce te ipsum, erkenne dich selbst, beizugesellen. Dies ist die Bedeutung des Terminus sapiens, den Linné in der zehnten Auflage seines „Systems der Natur“ beifügen wird: Der Mensch ist das Tier, das sich als menschlich erkennen muss, um es zu sein, und das deshalb das Menschliche unterscheiden muss — per Entscheidung — von dem, was es nicht ist.

Man kann das Dispositiv, durch das sich diese Entscheidung historisch vollzieht, als anthropologische Maschine bezeichnen. Die Maschine schließt das tierische Leben des Menschen aus und produziert das Menschliche vermittels dieses Ausschlusses. Aber damit die Maschine funktionieren kann, muss Exklusion auch Inklusion sein, muss es zwischen den beiden Polen — dem Tierischen und dem Menschlichen — ein Gelenk und eine Schwelle geben, die sie zugleich trennen und verbinden.

Dieses Gelenk ist das nackte Leben, also ein Leben, das nicht eigentlich tierisch und nicht wirklich menschlich ist, aber in welchem sich jedes Mal die Entscheidung zwischen dem Menschlichen und dem nicht Menschlichen vollzieht.

Diese Schwelle, die notwendigerweise durch das Innere des Menschen verläuft und in ihm das biologische Leben vom sozialen trennt, ist eine Abstraktion und eine Virtualität, aber eine Abstraktion, die real wird, indem sie sich jedes Mal in konkreten historischen und politisch festgelegten Figuren inkarniert: dem Sklaven, dem Barbaren, dem homo sacer, den in der antiken Welt jeder töten kann, ohne ein Verbrechen zu begehen; dem enfant sauvage, dem Wolfsmensch und dem homo alalus als fehlendem Glied zwischen dem Affen und dem Menschen von der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert; dem Bürger im Ausnahmezustand, dem Juden im Lager, dem Komatösen im Reanimationsraum und dem Körper, der im 20. Jahrhundert für die Entnahme von Organen aufbewahrt wird.

Welche Gestalt des nackten Lebens steht heute bei der Bewältigung der Pandemie zur Diskussion?

Es ist nicht so sehr der Kranke, der isoliert und behandelt wird, wie nie ein Patient in der Geschichte der Medizin behandelt wurde; es ist eher der Angesteckte oder — wie es mit einer selbstwidersprüchlichen Formel definiert wird — der asymptomatisch Erkrankte, etwas, was praktisch jeder Mensch ist, auch ohne es zu wissen.

Es geht nicht so sehr um die Gesundheit als vielmehr um ein Leben, das weder gesund noch krank ist, dem als solches, insofern es potenziell pathogen ist, die Freiheiten entzogen werden können und das jeder Art von Verbot und Kontrolle unterworfen werden kann. Alle Menschen sind in diesem Sinne praktisch asymptomatisch Kranke.

Die ganze Identität dieses Lebens, das zwischen der Krankheit und der Gesundheit fluktuiert, besteht darin, Empfänger des Teststäbchens oder der Impfung zu sein, die, wie die Taufe einer neuen Religion, die ruinierte Gestalt dessen definieren, was es einmal hieß, Bürger zu sein. Einer Taufe, die nicht mehr auslöschbar ist, aber notwendigerweise provisorisch und erneuerbar, weil der Neu-Bürger, der immer seine diesbezügliche Bescheinigung wird vorweisen müssen, keine unveräußerlichen und unkündbaren Rechte mehr besitzt, sondern nur Pflichten, die unentwegt entschieden und erneuert werden müssen.

Giorgio Agamben

Das Gesicht und der Tod

Um die Tatsache der Sterblichkeit zu verdrängen, müssen wir unter einer Maske verschwinden und ein lebloses Dasein fristen.

Dass der Anblick des eigenen Gesichts und des Gesichts der anderen für den Menschen eine entscheidende Erfahrung ist, war schon in der Antike bekannt: „Das, was man das ‚Gesicht‘ nennt“, schreibt Cicero, „kann es bei keinem Tier als nur dem Menschen geben“. Und die Griechen definierten den Sklaven, der nicht Herr seiner selbst ist, als aproposon, wörtlich „gesichtslos“. Gewiss zeigen sich alle Lebewesen einander und kommunizieren miteinander, aber nur der Mensch macht aus seinem Gesicht den Ort seines Erkennens und seiner Wahrheit.

Der Mensch ist das Tier, das sein Gesicht im Spiegel erkennt und sich im Gesicht des anderen spiegelt und wiedererkennt.

Das Gesicht ist, in diesem Sinne, gleichermaßen die Similitas, die Ähnlichkeit, wie die Simultas, das gemeinsame Sein der Menschen. Ein Mensch ohne Gesicht ist notwendigerweise allein.

Deshalb ist das Gesicht der Ort der Politik. Wenn die Menschen sich stets und ausschließlich Informationen mitzuteilen hätten, immer diese oder jene Sache, gäbe es keine wirkliche Politik, sondern bloß einen Austausch von Nachrichten. Aber da die Menschen einander vor allem ihre Offenheit mitzuteilen haben, ihr gegenseitiges Wiedererkennen in einem Gesicht, ist das Gesicht selbst die Bedingung der Politik, das, worin all das gründet, was die Menschen einander sagen, was sie austauschen.

Das Gesicht in diesem Sinn ist die wahre Stadt des Menschen, das politische Element par excellence. Indem sie sich einander ins Gesicht sehen, erkennen die Menschen einander und begeistern sich für einander, nehmen Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit wahr, Distanz und Nähe. Wenn es kein politisches Tier gibt, so deshalb, weil die Tiere, die immer schon im Freien sind, aus ihrer Ausgesetztheit kein Problem machen; sie halten einfach darin auf, ohne sich darum zu bekümmern.

Deshalb interessieren sie sich nicht für Spiegel, für das Bild als Bild. Der Mensch hingegen will sich selbst erkennen und erkannt werden, will sich das eigene Bild aneignen, sucht darin die eigene Wahrheit. Auf diese Weise verwandelt er die tierische Umwelt in eine Welt, in ein Feld unaufhörlicher politischer Dialektik.

Ein Land, das beschließt, auf sein eigenes Gesicht zu verzichten, allerorten die Gesichter der eigenen Bürger mit Masken zu bedecken, ist also ein Land, das in sich jede politische Dimension ausgelöscht hat.

In dieser Leere, jederzeit einer grenzenlosen Kontrolle unterworfen, bewegen sich nun Individuen, isoliert voneinander, die das unmittelbare und spürbare Fundament ihrer Gemeinschaft verloren haben und nur noch Nachrichten austauschen können, die nur noch an einen Namen ohne ein Gesicht gerichtet sind. Und da der Mensch ein politisches Tier ist, bedeutet das Verschwinden der Politik auch die Entfernung des Lebens: Ein Kind, das bei der Geburt nicht mehr das Gesicht der eigenen Mutter sieht, läuft Gefahr, menschliche Gefühle nicht mehr wahrnehmen zu können.

Nicht weniger wichtig als die Beziehung zum Gesicht ist die Beziehung zu den Toten. Der Mensch, das einzige Tier, das sich im eigenen Gesicht erkennt, ist auch das einzige Tier, das den Totenkult feiert. Es überrascht daher nicht, dass auch die Toten ein Gesicht haben und dass sich die Auslöschung des Gesichts im Gleichschritt mit der Entfernung des Todes vollzieht.

In Rom nimmt der Tote mittels seiner Imago, des aus Wachs geformten und bemalten Bildes, das jede Familie im Flur des eigenen Hauses aufbewahrt, Anteil an der Welt der Lebenden. Der freie Mensch ist also gleichermaßen durch seine Teilnahme am politischen Leben der Stadt wie durch sein Ius Imaginum, das unveräußerliche Recht, das Gesicht seiner Vorfahren zu bewahren und es bei den Festen der Gemeinde öffentlich auszustellen.

„Nach der Bestattung und den Begräbnisriten“, schreibt Polybios, „wurde die Imago des Toten am sichtbarsten Punkt des Hauses in einem hölzernen Reliquienschrein platziert und dieses Bild ist ein Gesicht aus Wachs, das sowohl in Form als auch Farbe exakt nachgebildet ist.“

Diese Bilder waren nicht nur Gegenstand eines privaten Gedenkens, sondern das greifbare Zeichen der Verbundenheit und der Solidarität zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und sie waren integraler Bestandteil des städtischen Lebens. Deshalb spielten sie eine so wichtige Rolle im öffentlichen Leben, dass man behaupten könnte, dass das Recht an den Bildern der Toten das Laboratorium sei, in dem das Recht der Lebenden gründet.

Dies ist so wahr, dass derjenige, der sich öffentlich durch ein schweres Verbrechen besudelt hatte, das Recht auf das Bild verlor. Und der Legende nach ließ Romulus, als er Rom gründete, eine Grube — Mundus, „Welt“ genannt, ausheben, in welche er und jeder seiner Gefährten eine Handvoll der Erde warf, von der sie stammten. Diese Grube wurde dreimal im Jahr geöffnet und man glaubte, dass an diesen Tagen die Mani, die Toten, in die Stadt kamen und am Diesseits der Lebenden teilnahmen. Die Welt ist nur die Schwelle, über die die Lebenden und die Toten, die Vergangenheit und die Gegenwart kommunizieren.

So wird verständlich, warum eine Welt ohne Gesichter nichts anderes als eine Welt ohne Tote sein kann. Verlieren die Lebenden ihr Gesicht, werden die Toten nur Nummern, die, weil sie auf ihr bloßes biologisches Leben reduziert worden sind, allein und ohne Begräbnis sterben müssen.

Und wenn das Gesicht der Ort ist, an dem wir noch vor jedem Gespräch mit unseren Mitmenschen kommunizieren, so sind auch die ihrer Beziehung zum Gesicht beraubten Lebenden unweigerlich allein, egal wie sie sich bemühen, mit digitalen Geräten zu kommunizieren.

Das planetarische Projekt, das die Regierungen zu erzwingen suchen, ist folglich radikal unpolitisch. Im Gegenteil schlägt es vor, jedes genuin politische Element aus der menschlichen Existenz zu eliminieren, um es durch eine auf algorithmischer Kontrolle gründete Gouvernementalität zu ersetzen.

Auslöschung des Gesichts, Entfernung der Toten und soziale Distanzierung bilden die essenziellen Dispositive dieser Gouvernementalität, die gemäß den übereinstimmenden Erklärungen der Mächtigen auch dann beibehalten werden muss, wenn der Gesundheitsterror gelockert wird.

Jedoch: Eine Gesellschaft ohne Gesicht, ohne Vergangenheit und ohne physischen Kontakt ist eine Gesellschaft von Gespenstern, gleichsam zu einem mehr oder weniger schnellen Ruin verdammt.

Giorgio Agamben

Viel Lärm um wenig

Die Infektions- und Sterbestatistiken in Italien rechtfertigen keinesfalls die Außerkraftsetzung von Grundrechten.

Gemäß den offiziellen Mitteilungen gibt es in Italien am 28. Oktober 2020 insgesamt 617.000 positive Covid-19-Fälle, von denen 279.000 genesen sind. Verstorben sind 38.127 (die Zahl bezieht sich auf die Zahl der Positiven, unabhängig von der tatsächlichen Todesursache). Die Positiven sind in der überwältigenden Mehrheit jene, die man einst als gesunde Träger definierte (nun nennt man sie seltsamerweise „symptomlos Erkrankte“).

Die Einwohnerzahl Italiens ist 60.391.000. Im Jahr 2017 sind in Italien 650.614 Personen verstorben (2019 waren es 647.000). Die Zahl der an respiratorischen Erkrankungen Verstorbenen lag 2017 bei 53.372. Die der an kardiovaskulären Erkrankungen Verstorbenen bei 230.283 (ISTAT-Daten).

Gemäß den wissenschaftlichen Studien beträgt die IFR (Infection fatality rate oder Sterblichkeitsrate) von Covid-19 ungefähr 0,6 Prozent (vergleiche „Organisms. Journal of Biological Sciences“, Ausg. 4, Nr. 1, 2020, S. 6).

Auf Basis dieser Daten sind die verfassungsmäßigen Freiheiten außer Kraft gesetzt und die Bevölkerung terrorisiert, das soziale Leben unterbunden, die mentale und physische Gesundheit der Menschen ernstlich bedroht worden.

Giorgio Agamben

Wenn das Haus brennt

In Zeiten, in denen die uns vertraute Welt stirbt, haben wir die Chance, noch aufrichtiger zu leben.

„Das, was um dich geschieht / geht dich nichts mehr an.“ Wie die Geografie eines Landes, das du für immer verlassen musst. In welcher Weise betrifft es dich noch? Gerade jetzt, da es nicht mehr deine Angelegenheit ist, da alles zu Ende zu sein scheint und jedes Ding und jeder Ort in seiner wahrhaftigsten Form erscheint, gehen sie dir in gewisser Weise näher — so, wie sie sind: Glanz und Elend.

Die Philosophie, eine tote Sprache.

„Die Sprache der Poeten ist immer eine tote Sprache (…) begierig sich auszusprechen: eine tote Sprache, die gebraucht wird, um dem Denken mehr Leben einzuhauchen.“

Vielleicht keine tote Sprache, sondern ein Dialekt. Dass Philosophie und Poesie in einer Sprache sprechen, die weniger ist als Sprache, bestimmt das Maß ihres Ranges, ihrer besonderen Vitalität. Die Welt wiegen, beurteilen, indem man sie an einem Dialekt misst, an einer toten und doch auferstandenen Sprache, an der es kein einziges Komma zu ändern gibt. Fahre fort, diesen Dialekt zu sprechen, nun, da das Haus brennt.

Welches Haus brennt? Das Land, in dem du lebst, oder Europa oder die ganze Welt? Vielleicht sind die Häuser, die Städte schon niedergebrannt, wir wissen nicht, seit wann, in einem einzigen immensen Brand, den wir nicht zu sehen vorgaben. Von einigen bleiben nur Mauerstücke, eine mit Fresken bemalte Wand, ein Stückchen des Daches, Namen, viele Namen, schon angebrannt. Und doch bedecken wir sie so akkurat mit weißem Putz und verlogenen Worten, sodass sie intakt erscheinen. Wir leben in Häusern, in Städten, die von oben bis unten verbrannt sind, als ständen sie noch. Die Leute täuschen vor, dort zu leben, und treten maskiert hinaus auf die Straße zwischen die Ruinen, als wären es noch die vertrauten Viertel von einst.

Und nun hat die Flamme ihre Form und Natur verändert, ist eine digital, unsichtbar und kalt geworden, aber gerade deshalb ist sie näher, umgibt uns immer und überall.

Dass eine Zivilisation — eine Barbarei — untergeht, um sich nie wieder zu erheben, ist schon geschehen und die Historiker sind es gewohnt, Zäsuren und Schiffbrüche zu markieren und zu datieren. Aber wie soll man Zeugnis ablegen von einer zugrunde gehenden Welt mit verbundenen Augen und bedecktem Gesicht, von einer Republik, die ohne Klarheit und Stolz in Ablehnung und voller Angst zerfällt? Die Blindheit ist umso verzweifelter, als die Schiffbrüchigen vorgeben, den eigenen Schiffbruch zu beherrschen, schwören, man könne alles technisch unter Kontrolle halten, dass es weder eines neuen Gottes noch eines neuen Himmels bedürfe — nur der Verbote, der Experten und der Ärzte. Panik und Gaunereien.

Was wäre ein Gott, zu dem man nicht betete und dem man nicht opferte? Und was wäre ein Gesetz, das weder Befehl noch Exekution kennt? Und was ein Wort, das weder bezeichnet noch befiehlt, sondern tatsächlich am Anfang steht — sogar davor?

Eine Kultur, die fühlt, am Ende zu sein, ohne jedes Leben, versucht so gut sie kann, ihren Ruin durch einen permanenten Ausnahmezustand zu beherrschen. Die totale Mobilisierung, in der (Ernst) Jünger das wesentliche Charakteristikum unserer Zeit sah, tritt aus dieser Perspektive in den Blick. Die Menschen müssen mobilisiert werden, müssen sich jederzeit im Notstand fühlen, reguliert in seinen kleinsten Einzelheiten von denen, die die Entscheidungsmacht haben. Aber während die Mobilisierung in der Vergangenheit den Zweck hatte, die Menschen einander näherzubringen, zielt sie heute darauf, sie voneinander zu isolieren und zu distanzieren.

Seit wann das Haus brennt? Seit wann ist es niedergebrannt? Vor einem Jahrhundert, zwischen 1914 und 1918, ist in Europa etwas geschehen, das all das in die Flammen und in den Wahnsinn stieß, was ganz und lebendig geblieben schien; dreißig Jahre später loderte dann der Brand erneut überall auf und seit damals hat er nicht mehr aufgehört zu brennen, ohne Pause, kaum sichtbar unter der Asche. Aber vielleicht hat der Brand schon viel früher begonnen, als sich der blinde Drang der Menschheit zu Heil und Fortschritt mit der Macht des Feuers und der Maschinen verband.

All das ist bekannt und man muss es nicht wiederholen. Vielmehr sollten wir uns lieber fragen, wie wir weiterleben und -denken konnten, während alles brannte, was auf irgendeine Weise inmitten des Brandes oder an seinen Rändern ganz blieb. Wie gelang es uns, umgeben von Flammen zu atmen, was haben wir verloren, an welches Relikt — oder an welchen Schwindel — haben wir uns geklammert?

Und nun, da es keine Flammen mehr gibt, sondern nur noch Zahlen, Ziffern und Lügen, sind wir gewiss schwächer und einsamer, aber ohne mögliche Kompromisse, klarsichtig wie nie zuvor.

Wenn nur im brennenden Haus das grundlegende architektonische Problem sichtbar wird, dann kannst du es nun sehen, da die Sache des Westens auf dem Spiel steht, was dieser um jeden Preis zu erlangen versuchte und warum dies nur scheitern konnte.

Und als versuche die Macht um jeden Preis, das nackte Leben zu fassen zu kriegen, das sie hervorgebracht hat, und das ihr doch nur entwischen konnte, so sehr sie auch versuchte, seiner mit allen möglichen Mitteln habhaft zu werden und es zu kontrollieren, nicht mehr nur mit polizeilichen, sondern auch mit medizinischen und technologischen, kann es ihr nur entkommen, weil es per Definition unfassbar ist. Das nackte Leben regieren zu wollen, ist der Wahnsinn unserer Zeit. Auf ihre reine biologische Existenz reduzierte Menschen sind nicht mehr menschlich, die Beherrschung von Menschen und die Beherrschung von Dingen fallen zusammen.

Das andere Haus, das ich niemals werde bewohnen können, welches aber mein wahres Haus ist, das andere Leben, das ich nicht gelebt habe, während ich glaubte, es zu leben, die andere Sprache, die ich Silbe für Silbe buchstabierte, ohne je dahin zu kommen, sie sprechen zu können — so sehr mein, dass ich sie nie werde haben können …

Wenn Gedanke und Sprache sich trennen, glauben wir sprechen zu können und vergessen dabei, was man gesagt hat. Poesie und Philosophie vergessen nicht, während sie etwas sagen, was sie sagen, sie erinnern sich der Sprache. Wenn wir uns der Sprache erinnern, wenn wir nicht vergessen, dass wir sprechen können, dann sind wir freier, dann üben die Dinge und die Regeln keinen Zwang aus. Die Sprache ist kein Werkzeug, sie ist unser Antlitz, die Offenheit unseres Daseins.

Das Antlitz ist das im höchsten Maße Menschliche, der Mensch hat ein Antlitz und nicht nur eine Maul oder ein Gesicht, denn er haust in der Offenheit, denn in seinem Antlitz zeigt er sich und kommuniziert er. Deshalb ist das Antlitz der Ort der Politik. Unser unpolitisches Zeitalter möchte sein Antlitz nicht sehen, hält es auf Distanz, maskiert und bedeckt es. Es sollen keine Antlitze mehr da sein, sondern nur Zahlen und Ziffern. Auch der Tyrann ist ohne Antlitz.

Sich lebendig fühlen: berührt sein von der eigenen Empfindsamkeit, in feiner Weise der eigenen Geste ausgeliefert zu sein, ohne sie willentlich auszuführen oder vermeiden zu können. Sich lebendig zu fühlen, ermöglicht mir das Leben, selbst wenn ich in einen Käfig eingeschlossen wäre. Und nichts ist so wirklich wie diese Möglichkeit.

In den kommenden Jahren wird es nur noch Mönche und Straftäter geben. Und doch ist es nicht möglich, sich davonzustehlen, zu glauben, sich aus den Trümmern der Welt befreien zu können, die um uns herum zusammengebrochen ist. Weil der Zusammenbruch uns betrifft und angeht, sind auch wir nur einer dieser Trümmer. Und wir werden behutsam lernen müssen, sie richtig zu nutzen, ohne dass es bemerkt wird.

Altern: „Nur in den Wurzeln wachsen, nicht mehr in den Zweigen“. Sich nur mehr in die Wurzeln vertiefen, ohne Blüten oder Blätter. Oder eher wie ein betrunkener Schmetterling über das Erlebte hinwegflattern. In der Vergangenheit gab es noch Blüten und Zweige. Aus ihnen kann man immer noch Honig ziehen.

Das Antlitz ist bei Gott, doch die Knochen sind atheistisch. Draußen drängt uns alles zu Gott; im Innern der hartnäckige, spöttische Atheismus des Skeletts.

Dass die Seele und der Leib untrennbar verbunden seien — das ist geistig. Der Geist ist nicht ein Drittes zwischen der Seele und dem Leib: Er ist bloß ihr wehrloses, wunderbares Zusammentreffen. Das biologische Leben ist eine Abstraktion, und es ist diese Abstraktion, die zu herrschen und zu heilen vorgibt.

Für uns allein kann es kein Heil geben: Es gibt Heil, weil es andere gibt. Und das nicht, weil ich aus moralischen Gründen zu ihrem Wohl handeln sollte. Einzig, weil ich nicht allein bin, gibt es Heil: Ich kann mich nur als einer unter vielen retten, als anderer unter anderen. Alleine — das ist die spezifische Wahrheit der Einsamkeit — bedarf ich keines Heils, bin ich eigentlich wirklich unrettbar. Das Heil ist die Dimension, die sich eröffnet, weil ich nicht allein bin, weil es Pluralität und Vielfalt gibt.

Gott hat, indem er Fleisch wurde, aufgehört einzig zu sein; er ist ein Mensch unter vielen geworden. Deswegen musste sich das Christentum an die Geschichte binden und seinem Schicksal bis zum Ende folgen — und wenn die Geschichte, wie es heute zu geschehen scheint, zu Ende geht und verfällt, nähert sich auch das Christentum seinem Untergang. Sein unüberwindlicher Widerspruch ist, in der Geschichte und durch die Geschichte ein Heil jenseits der Geschichte zu suchen, und wenn die Geschichte endet, fehlt ihm der Grund unter den Füßen. Die Kirche war in Wahrheit nicht dem Heil verbunden, sondern der Heilsgeschichte, und da sie das Heil durch die Geschichte suchte, konnte sie nur in der Heilung enden. Und als der Moment gekommen war, hat es nicht gezögert, das Heil der Heilung zu opfern.

Das Heil muss aus seinem historischen Kontext befreit werden, eine ahistorische Pluralität finden, eine Pluralität als Ausweg aus der Geschichte.

Einen Ausweg nehmen von einem Ort aus oder aus einer Situation, ohne andere Gebiete zu betreten, eine Identität und einen Namen aufgeben, ohne andere anzunehmen.

Zur Gegenwart kann man nur zurückkehren, während man gradlinig in der Vergangenheit fortschreitet. Das, was wir vergangen nennen, ist nichts als unsere lange Rückkehr in die Gegenwart. Die Trennung von unserer Vergangenheit ist die erste Kraftressource.

Was uns von der Last befreit, ist der Atem. Im Atem haben wir kein Gewicht mehr, wir werden wie im Flug jenseits der Schwerkraft getragen.

Wir müssen von Grund auf neu zu urteilen lernen, aber mit einem Urteil, das weder straft noch belohnt, weder freispricht noch verdammt. Ein Akt ohne Zweck, der jeder immer schon ungerechten und falschen Finalität die Existenz nimmt. Nur eine Unterbrechung, nur ein Moment in der Schwebe zwischen Zeit und Ewigkeit, in welchem das Bild eines Lebens ohne Ziele und Pläne, ohne Namen oder Erinnerung aufblitzt — deswegen erlöst er nicht in der Ewigkeit, aber in einer „Art von Ewigkeit“. Ein Urteil ohne zuvor festgelegte Kriterien und genau dadurch politisch, dass es das Leben zu seiner Natürlichkeit zurückbringt.

Fühlen und sich fühlen, Empfindung und Selbstliebe gehen miteinander einher. In jeder Empfindung ist ein Fühlen des Sich-Fühlens, in jeder Empfindung seiner Selbst ein Fühlen anderer, eine Freundschaft und ein Antlitz.

Die Wirklichkeit ist der Schleier, durch den wir das Mögliche wahrnehmen, das, was wir tun können, und das, was wir nicht tun können.

Es ist nicht einfach, zu erkennen, welche unserer kindlichen Wünsche erfüllt wurden. Und vor allem, ob der Teil des Erfüllten, der an das Unerfüllbare grenzt, ausreicht, um unser Einverständnis mit dem Fortleben zu erwirken. Man hat Angst vor dem Tod, weil der Anteil unerfüllter Wünsche übermäßig gewachsen ist.

„Die Büffel und die Pferde haben vier Beine: Das ist es, was ich den Himmel nenne. Dem Pferd das Halfter anlegen, dem Büffel die Nase durchstechen: Das ist es, was ich menschlich nenne. Deshalb sage ich: Gib Acht, dass das Menschliche nicht den Himmel in dir zerstört, gib Acht, dass das Absichtsvolle nicht das Himmlische zerstört.“

Bleibt die Sprache im brennenden Haus. Nicht die Sprache, sondern die der Erinnerung unzugänglichen, prähistorischen, schwachen Kräfte, die sie bewachen und an sie erinnern, die Philosophie und die Poesie. Und was an der Sprache bewachen sie, an welchen Teil erinnern sie? Nicht diese oder jene bedeutsame Aussage, nicht diesen oder jenen Gegenstand des Glaubens oder Unglaubens. Eher an das Faktum selbst, dass es da Sprache gibt, dass wir ohne Namen im Namen offen sind und in dieser Offenheit, in einer Geste, in einem Antlitz sind wir unkenntlich und exponiert.

Die Poesie, das Wort ist das Einzige, was uns geblieben ist von damals, als wir noch nicht sprechen konnten, ein dunkler Gesang innerhalb der Sprache, ein Dialekt oder eine Sprache, die vollständig zu verstehen uns nicht gelingt, doch wir können nicht anders, als zuzuhören — auch wenn das Haus brennt, auch wenn die Menschen in ihrer brennenden Sprache fortfahren werden, Unsinn zu reden.

Aber gibt es eine Sprache der Philosophie, wie es eine Sprache der Poesie gibt? Wie die Poesie haust die Philosophie vollständig in der Sprache und nur die Art dieses Verweilens unterscheidet sie von der Poesie. Zwei Spannungen im Bereich der Sprache, die sich an einem Punkt überschneiden und sich dann unerbittlich trennen. Und wer immer ein rechtes Wort sagt, ein einfaches, frisches Wort, verbleibt in dieser Spannung.

Der, der bemerkt, dass das Haus brennt, kann den Drang empfinden, seine Mitmenschen, die es nicht zu bemerken scheinen, mit Verachtung und Geringschätzung zu betrachten. Doch wirst du nicht gerade diesen Menschen, die nicht die Lemuren (Anmerkung des Übersetzers: Geister der Verstorbenen) sehen oder bedenken, am Jüngsten Tag Rechenschaft geben müssen? Zu bemerken, dass das Haus brennt, erhebt dich nicht über die anderen: Im Gegenteil wirst du mit ihnen einen letzten Blick wechseln müssen, wenn sich die Flammen nähern. Was wirst du vorbringen können, um gegenüber diesen Menschen, so unbewusst, dass sie fast unschuldig wirken, deine anmaßendes Gewissen zu rechtfertigen?

Fahre fort, im brennenden Haus das zu tun, was du zuvor getan hast — aber du kannst nicht das übersehen, was die Flammen nackt vor dich hinstellen. Etwas hat sich verändert, nicht in dem, was du tust, aber in der Art, wie du es in der Welt geschehen lässt. Ein Gedicht, verfasst im brennenden Haus, ist gerechter und wahrer, weil niemand es wird hören können, denn nichts garantiert, dass es den Flammen entkommen wird. Aber wenn es durch einen Zufall einen Leser findet, dann wird dieser sich in keiner Weise dem Anruf entziehen können, der ihn mit dieser hilflosen, unerklärlichen, gedämpften Stimme ruft.

Die Wahrheit kann nur der sagen, der keinerlei Aussicht hat, erhört zu werden, nur der, der aus einem Haus spricht, das die Flammen um ihn herum unerbittlich zu verzehren.

Der Mensch verschwindet heute, wie ein Antlitz aus Sand am Strand weggewaschen wird. Das aber, was an seine Stelle tritt, hat keine Welt mehr, es ist nur nacktes Leben, stumm und ohne Geschichte, den Kalkülen der Macht und der Wissenschaft ausgeliefert. Vielleicht kann nur aus dieser Zerstörung eines Tages allmählich oder mit einem Mal etwas Neues erscheinen — gewiss kein Gott, aber auch kein anderer Mensch — ein neues Tier vielleicht, eine in anderer Weise lebende Seele …

Giorgio Agamben

Der ganz normale Ausnahmezustand

Einige Juristen würden offenbar alles vertreten, um nur der Selbstzerstörung der Demokratie das Wort zu reden.

Ein Jurist, den ich einmal sehr geschätzt habe, hat in einem kürzlich in einem linientreuen Journal veröffentlichten Artikel versucht, mit Argumenten, die juristisch zu sein vorgaben, den von der Regierung zum x-ten Mal erklärten Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Ohne dies zuzugeben, unterscheidet der Jurist unter Rückgriff auf Carl Schmitts Unterscheidung zwischen kommissarischer Diktatur, die das Ziel hat die geltende Verfassung zu erhalten und wiederherzustellen, und souveräner Diktatur, die ihrerseits darauf zielt, eine neue Ordnung zu etablieren, zwischen Notfall und Ausnahmefall (oder, was präziser wäre, zwischen Notstand und Ausnahmezustand).

Die Argumentation hat in Wirklichkeit keinerlei Grundlage im Recht, einfach deshalb, weil keine Verfassung ihren legitimen Umsturz vorsehen kann. Deshalb spricht Schmitt zu Recht in seinem Werk Politische Theologie, welches die berühmte Definition des Souveräns als derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheidet“, enthält, einfach vom Ausnahmezustand, ein Ausdruck, der sich in der deutschen Lehrauffassung und auch außerhalb ihrer als Terminus technicus durchgesetzt hat, um jenes Niemandsland zwischen der juristischen Ordnung und dem politischen Faktum, zwischen dem Recht und seiner Aufhebung zu beschreiben.

Der Jurist stellt im Gefolge jener ersten Schmittschen Unterscheidung fest, dass der Notfall konservativ sei, während der Ausnahmefall innovativer Natur sei. „Auf den Notfall rekurriert man, um schnellstmöglich zur Normalität zurückzukehren, auf den Ausnahmefall rekurriert man hingegen, um die Regel zu brechen und eine neue Ordnung durchzusetzen.“

Der Notstand „setzt die Stabilität eines Systems voraus“, „die Ausnahme hingegen seinen Zerfall, der einem anderen System den Weg bereitet“.

Die Unterscheidung ist allem Anschein nach politisch und soziologisch und verweist auf ein persönliches Werturteil über dden tatsächlichen Zustand des fraglichen Systems, über seine Stabilität oder seinen Zerfall und über die Absichten der Machthaber, eine Aufhebung des Rechts zu dekretieren. Dieses Urteil ist aus juristischer Sicht im Wesentlichen einerlei, weil es im einen wie im anderen Fall schlicht und ergreifend auf die Aufhebung der verfassungsmäßigen Garantien hinausläuft.

Was auch immer die mit ihm verbundenen Ziele sein mögen, die niemand sich anmaßen kann, mit Gewissheit zu kennen, der Ausnahmezustand ist in jedem Fall derselbe, und ist er einmal erklärt, ist keine Instanz vorgesehen, die die Macht hat, die Realität und Schwere der Bedingungen, die ihn verursacht haben, zu verifizieren.

Es ist kein Zufall, dass der Jurist ab einem gewissen Punkt schreiben muss: „Dass wir uns heute einer gesundheitlichen Notlage gegenübersehen, erscheint mir unzweifelhaft.“ Ein subjektives Urteil, merkwürdigerweise geäußert von jemandem, der keinerlei medizinische Autorität beanspruchen darf, und dem sich andere, gewiss kompetentere gegenüberstellen ließen, umso mehr, als jener zugibt, dass „aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft widersprüchliche Aussagen kommen“ und dass folglich derjenige darüber zu entscheiden habe, der in letzter Instanz die Macht hat, den Notstand zu erlassen.

Der Notstand im Unterschied zum Ausnahmezustand, der unbestimmte Mächte umfasst, fährt er fort, „schließt nur die Mächte ein, die auf das vorherbestimmte Ziel gerichtet sind, in die Normalität zurückzukehren“. Und doch konzediert er sofort danach, dass solche Mächte „nicht im Voraus spezifiziert werden können“. Es ist keine große juristische Bildung nötig, um einzusehen, dass hinsichtlich der Aufhebung der verfassungsmäßigen Garantien, die allein relevant sein sollte, zwischen beiden Zuständen keinerlei Unterschied besteht.

Die Argumentation des Juristen ist in doppelter Weise spitzfindig, weil jener nicht nur eine Unterscheidung als juristische präsentiert, die es nicht ist, sondern auch weil er, um den seitens der Regierung verhängten Ausnahmezustand um jeden Preis zu rechtfertigen, gezwungen ist, sich einer fakten- und meinungsbasierten Argumentationsweise zu bedienen, die seine Kompetenzen übersteigt. Und dies ist umso überraschender, als er wissen müsste, dass in dem, was für ihn nur ein Notstand ist, Rechte und verfassungsmäßige Garantien ausgesetzt und verletzt sind, die zuvor niemals in Frage gestellt worden sind, nicht einmal während der beiden Weltkriege und des Faschismus; und dass es sich nicht um eine vorübergehende Situation handelt, beteuern nachdrücklich die Regierenden, die nicht müde werden zu wiederholen, dass das Virus nicht nur nicht verschwunden ist, sondern jederzeit wieder auftauchen kann.

Und vielleicht geschieht es aus einem Rest von intellektueller Rechtschaffenheit heraus, dass der Jurist am Ende des Artikels die Ansicht derer erwähnt, die „nicht ohne gute Argumente darauf beharren, dass die gesamte Welt, sieht man einmal vom Virus ab, letztlich mehr oder weniger permanent in einem Ausnahmenzustand lebt“ und dass „das sozio-ökonomische System des Kapitalismus“ nicht in der Lage sei, seine Krisen mit dem Apparat des Rechtsstaats anzugehen.

Er gesteht ein, dass aus dieser Perspektive „die pandemische Infektion des Virus‘, die ganze Gesellschaften in Schach hält, ein Zusammentreffen und eine unvorhergesehene Gelegenheit seien, die sich ergreifen ließe, um das Volk der Unterworfenen unter Kontrolle zu halten“.

Es sei erlaubt, ihn einzuladen, mit etwas mehr Aufmerksamkeit über den Zustand der Gesellschaft nachzudenken, in der er lebt, und sich der Tatsache zu erinnern, dass Juristen nicht nur, wie dies leider nun schon seit Längerem der Fall ist, Bürokraten sind, denen die Aufgabe zufällt, das System, in dem sie leben, zu rechtfertigen.

Giorgio Agamben

Das grundlegende Gefühl

Wenn wir das Wesen der Furcht verstehen, vermeiden wir, dass andere ihre Macht auf ihr gründen.

Von der Furcht als emotionale Befindlichkeit hat Heidegger in Paragraph 30 von „Sein und Zeit“ eine exemplarische Abhandlung gegeben. Sie lässt sich nur verstehen, wenn wir nicht vergessen, dass das Dasein (das ist der Terminus, der (Anm. d. Übers.: bei Heidegger) die menschliche Existenzweise bezeichnet) immer schon in einer emotionalen Befindlichkeit vorfindlich ist, die seine ursprüngliche Weltoffenheit ausmacht.

Gerade weil in der emotionalen Situation der ursprüngliche Weltzugang zur Diskussion steht, geht sie dem Bewusstsein immer schon voraus, und letzteres kann folglich weder darüber verfügen noch glauben, sie nach seinem Belieben beherrschen zu können.

Die emotionale Befindlichkeit ist tatsächlich nicht mit irgendeinem psychischen Zustand zu verwechseln, sondern hat die ontologische Bedeutung einer Erschlossenheit, die den Menschen in seinem Dasein immer schon offen für die Welt gemacht hat und von der aus einzig Erlebnisse, Betroffenheit und Erkenntnisse möglich sind. Die „Reflexion (kann) nur deshalb ‚Erlebnisse‘ vorfinden (...), weil das Da in der Befindlichkeit schon erschlossen ist“. Sie befällt uns, aber „(s)ie kommt weder von Außen noch von Innen, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf“.

Andererseits impliziert diese Erschlossenheit nicht, dass das, gegen das hin sie öffnet, als solches erkannt wird. Im Gegenteil manifestiert sie nur eine nackte Faktizität:

„Das pure ‚dass es ist‘ zeigt sich, das Woher und Wohin bleiben im Dunkel.“

Deshalb kann Heidegger sagen, dass die Befindlichkeit das Dasein im „Geworfensein“ und „Ausgeliefertsein“ zum eigenen „Da“ hin öffne. Die Erschlossenheit, die in der Befindlichkeit vorfindlich ist, hat also die Form eines Seins, das an etwas überlassen ist, das nicht annehmbar ist und dem man — ohne Erfolg — zu entkommen versucht.

Das offenbart sich in der Verstimmung, in der Langeweile und in der Depression, die, wie jede Stimmung, das Dasein „ursprünglicher als jede Selbstwahrnehmung“ erschließen, aber auch „hartnäckiger als jedes Nicht-wahrnehmen“ verschließen. So wird „das Dasein ihm selbst gegenüber blind, die besorgte Umwelt verschleiert sich, die Umsicht des Besorgens wird missleitet“; und dennoch ist auch hier das Dasein ausgeliefert an eine Erschlossenheit, von der sie sich auf keine Weise befreien kann.

Vor dem Hintergrund dieser Ontologie der Stimmungen muss die Abhandlung über die Furcht gesehen werden. Heidegger beginnt mit der Untersuchung dreier Aspekte des Phänomens: des „Wovor“ der Furcht, des „Fürchten(s) selbst“ und des „Worum“ der Furcht. Das „Wovor“, das Objekt der Furcht, ist immer ein innerweltlich Seiendes. Das, was erschreckt ist immer — was auch seine Natur sein mag — etwas, das sich in der Welt darbietet und das als solches den Charakter des Bedrohlichen und des Abträglichen aufweist. Dies ist mehr oder minder bekannt, „mit dem es nicht ‚geheuer‘ ist“, und was auch die Entfernung sei, aus der es naht, es situiert sich in einer bestimmten Nähe.

„Das Abträgliche ist als Drohendes noch nicht in beherrschbarer Nähe, aber es naht. In solchem Herannahen strahlt die Abträglichkeit aus und hat darin den Charakter des Drohens. (…) Als Herannahendes in der Nähe aber ist das Abträgliche drohend, es kann treffen und doch nicht. Im Herannahen steigert sich dieses ‚es kann und am Ende doch nicht‘. (…) das Abträgliche als Nahendes in der Nähe trägt die enthüllte Möglichkeit des Ausbleibens und Vorbeigehens bei sich, was das Fürchten nicht mindert und auslöscht, sondern ausbildet“ (S. 140f., Anm. d. Übers.: Die Seitenzahlen gelten für die italienische Übersetzung von Heideggers „Sein und Zeit“ durch Pietro Chiodi ebenso wie für die deutschen Ausgabe aus dem Max Niemeyer Verlag).

(Dieser Charakter sozusagen einer „gewissen Ungewissheit“ der Furcht offenbart sich auch in der Definition Spinozas: eine „unbeständige Unlust“, bei der man „über den Ausgang einer Sache, die (man) hasst, zweifelt“).

Hinsichtlich des zweiten Charakteristikums der Furcht, des „Fürchten(s) selbst“ präzisiert Heidegger, dass nicht zuerst rational ein zukünftiges Übel vorhergesehen wird, das dann, in einem zweiten Schritt, gefürchtet würde: das Ding, das naht, wird vielmehr von Anfang an in seiner Furchtbarkeit entdeckt.

„Und fürchtend kann dann die Furcht sich, ausdrücklich hinsehend, das Furchtbare ‚klarmachen‘. Die Umsicht sieht das Furchtbare, weil sie in der Befindlichkeit der Furcht ist. Das Fürchten als schlummernde Möglichkeit des befindlichen In-der-Welt-seins, die ‚Furchtsamkeit‘, hat die Welt schon darauf hin erschlossen, dass aus ihr so etwas Furchtbares nahen kann“ (S. 141).

Die Furchtsamkeit als ursprüngliche Erschlossenheit des Daseins, geht stets jeder bestimmbaren Furcht voraus.

Hinsichtlich schließlich des „Worum“, des „um wen und um was“ die Furcht fürchtet, ist es immer das Seiende selbst, das sich fürchtet, das Dasein, dieser bestimmte Mensch.

„Nur Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, kann sich fürchten. Das Fürchten erschließt dieses Seiende in seiner Gefährdung, in der Überlassenheit an es selbst“ (ebenda).

Die Tatsache, dass man gelegentlich Furcht um das eigene Haus empfindet, um die eigenen Güter oder um die anderen, ist kein Einwand gegen diese Diagnose: Man kann sagen, man „fürchte“ um einen anderen, ohne deshalb wirklich zu erschrecken, und wenn wir wirklich Furcht empfinden, so um uns selbst, insofern, als wir fürchten, dass der andere uns entrissen werde.

Die Furcht ist in diesem Sinne ein fundamentaler Modus der Befindlichkeit, der den Menschen in seinem immer schon ausgesetzten und bedrohten Sein öffnet. Diese Bedrohung tritt natürlich in verschiedenem Grade und Maße auf: wenn etwas Bedrohliches, was vor uns steht mit seinem „zwar noch nicht, aber jeden Augenblick“, plötzlich auf dieses Sein hereinstürzt, wird die Furcht zu Erschrecken; wenn das Bedrohliche noch nicht bekannt ist, sondern den Charakter tiefster Fremdheit hat, wird die Furcht zu Grauen. Wenn es in sich diese beiden Aspekte vereinigt, dann wird die Furcht zu Entsetzen. Auf jeden Fall zeigen all die verschiedenen Formen dieser Gestimmtheit, dass der Mensch in seiner Weltoffenheit konstitutiv „verängstigt“ (Anm. d. Übers.: Hier unterscheidet die deutsche Sprache nicht hinreichend: Es geht um den Zustand der Furcht, nicht der Angst).

Die einzige andere Gestimmtheit, die Heidegger in „Sein und Zeit“ untersucht, ist die Angst und es ist die Angst — und nicht die Furcht —, der der Rang einer fundamentalen Gestimmtheit zugeschrieben wird. Und dennoch kann Heidegger deren Natur gerade im Verhältnis zur Furcht definieren, indem er „das, wovor die Angst sich ängstet, von dem“ unterscheidet „wovor die Furcht sich fürchtet“ (S. 186). Während die Furcht es immer mit einem Etwas zu tun hat, ist „(d)as Wovor der Angst (…) kein innerweltlich Seiendes“.

Nicht nur hat die Bedrohung, die hier entsteht, nicht den Charakter eines möglichen Schadens durch eine bedrohliche Sache, „(d)as Wovor der Angst ist“ vielmehr „völlig unbestimmt. Diese Unbestimmtheit lässt nicht nur faktisch unentschieden, welches innerweltliche Seiende droht, sondern besagt, dass überhaupt das innerweltlich Seiende nicht ‚relevant‘ ist“ (ebenda). Das „Wovor“ der Angst ist kein Seiendes, sondern die Welt als solche. Die Angst ist also die ursprüngliche Erschlossenheit der Welt als Welt (S. 187) und „nur weil die Angst latent das In-der-Welt-sein immer schon bestimmt, kann dieses als besorgend-befindliches Sein bei der ‚Welt‘ sich fürchten. Furcht ist an die ‚Welt‘ verfallene, uneigentliche und ihr selbst als solche verborgene Angst“ (S. 189).

Es ist nicht zu Unrecht angemerkt worden, dass das Primat der Angst vor der Furcht, das Heidegger konstatiert, leicht umgekehrt werden kann: anstatt die Furcht als eine verminderte und an ein Objekt verfallene Angst zu definieren, lässt sich die Angst gleichermaßen legitim als eine ihres Objekts beraubte Furcht definieren. Wenn man der Furcht ihr Objekt nimmt, verwandelt sich diese in Angst. In diesem Sinne wäre dann die Furcht die fundamentale Gestimmtheit, in welche zu fallen der Mensch schon immer in Gefahr ist. Daher ihre essentielle politische Bedeutung, die sie zu dem macht, worin die Macht, wenigstens seit Hobbes, ihr Fundament und ihre Rechtfertigung gesucht hat.

Versuchen wir, Heideggers Analyse anzuwenden und ihr zu folgen. Bedeutsam aus der Perspektive, die uns hier interessiert, ist, dass sich die Furcht immer auf ein „Ding“, auf ein innerweltlich Seiendes bezieht (im gegenwärtigen Fall, auf das kleinste aller Dinge, ein Virus). Innerweltlich bedeutet, dass es jede Beziehung zur Erschlossenheit der Welt verloren hat und faktisch und erbarmungslos existiert, ohne jede mögliche Transzendenz. Wenn die Struktur des In-der-Welt-seins für Heidegger eine Transzendenz und eine Erschlossenheit impliziert, so ist es genau diese Transzendenz, die das Dasein an die Sphäre der Dinglichkeit ausliefert. In-der-Welt-sein bedeutet tatsächlich als gleichursprünglich zwischen die Dinge zurückgestellt zu sein, welche die Erschlossenheit der Welt entdeckt und erscheinen lässt. Während das Tier, das nicht über Welt verfügt, ein Objekt nicht als Objekt wahrnehmen kann, kann der Mensch, insofern er sich der Welt öffnet, ohne Entrinnen eines Dings als Dings zugeordnet werden.

Daher die ursprüngliche Möglichkeit der Furcht: Sie ist die Gestimmtheit, die sich erschließt, wenn der den Nexus zwischen der Welt und den Dingen verlierende Mensch sich unerbittlich an das innerweltlich Seiende ausgeliefert findet und seiner Beziehung zu einem „Ding“, das bedrohlich wird, nicht auf den Grund gehen kann.

Ist seine Beziehung zur Welt einmal verloren gegangen, ist das „Ding“ an sich furchteinflößend. Die Furcht ist die Dimension, in die die Menschheit fällt, wenn sie sich als einer Dinglichkeit ohne Entrinnen verschrieben vorfindet, wie dies in der Moderne geschieht.

Das erschreckende Seiende, das „Ding“, das in den Horrorfilmen die Menschen anfällt und bedroht, ist in diesem Sinne nur eine Inkarnation dieser nicht greifbaren Dinglichkeit.

Daher auch das Ohnmachtsgefühl, das die Furcht auszeichnet. Wer Furcht empfindet, versucht sich in jeder Weise und mit jedem erdenklichen Trick vor dem Ding zu schützen, das ihn bedroht — zum Beispiel durch das Tragen einer Maske oder indem er sich zuhause einschließt —, aber das beruhigt ihn in keiner Weise, wodurch er seine Ohnmacht, sich dem „Ding“ entgegenzustellen, noch offensichtlicher und beständiger erscheinen lässt. In diesem Sinne lässt sich die Furcht als das Gegenteil des Willens zur Macht definieren: Das wesentliche Charakteristikum der Furcht ist ein Wille zur Ohnmacht, das Ohnmächtig-sein-Wollen angesichts der Sache, die Furcht einflößt.

Analog kann man sich, um sich zu beruhigen, jemandem anvertrauen, dem man eine gewisse Autorität in der Angelegenheit zutraut — zum Beispiel einem Arzt oder Zivilschutzbeamten —, doch beseitigt dies in keiner Weise das Gefühl der Unsicherheit, das die Furcht begleitet, die ja konstitutiv ein Wille zur Unsicherheit, ein Unsicher-sein-Wollen ist. Und das trifft in einem solchen Maße zu, dass die selben Menschen, die beruhigen sollten, stattdessen die Unsicherheit nähren und nicht müde werden, im Interesse der Furchterfüllten, daran zu erinnern, dass das, was Furcht einflößt, niemals ein für allemal besiegt und ausgelöscht sein kann.

Wie kann man diese fundamentale Gestimmtheit, in die der Mensch konstitutiv immer im Begriff ist zu stürzen, ergründen? Von dem Moment an, in dem die Furcht dem Bewusstsein und der Reflexion vorausgeht und sie vorherbestimmt, ist es nutzlos, den Verängstigten mit Beweisen und rationalen Argumenten überzeugen zu wollen: Die Furcht ist zuallererst die Unmöglichkeit, zu einer Schlussfolgerung zu kommen, die uns nicht diese Furcht eingeflüstert hätte.

Wie Heidegger schreibt: Die Furcht „verwirrt und macht kopflos“ (S. 141). So konnte man sehen, wie angesichts der Epidemie die Veröffentlichung von Daten und Meinungen, die gewiss aus zuverlässigen Quellen stammten, systematisch ignoriert und unterschlagen wurde,zugunsten anderer Daten und Meinungen, die sich nicht einmal als wissenschaftlich zuverlässig erwiesen.

Wegen des ursprünglichen Charakters der Furcht ließe sie sich nur ergründen, wenn es möglich wäre, Zugang zu einer gleichermaßen ursprünglichen Dimension zu erlangen. Eine solche Dimension existiert und ist die Erschlossenheit der Welt selbst, in der allein die Dinge erscheinen und uns bedrohen können.

Die Dinge werden schrecklich, weil wir ihre Mitzugehörigkeit zu der Welt vergessen, die sie transzendiert und gleichzeitig gegenwärtig macht.

Die einzige Möglichkeit, das „Ding“ von der Furcht zu scheiden, von der sie untrennbar zu sein scheint, ist, sich an die Erschlossenheit zu erinnern, in welcher sie immer schon entlarvt und enthüllt ist. Nicht die Argumentation, sondern die Erinnerung — das Erinnern unserer selbst und unseres Seins in der Welt — kann uns den Zugang zu einer Dinglichkeit frei von Furcht zurückgeben. Das „Ding“, das mir Furcht einflößt, ist, insofern es für den Blick sichtbar ist, wie all die anderen innerweltlich Seienden — wie dieser Baum, dieser Bach, dieser Mensch — erschlossen in seiner reinen Existenz. Nur weil ich in der Welt bin, können die Dinge mir erscheinen und mir schließlich Furcht einflößen. Sie sind Teil meines In-der-Welt-seins und dies — und nicht eine abstrakt getrennte und zu Unrecht zur Herrscherin erhobene Dinglichkeit — diktiert die ethischen und politischen Regeln meines Handelns.

Gewiss, der Baum kann brechen und auf mich fallen, der Bach kann über die Ufer treten und das Dorf überfluten und dieser Mensch kann mich unversehens schlagen: wenn diese Möglichkeit sich plötzlich realisiert, legt eine gerechtfertigte Furcht die angemessenen Maßnahmen nahe, ohne der Panik zu verfallen und den Kopf zu verlieren und dadurch zuzulassen, dass andere ihre Macht auf meiner Furcht gründen und, indem sie die Notlage in eine stabile Normalität verwandeln, willkürlich entscheiden, was ich tun kann und was nicht, und die Regeln, die meine Freiheit garantierten, auslöschen.

Giorgio Agamben

Zwei schändliche Vokabeln

Die Bezeichnungen „Leugner“ und „Verschwörungstheoretiker“ dienen einzig der Polemik gegen Kritiker der momentanen Notstandspolitik.

In den Polemiken während des Gesundheitsnotstands sind zwei schändliche Vokabeln aufgekommen, die allem Anschein nach einzig dem Ziel dienten, diejenigen zu diskreditieren, die angesichts der Angst, die die Geister gelähmt hatte, weiterhin darauf beharrten zu denken: „Leugner“ und „Verschwörungstheoretiker“.

Über die erste lohnt es nicht, viele Worte zu verlieren, insofern, als sie in unverantwortlicher Weise die Judenvernichtung und die Epidemie auf eine Ebene stellt.

Wer sie benutzt, beweist damit, bewusst oder unbewusst diesem Antisemitismus anzuhängen, der gegenwärtig sowohl im rechten als im linken Lager in unserer Kultur so verbreitet ist. Wie zu Recht gekränkte jüdische Freunde vorschlagen, wären es angemessen, dass sich die jüdische Gemeinschaft zu diesem unwürdigen terminologischen Missbrauch äußerte.

Hingegen lohnt es sich, beim zweiten Begriff zu verweilen, der von einer wirklich überraschenden Unkenntnis der Geschichte zeugt. Wer mit der Forschungstätigkeit der Historiker vertraut ist, weiß sehr wohl, dass die Ereignisse, die diese rekonstruieren und erzählen, notwendigerweise die Frucht geplanter und sehr oft konzertierter Aktionen von Individuen, Gruppen und Parteien sind, die mit allen Mitteln ihre Ziele verfolgen.

  • Drei Beispiele unter Tausenden anderen Möglichkeiten, von denen jedes das Ende einer Epoche markiert und den Beginn einer neuen historischen Periode eingeläutet hat: Im Jahr 415 vor Christus setzt Alkibiades sein Ansehen, seine Reichtümer und jede erdenkliche List ein, um die Athener zu überzeugen, eine Expedition nach Sizilien zu unternehmen, welche sich später als desaströs erweisen und mit dem Ende der Macht Athens einhergehen soll. Seine Feinde nutzen ihrerseits die Verstümmelung der Hermesstatuen, die sich ein paar Tage vor dem Aufbruch der Expedition ereignet hatte, heuern falsche Zeugen an und verschwören sich gegen ihn, damit er wegen Gottlosigkeit zum Tode verurteilt werde.
  • Am 18. Brumaire (9. November) 1799 stürzt Napoleon Bonaparte — der doch seine Treue zur Verfassung der Republik erklärt hat — mittels eines Staatsstreichs das Direktorium und lässt sich zum Ersten Konsul mit allen Befugnissen erklären, womit er der Revolution ein Ende setzt. In den vorangehenden Tagen hatte sich Napoleon mit Josef Emmanuel Sieyès, Joseph Fouché und Luciano Bonaparte getroffen, um die Strategie zu planen, die es erlaubt hätte, die erwartete Opposition des Rats der Fünfhundert zu überwinden.
  • Am 28. Oktober 1922 findet der Marsch auf Rom von etwa 25.000 Faschisten statt. In den Monaten, die dem Ereignis vorausgehen, nimmt Benito Mussolini, der es mit den zukünftigen Triumviren Cesare Maria De Vecchi, Emilio De Bono und Michele Bianchi vorbereitet hat, Kontakt zu Luigi Facta, dem Präsidenten des Ministerrats, zu Gabriele D’Annunzio und zu Vertretern der Geschäftswelt auf — einigen zufolge habe er sich sogar heimlich mit dem König getroffen —, um mögliche Allianzen und eventuelle Reaktionen auszuloten. Als eine Art Generalprobe besetzen die Faschisten am 2. August militärisch Ancona.

Bei allen drei Ereignissen haben zu Gruppen oder Parteien zusammengeschlossene Individuen mit Entschlossenheit agiert, um die Ziele zu realisieren, die sie sich gesetzt hatten, wobei sie sich von Angesicht zu Angesicht mit mehr oder weniger vorhersehbaren Ereignissen maßen und die eigene Strategie an diese anpassten. Gewiss hatte — wie bei allen menschlichen Unternehmungen — der Zufall seinen Anteil. Aber die menschliche Geschichte mit dem Zufall erklären zu wollen, entbehrt jeden Sinn — und kein ernsthafter Historiker hat es je getan.

Es ist nicht notwendig, deswegen von einer „Verschwörung“ zu sprechen, aber es ist gewiss, dass derjenige, der die Historiker als Verschwörungstheoretiker bezeichnete, die versucht haben, die zugrunde liegenden Plots und deren Durchführungen im Detail zu rekonstruieren, einen Beweis seiner Unwissenheit, wenn nicht gar Idiotie lieferte.

Deshalb ist es umso verblüffender, dass man darauf beharrt, es zu tun, in einem Land wie Italien, dessen jüngere Geschichte in einem solchen Maße das Produkt von Intrigen und geheimen Gesellschaften, Manövern und Verschwörungen aller Arten ist, dass es den Historikern nicht gelingt, vielen entscheidenden Ereignissen der vergangenen fünfzig Jahre von den Bomben auf der Piazza Fontana bis zum Fall Aldo Moro auf die Schliche zu kommen. Das ist einem solchen Maße wahr, dass selbst Francesco Cossiga als Präsident der Republik seinerzeit erklärt hat, aktiv an einer dieser Geheimgesellschaften, bekannt unter dem Namen Gladio, mitgewirkt zu haben.

Was die Pandemie angeht, zeigen Untersuchungen, dass sie gewiss nicht unerwartet gekommen ist. Wie das Buch Tempêtes microbiennes von Patrick Zylberman (1) überzeugend dokumentiert, hatte die Weltgesundheitsorganisation schon 2005 anlässlich der Vogelgrippe ein Szenario wie das gegenwärtige als einen Weg für Regierungen vorgeschlagen, sich des bedingungslosen Rückhalts der Bevölkerung zu versichern.

Bill Gates, der der wichtigste Finanzier dieser Organisation ist, hat bei mehreren Gelegenheiten seine Gedanken zu den Risiken einer Pandemie dargelegt, die gemäß seinen Voraussagen Millionen von Toten brächte und gegen die man sich wappnen müsste. So hat im Jahr 2019 das amerikanische Johns-Hopkins-Zentrum im Rahmen eines von der Bill and Melinda Gates Foundation finanzierten Forschungsprojekts eine „Event 201“ genannte Simulationsübung der Coronapandemie organisiert, die Experten und Epidemiologen zusammenbrachte, um eine koordinierte Reaktion für den Fall des Erscheinens eines neuen Virus vorzubereiten.

Wie stets in der Geschichte gibt es auch in diesem Fall Menschen und Organisationen, die ihre rechtmäßigen und unrechtmäßigen Ziele verfolgen, und sie mit allen Mitteln zu realisieren versuchen, und es ist wichtig, dass derjenige, der verstehen will, was geschieht, sie kennt und gedanklich berücksichtigt.

Von einer Verschwörung zu sprechen fügt der faktischen Realität daher nichts hinzu. Aber diejenigen als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen, die versuchen, die historischen Ereignisse als das zu erkennen, was sie sind, ist schlechterdings infam.

Giorgio Agamben

Die Demokratie-Dämmerung

Der Welt droht eine Ära des technikgestützten Despotismus.

Erleben wir in dieser Zwangseinsperrung einen neuen Totalitarismus?

Giorgio Agamben: In vielen Lagern wird gegenwärtig die Hypothese formuliert, dass wir tatsächlich das Ende einer Welt erleben, derjenigen der auf Rechten, Parlamenten und Gewaltenteilung beruhenden bürgerlichen Demokratien, die einer neuen Despotie Platz macht, welche hinsichtlich der Zudringlichkeit der Kontrollen und der Unterbindung jeglicher politischer Tätigkeit schlimmer sein wird als die Totalitarismen, die wir bisher kennengelernt haben. Amerikanische Politologen sprechen vom Security State, einem Staat also, in dem „aus Sicherheitsgründen“ die individuellen Freiheiten in jedweder Weise beschränkt werden können, in diesem Fall aus Gründen „der öffentlichen Gesundheit“ — ein Begriff, der die berüchtigten „Comités de salut public“ (Anm. d. Übers: Wohlfahrtsausschüsse zur Zeit der französischen Revolution) während des Terrors ins Gedächtnis ruft.

Im Übrigen sind wir in Italien seit Langem an die Gesetzgebung durch Notverordnungen seitens der Exekutive gewöhnt, die sich auf diesem Wege an die Stelle der Legislative setzt und das Prinzip der Gewaltenteilung als Grundlage der Demokratie faktisch abschafft.

Und die mittels Videokameras und nun, wie vorgeschlagen wurde, durch Mobiltelefone ausgeübte Kontrolle übersteigt bei Weitem jede Form von Kontrolle, die unter totalitären Regimes wie dem Faschismus oder dem Nationalsozialismus ausgeübt wurde.

Hinsichtlich der Daten sollte, neben jenen Daten, die über Mobiltelefone gesammelt werden, auch eine Reflexion über diejenigen stattfinden, die auf zahlreichen Pressekonferenzen verbreitet und allzu oft unvollständig oder falsch interpretiert wurden.

Dies ist ein wichtiger Punkt, denn er rührt an die Wurzel des Phänomens. Jeder, der sich ein wenig mit der Erkenntnistheorie auskennt, kommt nicht umhin, sich zu wundern, dass die Medien in all diesen Monaten Zahlen bar jeden Kriteriums der Wissenschaftlichkeit verbreitet haben, nicht nur, ohne sie in Relation zur jährlichen Sterblichkeit im gleichen Zeitraum zu stellen, sondern sogar ohne präzise Angabe der Todesursache. Als jemand, der weder Virologe noch Arzt ist, werde ich mich darauf beschränken, einfach zuverlässige offizielle Quellen zu zitieren. 21.000 Todesopfer durch Covid-19 scheinen und sind sicherlich eine eindrucksvolle Zahl.

Setzt man die Dinge allerdings, wie man es tun muss, in Relation zu den jährlichen statistischen Daten, so sehen sie ganz anders aus. ISTAT-Präsident Dr. Gian Carlo Blangiardo gab vor ein paar Wochen die Gesamtmortalität des vergangenen Jahres bekannt: 647.000 Todesfälle (1.772 Todesfälle pro Tag). Analysieren wir die Ursachen im Detail, ergibt sich, dass gemäß den neuesten verfügbaren Daten für 2017 230.000 Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 180.000 Todesfälle durch Krebs und mindestens 53.000 Todesfälle durch Atemwegserkrankungen verzeichnet sind. Ein Punkt aber ist besonders wichtig und betrifft uns unmittelbar.

Welcher?

Ich zitiere Dr. Blangiardos Worte:

„Im März 2019 gab es 15.189 Todesfälle aufgrund von Atemwegserkrankungen und im Jahr zuvor waren es 16.220. Übrigens ist dies mehr als die entsprechende Zahl der Todesfälle durch Covid (12.352), die im März 2020 gemeldet wurde.“

Aber wenn dies zutrifft — und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln —, müssen wir uns, ohne die Bedeutung der Epidemie herunterspielen zu wollen, die Frage stellen, ob dies Maßnahmen zur Einschränkung der Freiheit, wie sie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes ergriffen wurden, nicht einmal während der beiden Weltkriege, rechtfertigen kann. Es besteht der berechtigte Verdacht, dass der Bevölkerung durch die Verbreitung von Panik und die Isolierung der Menschen in ihren Häusern die sehr ernste Verantwortung der Regierungen, die zuerst den nationalen Gesundheitsdienst abgebaut und dann in der Lombardei eine Reihe nicht minder schwerwiegender Fehler im Umgang mit der Epidemie begangen hatten, aufgebürdet wird.

Tatsächlich boten sogar die Wissenschaftler kein gutes Bild. Es scheint, dass sie nicht in der Lage waren, die von ihnen erwarteten Antworten zu geben. Wie denken Sie darüber?

Es ist immer gefährlich, Ärzte und Wissenschaftler mit Entscheidungen zu betrauen, die letzten Endes ethischer und politischer Natur sind.

Sehen Sie, Wissenschaftler handeln, ob zu Recht oder zu Unrecht, in gutem Glauben gemäß ihren eigenen Beweggründen, die mit dem Interesse der Wissenschaft übereinstimmen und in deren Namen sie — dies beweist die Geschichte zur Genüge — bereit sind, jegliche moralische Skrupel zu opfern. Ich brauche nicht daran zu erinnern, dass unter den Nazis hoch renommierte Wissenschaftler die Politik der Eugenik leiteten und nicht zögerten, die Konzentrationslager zu benutzen, um tödliche Experimente durchzuführen, die sie als für den Fortschritt der Wissenschaft und die Behandlung deutscher Soldaten nützlich erachteten.

Im vorliegenden Fall ist das Spektakel besonders beunruhigend, denn in Wirklichkeit herrscht, auch wenn die Medien dies verbergen, keine Einigkeit unter den Wissenschaftlern, und einige der berühmtesten unter ihnen haben abweichende Ansichten über die Ernsthaftigkeit der Epidemie und die Effektivität der Isolationsmaßnahmen, wie der vielleicht bedeutendste französische Virologe Didier Raoult, der sie in einem Interview als mittelalterlichen Aberglauben bezeichnete. An anderer Stelle schrieb ich, die Wissenschaft sei zur Religion unserer Zeit geworden. Die Analogie zur Religion ist wörtlich zu verstehen: Theologen erklärten, sie seien nicht in der Lage, klar zu definieren, was Gott ist, und doch diktierten sie den Menschen in seinem Namen Verhaltensregeln und schreckten nicht davor zurück, Ketzer zu verbrennen; Virologen geben zu, dass sie nicht genau wissen, was ein Virus ist, aber in seinem Namen beanspruchen sie entscheiden zu können, wie Menschen leben sollen.

Man sagt uns — wie es in der Vergangenheit schon oft geschah —, dass nichts mehr so sein werde, wie es einmal war, und dass sich unser Leben ändern müsse. Was glauben Sie wird geschehen?

Ich habe bereits versucht, die Form des Despotismus darzustellen, mit der wir rechnen müssen und gegen die wir nicht müde werden dürfen, wachsam zu sein. Aber wenn wir einmal den Bereich des Aktuellen verlassen und versuchen, die Dinge unter dem Gesichtspunkt des Schicksals der menschlichen Spezies auf der Erde zu betrachten, kommen mir die Gedanken des großen niederländischen Wissenschaftlers Louis Bolk in den Sinn. Bolk zufolge charakterisiert die menschliche Spezies eine fortschreitende Hemmung vitaler natürlicher Anpassungsprozesse an die Umwelt, die durch ein hypertrophes Anwachsen technologischer Dispositive ersetzt werden, die die Umwelt ihrerseits an den Menschen anpassen.

Überschreitet dieser Prozess eine bestimmte Grenze, so gelangt er an einen Punkt, an dem er kontraproduktiv wird und zur Selbstzerstörung der Spezies führt. Phänomene wie die, die wir erleben, scheinen mir darauf zu deuten, dass dieser Punkt erreicht ist und dass die Medizin, die bestimmt war, unsere Krankheiten zu kurieren, Gefahr läuft, ein noch größeres Übel zu produzieren. Auch gegen dieses Risiko müssen wir uns mit allen Mitteln wehren.

Giorgio Agamben

Die Wahrheitsfälscher

Eines der wichtigsten Menschenrechte, das in der Corona-Krise verletzt wird, ist das Recht auf wahrheitsgemäße Information.

Erwartungsgemäß bestätigt Phase 2 (Anm. d. Übers.: des italienischen Exitplans) per Ministerialerlass mehr oder minder die bestehenden Einschränkungen der nur auf Basis eines Gesetzes einzuschränkenden verfassungsmäßigen Freiheiten. Aber nicht weniger wichtig ist die Einschränkung eines Menschenrechts, das in keiner Verfassung ratifiziert ist: das Recht auf die Wahrheit, das Bedürfnis nach einem wahren Wort.

Was wir erleben, ist, mehr noch als eine beispiellose Manipulation der Freiheiten eines Jeden, tatsächlich eine gigantische Operation der Verfälschung der Wahrheit. Wenn die Menschen zustimmen, ihre persönliche Freiheit zu begrenzen, dann tatsächlich deshalb, weil sie ohne jegliche Überprüfung die von den Medien gelieferten Daten und Meinungen akzeptieren. Die Werbung hat uns lange Zeit an Vorträge gewöhnt, die umso effektiver waren, je weniger sie auch nur vorgaben, wahr zu sein. Und seit langem wird sogar ein politischer Konsens angeboten, der ohne tiefe Überzeugungen auskommt, in gewisser Weise wohl annehmend, dass die Wahrheit in Wahlreden nicht zur Diskussion stehe.

Was sich jetzt vor unseren Augen ereignet, ist jedoch etwas Neues, und sei der Grund auch nur, dass bei der Frage nach Wahrheit oder Falschheit des passiv akzeptierten Diskurses unsere Lebensweise, unser gesamtes, alltägliches Dasein auf dem Spiel steht. Aus diesem Grund wäre es dringend erforderlich, dass jeder versuchte, das, was ihm zur Prüfung vorgelegt wird, zumindest einer elementaren Überprüfung zu unterziehen.

Ich bin nicht der Einzige, der angemerkt hat, dass uns die Daten über die Epidemie in unbestimmter Form und ohne irgendein Kriterium von Wissenschaftlichkeit präsentiert werden.

Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist es beispielsweise offensichtlich, dass die Angabe einer Zahl der Verstorbenen ohne Bezug zur jährlichen Sterblichkeit im selben Zeitraum und ohne Angabe der tatsächlichen Todesursache bedeutungslos ist.

Und doch wird genau das weiterhin Tag für Tag getan, ohne dass es jemandem aufzufallen scheint. Dies ist umso überraschender, als die Daten, die eine Überprüfung ermöglichen, jedem zur Verfügung stehen, der darauf zugreifen möchte, und ich habe in dieser Rubrik bereits den Bericht des Präsidenten des ISTAT (Anm. d. Übers.: des nationalen Statistikinstituts Italiens) Gian Carlo Blangiardo erwähnt, aus dem hervorgeht, dass die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 niedriger ist als die Zahl der Todesfälle aufgrund von Atemwegserkrankungen in den beiden vorangegangenen Jahren. So eindeutig er auch sein mag, es ist doch, als ob dieser Bericht nicht existierte, ebenso wenig wie die Tatsache Berücksichtigung findet, dass auch derjenige testpositive Patient, der an einem Herzinfarkt oder einer anderen Ursache gestorben ist, als Covid-19-Toter gilt. Warum glaubt man entgegen dokumentierter Unwahrheit weiter?

Man könnte meinen, dass die Lüge für wahr gehalten wird, weil sie sich, wie die Werbung, nicht bemüht, ihre Falschheit zu verbergen. Wie es schon beim Ersten Weltkrieg der Fall war, kann der Krieg gegen das Virus nur trügerisch motiviert sein.

Die Menschheit tritt in eine Phase ihrer Geschichte ein, in der die Wahrheit auf einen Moment in der Bewegung des Falschen reduziert wird. Wahr ist diejenige falsche Rede, die für wahr gehalten werden muss, auch wenn ihre Nichtwahrheit bewiesen ist.

Aber auf diese Weise wird die Sprache der Menschen als Ort der Manifestation der Wahrheit höchstselbst konfisziert. Sie können jetzt nur noch stumm die Bewegung der Lüge — die wahr, weil real ist — beobachten. Daher muss jeder, um diese Bewegung zu stoppen, den Mut haben, kompromisslos nach dem wertvollsten Gut zu streben: einem wahren Wort.
Giorgio Agamben.

Medizin als Religion

Die moderne kapitalistische Gesellschaft gibt sich aufgeklärt und rational — und erhebt doch die Medizin zur neuen Religion.

Dass die Wissenschaft die Religion unserer Zeit geworden ist, das, woran die Menschen zu glauben glauben, ist nun schon länger unübersehbar. Im modernen Westen koexistierten und koexistieren in gewissem Maßen noch immer drei große Glaubenssysteme: das Christentum, der Kapitalismus und die Wissenschaft. In der Geschichte der Moderne haben diese drei „Religionen“ unweigerlich mehrfach ihre Wege gekreuzt, sind von Zeit zu Zeit aneinandergeraten und haben sich dann auf verschiedene Weise miteinander versöhnt, bis sie zusehends eine Art friedlicher, artikulierter Koexistenz erreichten, wenn nicht gar eine echte Zusammenarbeit im Namen des gemeinsamen Interesses.

Neu ist, dass zwischen der Wissenschaft und den beiden anderen Religionen, von uns unbemerkt, im Untergrund ein unbarmherziger Konflikt neu entbrannt ist, dessen für die Wissenschaft siegreicher Ausgang für uns heute offen zutage tritt und in beispielloser Weise alle Aspekte unseres Daseins bestimmt.

In diesem Konflikt geht es, anders als in der Vergangenheit, nicht um Theorie und allgemeine Prinzipien, sondern, um es so auszudrücken, um die kulturelle Praxis.

Auch die Wissenschaft, genau wie jede Religion, kennt in der Tat verschiedene Formen und Ebenen, mittels derer sie ihre eigene Struktur organisiert und ordnet: Der Ausarbeitung eines subtilen und rigorosen Dogmas korrespondiert in der Praxis eine äußerst weite und kapillare kultische Sphäre, die mit dem zusammenfällt, was wir Technologie nennen. Es überrascht nicht, dass jener Teil der Wissenschaft der Protagonist dieses neuen Religionskrieges ist, in dem die Dogmatik nicht so streng und der pragmatische Aspekt stärker ist: die Medizin, deren unmittelbarer Gegenstand der lebende Körper des Menschen ist. Versuchen wir, die Wesensmerkmale dieses siegreichen Glaubens zu umreißen, mit dem wir in wachsendem Maße zu rechnen haben werden.

1. Merkmal

Das erste Merkmal ist, dass die Medizin, wie der Kapitalismus, keine spezielle Dogmatik benötigt, sondern sich damit begnügt, ihre fundamentalen Konzepte der Biologie zu entlehnen. Anders als die Biologie artikuliert sie diese Konzepte jedoch in einem gnostisch-manichäischen Sinn, das heißt nach einer verärgerten dualistischen Opposition. Es gibt einen boshaften Gott oder ein bösartiges Prinzip, die Krankheit nämlich, deren spezifische Akteure die Bakterien und die Viren sind, und einen segensreichen Gott oder ein segensreiches Prinzip, nicht die Gesundheit, sondern die Heilung, deren kultische Akteure die Ärzte und die Therapie sind.

Wie in jedem gnostischen Glauben sind die beiden Prinzipien deutlich voneinander geschieden, aber in der Praxis können sie verunreinigt werden, und das segensreiche Prinzip und der es repräsentierende Arzt können sich irren und unbewusst mit ihrem Feind zusammenarbeiten, ohne dass dies in irgendeiner Weise die Realität des Dualismus und die Notwendigkeit des Kults aufhebt, durch den das segensreiche Prinzip seine Schlacht schlägt. Und es ist bedeutsam, dass die Theologen, die die Strategie festzulegen haben, mit der Virologie die Vertreter einer Wissenschaft sind, die keinen eigenen Platz hat, sondern auf der Grenze zwischen Biologie und Medizin verortet ist.

2. Merkmal

Während diese kultische Praxis bislang, wie jede Liturgie, episodisch und zeitlich begrenzt war, ist das unerwartete Phänomen, dessen Zeuge wir sind, dass sie zu einer dauerhaften geworden ist und alles durchdringend.

Es genügt nicht mehr, Medikamente einzunehmen oder sich, falls nötig, einer ärztlichen Visite oder Operation zu unterziehen: Das gesamte Leben der Menschen muss in jedem Moment Ort einer ununterbrochenen kultischen Feier werden.

Der Feind, das Virus, ist stets zugegen und muss unaufhörlich und ohne möglichen Friedensschluss bekämpft werden. Auch in der christlichen Religion kennt man vergleichbare totalitäre Tendenzen, aber diese betrafen nur wenige Personen — besonders Mönche —, die wählten, ihre gesamte Existenz dem „unaufhörlichen Gebet“ zu widmen. Die Medizin als Religion greift dieses paulinische Gebot auf und kehrt es gleichzeitig in sein Gegenteil um: Wo sich Mönche früher in Klöstern versammelten, um gemeinsam zu beten, muss der Gottesdienst nun gewissenhaft, aber getrennt und auf Distanz praktiziert werden.

3. Merkmal

Die kultische Praxis ist nicht mehr frei und freiwillig, nur der Sanktionierung durch geistliche Anordnung unterworfen, sondern muss normativ in eine Pflicht verwandelt werden. Die geheime Zusammenarbeit von Religion und weltlicher Macht ist sicher nicht neu; neu ist aber, dass es nicht mehr, wie bei den Ketzereien, um das Bekenntnis zu Dogmen geht, sondern ausschließlich um die Feier des Gottesdienstes. Die weltliche Macht muss darüber wachen, dass die Liturgie der Gesundheitsreligion, die jetzt das ganze Leben umfasst, in der Praxis haargenau eingehalten wird. Es ist unmittelbar evident, dass es sich hier um eine kultische Praxis und nicht um eine rationale wissenschaftliche Forderung handelt.

Die mit großem Abstand häufigste Todesursache in unserem Land stellen Herz-Kreislauf-Erkrankungen dar, und es ist bekannt, dass sich diese reduzieren ließen, wenn man ein gesünderes Leben führte und eine bestimmte Ernährungsweise einhielte. Aber keinem Arzt ist je in den Sinn gekommen, dass diese, den Patienten empfohlene Lebens- und Ernährungsweise Gegenstand einer, das gesamte Dasein unter einen Gesundheitszwang stellenden gesetzlichen Normierung werden sollte, die ex lege dekretiert, was man zu essen und wie man zu leben habe. Genau dies hat man aber gemacht, und wenigstens im Augenblick haben die Menschen dies akzeptiert, als wäre es offensichtlich, dass sie ihre Freizügigkeit, ihre Arbeit, ihre Freundschaften, ihre Liebschaften, ihre sozialen Beziehungen, ihre religiösen und politischen Überzeugungen aufgeben müssten.

Hier zeichnet sich ab, in welchem Maße die beiden anderen Religionen des Westens, die Religion Christi und die Religion des Geldes, anscheinend kampflos ihren Primat an Medizin und Wissenschaft abgetreten haben. Die Kirche hat ihre Prinzipien schlicht und einfach verleugnet und sie hat vergessen, dass der Heilige, dessen Namen der gegenwärtige Pontifex für sich gewählt hat, Leprakranke umarmte, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin bestand, die Kranken zu besuchen, dass sich die Sakramente nur spenden lassen, wenn man anwesend ist. Der Kapitalismus seinerseits nahm, wenn auch unter einigem Protest, Produktivitätseinbußen hin, die er nie zuvor zu verantworten gewagt hatte, wohl in der Hoffnung, sich zu einem späteren Zeitpunkt mit der neuen Religion, die in diesem Punkt verhandlungsbereit zu sein scheint, zu einigen.

4. Merkmal

Die medizinische Religion hat die eschatologische Instanz des Christentums, die dieses fallen gelassen hat, ohne Vorbehalte wieder aufgelesen. Bereits der Kapitalismus, der das theologische Paradigma einer Erlösung ins Weltliche verlagerte, hatte die Idee einer Endzeit eliminiert und durch einen permanenten Krisenzustand ohne Erlösung oder Ende ersetzt. Krisis ist vom Ursprung her ein medizinisches Konzept, das im hippokratischen Korpus den Moment bezeichnete, in dem sich für den Arzt entschied, ob der Patient seine Krankheit überleben würde. Theologen haben sich des Begriffes bedient, um auf das Jüngste Gericht zu verweisen, das am letzten Tag gehalten werde.

Beobachtet man den Ausnahmezustand, den wir durchleben, kommt man zu dem Schluss, dass die medizinische Religion die permanente Krise des Kapitalismus mit der christlichen Endzeitvorstellung verbindet, der Vorstellung eines Eschaton, in dem sich ständig extreme Entscheidungen vollziehen und das Ende, im unaufhörlichen Kampf es unter Kontrolle zu bringen, sowohl beschleunigt als auch verzögert wird, ohne jedoch jemals zu einer endgültigen Lösung zu gelangen.

Es ist die Religion einer Welt, die das nahende Ende spürt und doch, wie der hippokratische Arzt, nicht in der Lage ist zu entscheiden, ob sie überleben oder sterben wird.

5. Merkmal

Genau wie der Kapitalismus und im Unterschied zum Christentum nährt die medizinische Religion keine Rettungs- und Erlösungshoffnung. Im Gegenteil kann die ersehnte Heilung nur eine provisorische sein, da das Virus, dieser boshafte Gott, sich nicht ein für allemal beseitigt lässt; es mutiert kontinuierlich und nimmt neue, mutmaßlich gefährlichere Formen an. Epidemie ist, wie die Etymologie des Begriffs nahelegt (demos meint im Griechischen das Volk als politischen Körper und polemos epidemios ist bei Homer der Name des Bürgerkriegs), vor allem einmal ein politischer Begriff, der sich anschickt, zum neuen Austragungsort von Weltpolitik — oder Nichtpolitik — zu werden.

So ist möglicherweise die Epidemie, die wir erleben, die Verwirklichung eines weltweiten Bürgerkriegs, der nach Meinung der aufmerksamsten unter den Politologen an die Stelle traditioneller Weltkriege getreten ist. Alle Nationen und alle Völker liegen nun im andauernden Krieg mit sich selbst, denn der unsichtbare und unfassbare Feind, gegen den sie ankämpfen, befindet sich in unserem Innern.

Wie im Verlaufe der Geschichte schon so oft, werden die Philosophen in neuerlichen Konflikt mit der Religion treten müssen, die nun nicht mehr das Christentum ist, sondern die Wissenschaft oder jener ihrer Teile, der die Form einer Religion angenommen hat.

Ich weiß nicht, ob man wieder Scheiterhaufen entfachen und Bücher auf den Index setzen wird, aber gewiss wird das Denken derer, die weiterhin nach der Wahrheit suchen und die vorherrschende Lüge ablehnen, ausgeschlossen und der Verbreitung von Fake News angeklagt werden (News, nicht Ideen, denn die Nachrichten sind wichtiger als die Realität!), wie dies ja bereits geschieht. Wie in allen Notlagen, seien sie real oder simuliert, werden wir auch diesmal wieder ignorante Menschen Philosophen verleumden sehen und Schurken, die versuchen, Profit aus dem, von ihnen selbst verursachten Unglück zu schlagen. Das alles ist bereits geschehen und wird auch weiterhin geschehen, aber diejenigen, die Zeugnis für die Wahrheit ablegen, werden nicht aufhören, dies zu tun, denn niemand kann Zeugnis für den Zeugen ablegen.
Giorgio Agamben

Die Volksgefährder

Das Feindbild des leichtsinnigen Krankheitsverbreiters wurde bereits im 16. Jahrhundert etabliert.

Eine der unmenschlichsten Konsequenzen der Panik, die man in Italien anlässlich der so genannten Coronavirus-Epidemie mit allen Mitteln zu fördern sucht, liegt in der Idee der Ansteckung selbst, die die Basis der von der Regierung beschlossenen außerordentlichen Notfallmaßnahmen bildet. Der erste unbewusste Vorläufer dieser, der hippokratischen Medizin noch fremden Idee erschien während der Pestepidemien, die zwischen 1500 und 1600 einige italienische Städte verwüsteten. Es ist die Gestalt des mutwilligen Pestverbreiters, die Manzoni sowohl in seinem Roman als auch in seinem Essay über die „Geschichte der Schandsäule“ verewigt hat. Ein Mailänder „Erlass“ für die Pest von 1576 beschreibt diese Menschen folgendermaßen und fordert die Bürger auf, sie anzuzeigen:

„Nachdem der Gouverneur Kenntnis davon erhalten hat, dass einige Personen mit geringer Neigung zur Nächstenliebe, um Angst und Schrecken über die Menschen und die Bewohner Mailands zu bringen und sie zu einem gewissen Aufruhr zu erregen, die Pforten und Riegel der Häuser und die Straßenecken der Viertel dieser Stadt und andere Orte im Staate mit Salben beschmieren, die pestbringend und ansteckend sein sollen, mit der Behauptung, die Pest ins Private und ins Öffentliche zu tragen, was viele Unannehmlichkeiten und keine geringe Erregung unter den Menschen zeitigt, großteils bei denjenigen, die derartiges leicht glauben, gibt er seinerseits jeder Person, gleich welcher Begabung, welchen Standes, Grades und Zustandes, zu verstehen, dass man ihr, wenn sie innerhalb von vierzig Tagen die Person oder Personen offenlegt, die eine solche Frechheit begünstigt, unterstützt oder davon gewusst haben, fünfhundert Scuti geben wird.“

Wichtige Unterschiede zugestanden verwandeln doch die jüngsten Bestimmungen (von der Regierung als Dekrete erlassen, von denen wir gerne hoffen würden — aber das ist illusorisch —, dass sie das Parlament nicht innerhalb der gesetzten Fristen als Gesetze bestätigt) jeden Einzelnen in einen potenziellen Pestverbreiter, so wie die Bestimmungen zum Terrorismus in jedem Bürger de facto und de iure den potentiellen Terroristen sehen.

Die Analogie ist so offenkundig, dass der potenzielle Pestverbreiter, der sich nicht an die Vorschriften hält, mit Gefängnis bestraft wird.

Besonders unbeliebt ist die Figur des gesunden oder frühen Infizierten, der eine Vielzahl von Individuen infiziert, ohne dass man sich gegen ihn wehren könnte, wie man sich gegen den Pestverbreiter wehren konnte. Noch trauriger als die den Vorschriften impliziten Freiheitsbeschränkungen ist meines Erachtens der durch sie bewirkte Verfall der zwischenmenschlichen Beziehungen. Man darf sich dem anderen Menschen, gleich wem, selbst einem geliebten Mensch, nicht nähern oder ihn berühren, und so müssen wir zwischen uns und ihm Abstand wahren; einige sagen, er betrage einen Meter, aber nach den neuesten Vorschlägen der so genannten Experten sollten es 4,5 Meter sein (interessant auch diese fünfzig Zentimeter!).

Man hat unsern Nächsten abgeschafft. Angesichts der ethischen Inkonsequenz unserer Regierungsvertreter mag es sein, dass die, die diese Bestimmungen diktiert haben, dies aus der gleichen Furcht taten, die sie zu provozieren beabsichtigen, aber es fällt schwer, den Gedanken beiseitezuschieben, dass die Situation, die sie schaffen, genau die ist, die die uns Regierenden mehrfach zu realisieren versucht haben: dass Universitäten und Schulen endgültig geschlossen werden und dass Unterricht nur noch online stattfindet, dass wir aufhören, uns aus politischen oder kulturellen Gründen zu versammeln und zu unterhalten, und dass wir nur noch digitale Nachrichten austauschen, dass, wo immer möglich, Maschinen jeglichen Kontakt — jede Ansteckung — zwischen Menschen ersetzen.
Giorgio Agamben.

Der Gesundheitsterror

Mit dem neuen Paradigma der „Biosicherheit“ wird die Weltgesellschaft in einer Weise umgestaltet, von der frühere Faschisten nur träumen konnten.

An den Reaktionen auf die Ausnahmeregelungen, die in unserem Land (und nicht nur in diesem) erlassen wurden, sticht die Unfähigkeit ins Auge, sie aus einer Perspektive jenseits des unmittelbaren Kontextes ihres Funktionierens zu betrachten. Nur wenige versuchen, sie anstelle dessen, wie es eine ernsthafte politische Analyse verlangen würde, als Symptome und Anzeichen eines weitreichenderen Experiments zu verstehen, bei dem ein neues Paradigma, wie Menschen und Dinge zu regieren seien, zur Disposition steht.

In einem vor sieben Jahren erschienenen Buch, das noch einmal sorgfältig zu lesen jetzt lohnt („Tempêtes microbiennes“, Gallimard 2013), beschrieb Patrick Zylberman bereits den Prozess, durch den Sicherheit in Fragen der Gesundheit, die bislang in den politischen Kalkülen nur am Rande auftauchte, zu einem wesentlichen Bestandteil staatlicher und internationaler politischer Strategien wurde. Es handelt sich um nicht weniger als die Kreation einer Art von „Gesundheitsterror“ als Instrument, um das zu managen, was als worst case scenario, als Szenario des schlimmsten Falles also, definiert wurde. Dieser Logik des größten Übels gemäß hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits 2005 „zwischen zwei und 150 Millionen Todesfälle durch die bevorstehende Vogelgrippe“ prophezeit und so eine politische Strategie nahegelegt, die die Staaten zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu akzeptieren bereit waren. Zylberman zeigt, dass das vorgeschlagene Instrumentarium auf drei Punkten fußte:

  1. die Konstruktion eines fiktiven Szenarios auf Basis eines möglichen Risikos, wobei die Präsentation der Daten in einer Weise geschieht, die ein Verhalten begünstigt, das ein Regieren in extremer Lage erlaubt;
  2. die Übernahme einer Logik des größten Übels als Lebenshaltung politischer Rationalität;
  3. die vollständige Organisation der Bürgerschaft in einer die Anhänglichkeit an die Regierungsinstitutionen weitestmöglich stärkenden Weise, wodurch eine Art Gemeinsinn der Superlative entsteht, bei dem die auferlegten Pflichten als Ausweis von Altruismus dargestellt werden und der Bürger nicht mehr ein Recht auf Gesundheit (health safety) hat, sondern von Gesetzes wegen zur Gesundheit verpflichtet wird (biosecurity).

Was Zylberman 2013 beschrieb, ist nun haargenau eingetreten. Es ist offensichtlich, dass es über diesen an ein bestimmtes Virus, das demnächst einem anderen weichen mag, geknüpften Notstand hinaus um das Design eines Regierungsparadigmas geht, dessen Effizienz die aller Regierungsformen, die die politische Geschichte des Westens bisher gesehen hat, bei Weitem übersteigt.

Während Sicherheitsgründe bereits im fortgeschrittenen Zerfall der Ideologien und politischen Überzeugungen erlaubt hatten, die Bürger zur Akzeptanz von Freiheitseinschränkungen zu bewegen, die sie zuvor nicht zu akzeptieren bereit waren, vermochte die Biosicherheit, die absolute Einstellung aller politischen Aktivitäten und aller sozialen Beziehungen zur höchsten Form der Bürgerbeteiligung zu erheben. So konnte man beobachten, wie linke Organisationen, traditionell gewohnt, Rechte einzufordern und Verfassungsbrüche anzuprangern, vorbehaltlos Freiheitsbeschränkungen akzeptierten, die durch Ministerialdekrete bar jeder Legalität beschlossen wurden und die zu erzwingen nicht einmal der Faschismus je zu träumen gewagt hätte.

Es liegt auf der Hand — und die Regierungsvertreter selbst erinnern uns unaufhörlich daran —, dass das so genannte „Social Distancing“ zum Modell der Politik werden wird, die uns erwartet, und dass man (wie die Vertreter einer so genannten Task Force, deren Mitglieder in einem eklatanten Interessenkonflikt mit der Funktion stehen, die sie ausüben sollen, angekündigt haben) diese Distanzierung nutzen wird, um allerorten menschliche Beziehungen in ihrer Körperlichkeit — als solche unter Ansteckungsverdacht geraten (politischer Ansteckung, versteht sich) — durch digitale Technologie zu ersetzen.

Die universitären Vorlesungen werden, gemäß der schon erfolgten Empfehlung des MIUR, ab nächstem Jahr permanent online stattfinden, man wird sich nicht mehr am Gesicht wiedererkennen, welches durch einen Mundschutz verdeckt sein kann, sondern mittels digitaler Geräte, die biologische Daten identifizieren, die zwingend erhoben werden müssen, und jede „Versammlung“, ob sie nun politisch motiviert ist oder einfach aus Freundschaft geschieht, wird verboten bleiben. Es geht um einen umfassenden Begriff vom Schicksal menschlicher Gesellschaften aus einer Perspektive, die in mannigfaltiger Weise die apokalyptische Idee des Weltuntergangs von den im Niedergang befindlichen Religionen übernommen zu haben scheint.

Nachdem die Politik durch die Wirtschaft ersetzt wurde, wird man nun, um regieren zu können, auch diese in das neue Paradigma der Biosicherheit, dem alle anderen Ansprüche zu opfern sind, integrieren müssen.

Es ist legitim, sich die Frage zu stellen, ob eine solche Gesellschaft noch als menschliche bezeichnet werden kann oder ob der Verlust sinnlicher Begegnungen, des Gesichts, der Freundschaft, der Liebe wirklich durch eine abstrakte und wohl auch völlig fiktive Gesundheitssicherheit kompensiert werden kann.
Giorgio Agamben

Die Erfindung einer Epidemie

Der italienische Philosoph, Essayist und Buchautor Giorgio Agamben warnt eindringlich vor einem Notstand, der mit einer erfundenen Pandemie nicht zu rechtfertigen sei.

Angesichts der eiligen, irrationalen und völlig ungerechtfertigten Notfall-Maßnahmen für eine vermeintliche Epidemie, verursacht durch das Coronavirus, muss man aufgrund der Aussagen des CNR (Consiglio Nazionale delle Ricerche = Nationaler Forschungsrat) davon ausgehen, dass es nicht nur „keine SARS-CoV2-Epidemie in Italien gibt“, sondern dass „die Infektion nach den heute verfügbaren epidemiologischen Daten über Zehntausende von Fällen bei 80 bis 90 Prozent nur leichte/moderate Symptome (eine Art Grippe) verursacht“.

Bei 10 bis 15 Prozent kann sich eine Lungenentzündung entwickeln, die mehrheitlich harmlos verläuft. Es wird geschätzt, dass nur 4 Prozent der Patienten eine Behandlung auf der Intensivstation benötigen.

Wenn dies die tatsächliche Situation ist, warum arbeiten dann die Medien und Behörden daran, ein Klima der Panik zu verbreiten, das einen seltsamen Ausnahmezustand herbeiführt, der ernsthaft die Bewegungsfreiheit beschneidet und die normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen in ganzen Regionen unterbricht?

Zwei Faktoren können dazu beitragen, ein solch unverhältnismäßiges Verhalten zu erklären. Zum einen gibt es wieder einmal eine wachsende Tendenz, den Ausnahmezustand als normales Regierungsparadigma zu verwenden.

Der von der Regierung „aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit“ sofort verabschiedete Erlass führt zu einer echten Militarisierung „von Gemeinden und Gebieten, in denen mindestens eine Person mit unbekanntem Übertragungskontakt erkrankt ist, oder in denen zumindest ein Fall vorliegt, der nicht mit einer Person aus einem bereits mit dem Virus infizierten Gebiet zusammenhängt“.

Eine derart vage und unbestimmte Methode wird es ermöglichen, den Ausnahmezustand schnell auf alle Gebiete auszuweiten, denn es ist so gut wie unwahrscheinlich, dass andere Fälle nicht auch anderswo auftreten.

Man sollte über die schwerwiegenden Freiheitsbeschränkungen, die das Dekret vorsieht, nachdenken:

  1. Das Verbot für alle Personen, die sich ohnehin in der Gemeinde oder der Region aufhalten, sich aus den jeweilig betroffenen Gemeinden und Gebieten zu entfernen;
  2. Das Verbot des Zugangs zur betreffenden Gemeinde oder Region;
  3. Die Aussetzung von Kundgebungen oder Unternehmungen jeder Art, Veranstaltungen sowie jede Form von Versammlungen an öffentlichen oder privaten Orten, einschließlich die kultureller, sportlicher, spielerischer und religiöser Art, auch wenn diese an geschlossenen, jedoch der Öffentlichkeit zugänglichen Orten stattfinden;
  4. Die Aussetzung der Bildungseinrichtungen für Kinder und Schulen aller Ebenen und Stufen sowie des Besuchs von Schul- und Hochschulaktivitäten, mit Ausnahme von Fernunterrichtstätigkeiten;
  5. Die Aussetzung der öffentlichen Dienstleistungen für Museen und anderen kulturellen Einrichtungen und Orten, die in Artikel 101 der Gesetzessammlung für Kultur- und Landschaftsgüter genannt werden und auf die im Erlass Nr. 42 vom 22. Januar 2004 Bezug genommen wird, sowie der Wirksamkeit der Bestimmungen über den freien und uneingeschränkten Zugang zu diesen Einrichtungen und Orten;
  6. Die Aussetzung aller Bildungsreisen im In- und Ausland;
  7. Die Aussetzung des Ausschreibungsverfahrens und der Tätigkeit öffentlicher Ämter, unter der Bedingung der Bereitstellung wesentlicher Dienste und öffentlicher Versorgungseinrichtungen;
  8. Anwendung der Quarantänemaßnahme mit aktiver Überwachung der Personen, die engen Kontakt zu bestätigten Fällen mit ansteckenden Infektionskrankheiten hatten.

Das Missverhältnis der Maßnahmen zu dem, was laut CNR eine gewöhnliche Influenza ist, die sich nicht wesentlich von den jährlich wiederkehrenden Grippen unterscheidet, ist auffällig.

Es scheint, dass die Erfindung einer Epidemie, nachdem der Terrorismus als Ursache für außergewöhnliche Maßnahmen erschöpft ist, den idealen Vorwand bieten kann, diese Maßnahmen über alle Grenzen hinweg auszudehnen.

Der andere, nicht minder beunruhigende Faktor ist der Zustand der Angst, der sich in den letzten Jahren offensichtlich im Bewusstsein der Einzelnen fest gesetzt hat und der sich nun in ein regelrechtes Bedürfnis nach Zuständen der kollektiven Panik verwandelt, für die die Epidemie erneut den idealen Vorwand bietet.

So wird in einem perversen Teufelskreis die von den Regierungen eingeschränkte Freiheit im Rahmen des Wunsches nach Sicherheit akzeptiert. Ein suggeriertes Bedürfnis, das von denselben Regierungen, die jetzt eingreifen, um es zu befriedigen, induziert wurde.
Giorgio Agamben

Digitale Schock-Strategie

New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo will gemeinsam mit US-Milliardären eine High-Tech-Dystopie errichten.

Naomi Klein

Die finstere Miene des Gouverneurs von New York, Andrew Cuomo — seit Wochen formatfüllend auf unseren Bildschirmen präsent —, wich während der täglichen Lagebesprechung einen flüchtigen Moment lang dem Anflug eines Lächelns.

„Wir sind bereit, wir gehen das jetzt grundsätzlich an“, sprudelte der Gouverneur.

„Wir sind New Yorker, wir gehen das aggressiv an, wir sind ehrgeizig. (…) Wir haben erkannt, dass der Umbruch nicht nur bedrohlich ist, er kann sogar unser Freund sein, wenn wir ihn richtig gestalten.“

Die Inspiration für diese ungewöhnlich gute Stimmung entstand während einer Videokonferenz des ehemaligen Geschäftsführers von Google Eric Schmidt, der an der Lagebesprechung des Gouverneurs teilnahm, und dort ankündigte, eine unabhängige Expertenkommission leiten zu wollen, die eine Neukonzeption für die Nach-Corona-Zeit des Staates New York erarbeiten werde, mit Schwerpunkt auf einer nachhaltigen Integration von Technologie in jedem Aspekt des zivilen Lebens.

„Oberste Priorität, bei dem was wir tun wollen“, sagte Schmidt, „haben Telemedizin, Onlineunterricht und Breitband. (…) Wir müssen nach Lösungen suchen, die sofort präsentiert und forciert werden können, und wir müssen eine Technologie einsetzen, die die Dinge zum Besseren wendet.“ Für den Fall, dass Zweifel an der rein wohltätigen Absicht des früheren Google-Vorstandes aufkommen sollten, wurde vorsorglich sein Videohintergrundbild mit einen gerahmten Paar goldener Engelsflügel dekoriert.

Pandemie-Schockdoktrin

Nur einen Tag zuvor hatte Cuomo eine ähnliche Partnerschaft mit der Bill and Melinda Gates Foundation angekündigt, um „ein eleganteres Bildungssystem“ zu entwickeln. Cuomo bezeichnete Gates als „Visionär“ und verkündete, dass die Pandemie einen „geschichtlichen Augenblick geschaffen habe, in dem wir (Gates) Ideen wirklich einbinden und vortreiben können (…) alle diese Gebäude, alle diese materiellen Klassenräume — warum das, bei all der Technologie, die uns zur Verfügung steht?”, lautete seine offensichtlich rhetorische Frage.

Eine Weile hat es gedauert, bis sich etwas herauskristallisiert hat, das einer kohärenten Pandemie-Schockdoktrin ähnelt. Man kann dies als „New Deal der Bildschirme“ bezeichnen. Unterstützt von sehr viel mehr Hightech als bei zurückliegenden Katastrophen, und noch während die Leichen gestapelt werden, sind aus der Perspektive der „neuen“ Zukunft die vergangenen Wochen physischer Isolation nicht als schmerzhafte Notwendigkeit zur Rettung von Leben zu betrachten, sondern als ein lebendes Laboratorium im Dienste einer permanenten — und hochprofitablen — kontaktlosen Zukunft.

Anuja Sonalker, CEO von Steer Tech, einer Firma in Maryland, die Selbstpark-Technologie verkauft, fasste kürzlich die durch die virusbedingte Individualisierung entstandene Tonlage zusammen. „Man hat sich deutlich wahrnehmbar mit einer menschenfreien, kontaktlosen Technologie angefreundet“, sagte sie.

„Menschen sind Biorisiken, Maschinen sind frei davon.“

Es wird eine Zukunft sein, in der unser Zuhause niemals mehr ein ausschließlich persönlicher Rückzugsort ist, sondern durch digitale Highspeed-Anbindung eben auch Schule, Arztpraxis, Sporthalle, und — falls vom Staat so bestimmt — auch Gefängnis. Natürlich hatte sich bereits vor der Pandemie für viele von uns unser Zuhause bereits zunehmend zu einem Arbeitsplatz ohne Freizeit und zu dem Schauplatz der Unterhaltung entwickelt, und der Überwachungsarrest „in der Community“ war bereits in vollem Gange. Aber in der hastig zusammengebastelten Zukunft werden sich voraussichtlich alle diese Trends mit Warpgeschwindigkeit beschleunigen.

My home is my castle? Bald nicht mehr!

Dies ist eine Zukunft, in der für Privilegierte fast alles nach Hause geliefert wird, entweder virtuell über Streaming- und Cloud-Technologie, oder physisch durch selbstfahrende Fahrzeuge oder Drohnen, was dann am Bildschirm auf einer moderierten Plattform „mitgeteilt“ wird. Es ist eine Zukunft, die weit weniger Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte und Fahrer benötigt. Sie akzeptiert kein Bargeld und keine Kreditkarte — unter dem Deckmantel der Viruskontrolle —, und es gibt nur noch kümmerliche Reste von Massenmobilität und viel weniger Live-Kunst.

Es ist eine Zukunft, die vorgibt, auf der Grundlage von „Künstlicher Intelligenz“ zu funktionieren, die aber in Wirklichkeit von Zigmillionen anonymen Arbeitern zusammengehalten wird, die in Lagerhallen, in Rechenzentren, in die Content-Moderation, in elektronische Ausbeutungsbetriebe, in Lithiumminen, in die industrielle Landwirtschaft, in Fleischverarbeitungsbetriebe und in Gefängnisse gesteckt werden, wo sie schutzlos gegenüber Krankheiten und Hyperausbeutung sind. Es ist eine Zukunft, in der jeder unserer Schritte, jedes unserer Worte und jede unserer Beziehungen auffindbar, zurückverfolgbar und über Daten nutzbar sein werden, durch eine beispiellose Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Technologiegiganten.

Falls uns all dies vertraut erscheint, so deshalb, weil uns bereits vor Covid-19 genau diese appgesteuerte und gigabyteversessene Zukunft im Namen des Komforts, der Geschmeidigkeit und der eigenen Persönlichkeitsentwicklung verkauft wurde. Aber viele von uns waren besorgt: über die Sicherheit, die Qualität, die Ungerechtigkeiten der Telemedizin und des Online-Unterrichts; über fahrerlose Autos, die Fußgänger niedermähen und Drohnen, die Pakete (und Menschen) zerschmettern; über das Nachverfolgen von Aufenthaltsorten und dem bargeldlosen Handel, der unsere Privatsphäre zerstört und durch den sich eine tiefgreifende Diskriminierung nach Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit etabliert; über skrupellose Soziale Medien, die unsere Informationsökologie und die psychische Gesundheit unserer Kinder vergiften; über „smarte Städte“, vollgestopft mit Sensoren, welche die Aufgaben kommunaler Verwaltungen übernehmen; über die guten Arbeitsplätze, die von diesen Technologien ausradiert wurden und über die massenhaften schlechten Jobs, die sie geschaffen haben.

Und am meisten Sorgen bereiteten uns der demokratiebedrohende Reichtum und die Macht, die sich bei einer Handvoll von Technologiekonzernen, den Meistern des „Verzichts“, angesammelt hatten, — und die dabei aller Verantwortung für den Trümmerhaufen entziehen, den sie in den Bereichen hinterlassen, die jetzt von ihnen dominiert werden — seien es die Medien, der Einzelhandel oder das Verkehrswesen.

So weit zur fernen Vergangenheit des Februar. Heute werden sehr viele von jenen wohlbegründeten Besorgnissen hinweggefegt von einer Welle der Panik, und diese wieder aufgewärmte Dystopie erfährt eine Umfirmierung im Schnellschussverfahren. Jetzt, vor dem entsetzlichen Hintergrund eines Massensterbens, wird sie uns mit dem fragwürdigen Versprechen verkauft, dass diese Technologien die einzige Möglichkeit bieten, unser Leben pandemiefest zu machen als unerlässliche Voraussetzung für unsere Sicherheit und die unserer Lieben.

Dank Cuomo und seinen verschiedenen Partnerschaften mit Milliardären — einschließlich jener mit Michael Bloomberg für das Testen und die Rückverfolgung — positioniert New York sich gerade als glänzender Verkaufsraum dieser düsteren Zukunft — aber die Begehrlichkeiten reichen weit über die Grenzen irgendeines Bundesstaates oder eines Landes hinaus.

Und im Mittelpunkt all dessen steht Eric Schmidt. Lange bevor die Amerikaner der Bedrohung durch Covid-19 begriffen hatten, betrieb Schmidt bereits eine aggressive Lobby- und Werbekampagne, in der er genau die „Black Mirror“-Vision von einer Gesellschaft vorantrieb, zu deren Einführung Cuomo ihn gerade ermächtigt hat („Black Mirror“ ist eine britische Science-Fiction-Serie, die die Auswirkungen von Technik und Medien auf die Gesellschaft thematisiert, Anmerkung des Übersetzers). Im Zentrum dieser Vision findet die nahtlose Verschmelzung einer Regierung mit einer Handvoll von Giganten des Silicon Valley statt — wobei alle öffentlichen Schulen, alle Krankenhäuser, alle Arztpraxen, die Polizei und das Militär ihre jeweilige Kernfunktionen — zu hohen Kosten — an private Technikkonzerne auslagern.

Künstliche Intelligenz

Diese Vision treibt Schmidt bereits seit längerer Zeit voran in seinen Funktionen als Vorsitzender des Defence Innovation Board — einer Organisation, die das Verteidigungsministerium bei der verstärkten Nutzung Künstlicher Intelligenz im Militär berät — sowie als Vorsitzender der mächtigen National Security Commission on Artificial Intelligence (Nationale Sicherheitskommission zur Künstlichen Intelligenz), kurz NSCAI — die den Kongress berät zu „Fortschritten bei der Nutzung Künstlicher Intelligenz, damit verbundener Entwicklungen von Lernfähigkeit bei Maschinen, und entsprechender Technologien“ berät —, mit dem Ziel, den „nationalen und wirtschaftlichen Sicherheitsbedürfnissen der Vereinigten Staaten, einschließlich wirtschaftlicher Risiken“ zu dienen. In beiden Vorständen sitzen massenhaft mächtige Firmenbosse von Silicon Valley und Top-Vorstände von Unternehmen, wie Oracle, Amazon, Microsoft, Facebook, und natürlich Schmidts Kollegen bei Google.

Als Vorsitzender hat Schmidt — der immer noch Aktien von Alphabet (Googles Mutterkonzern) im Wert von mehr als 5,3 Milliarden US-Dollar hält sowie auch große Beteiligungen an anderen Technologiekonzernen hält — im Endeffekt eine Erpressungskampagne zugunsten von Silicon Valley in Washington betrieben.

Der Hauptzweck der beiden Vorstände besteht darin, exponentielle Erhöhung der Staatsausgaben zu fordern für die Forschung auf den Gebieten der Künstlichen Intelligenz und technikfördernder Infrastruktur wie 5G-Investitionen, die ganz direkt jenen Unternehmen zugutekämen, an denen Schmidt und weitere Mitglieder dieser Gremien umfangreiche Beteiligungen halten.

Schmidts Argumentationslinie war von Anfang an — zunächst hinter verschlossenen Türen für Abgeordnete, später in öffentlichkeitswirksamen Kommentaren und Interviews —, dass die dominierende Stellung der USA in der Weltwirtschaft am Rande des Abgrundes stehe, da die chinesischen Regierung bereit ist, unbegrenzte öffentliche Finanzmittel in eine hoch technisierte Überwachungsinfrastruktur zu pumpen, während sie gleichzeitig ihren Technikunternehmen wie Alibaba, Baidu und Huawei erlaubt, die Profite aus kommerziellen Anwendungen einzustecken.

Strategischer Wettbewerb mit China

Das Electronic Privacy Information Center (Anm. d. Übers.: eine unabhängige Nonprofit Organisation in Washington, die auf den Gebieten des Datenschutzes und der freien Meinungsäußerung forscht und Untersuchungen veröffentlicht) hatte kürzlich, durch eine Anfrage im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes, Zugang zu einer Präsentation, die von Schmidts NSCAI vor einem Jahr, im Mai 2019, vorgelegt worden war. Seine Folien enthalten eine Reihe alarmierender Behauptungen darüber, wie Chinas relativ laxer Umgang mit regelnder Infrastruktur und sein bodenloses Streben nach Überwachung dazu führen, dass es die USA in einer Reihe von Bereichen, schließlich „Künstlicher Intelligenz (KI) für medizinische Diagnosen“, autonomem Fahren, „smarten Städten“, Fahrgemeinschaften und bargeldlosem Handel, den Rang abläuft.

Die Gründe, die für Chinas Wettbewerbsvorsprung angegeben werden, sind vielfältig und reichen von der schieren Masse an Onlinekonsumenten, über „das Nichtvorhandensein eines althergebrachten Bankensystems in China“, das das Überspringen von Instanzen wie Bargeld und Kreditkarten ermögliche, und „einen riesigen Onlinehandel und einen Markt von Onlinedienstleistungen“ mit „digitalen Zahlungsmethoden“ freisetze, bis hin zu einem massiven Ärztemangel, den die Regierung zum Anlass genommen habe, eng mit Technologiekonzernen wie Tencent zusammenzuarbeiten, um KI für vorhersagende Medizin zu nutzen.

Mehr als jeder andere Faktor weist die NSCAI jedoch auf die Bereitschaft Chinas hin, öffentlich-private Partnerschaften bei der Massenüberwachung und der Datenerhebung für seinen Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Die Präsentation lobt Chinas „ausdrückliche regierungsamtliche Unterstützung und seine Beteiligung zum Beispiel an der Entwicklung von Gesichtserkennung“. Argumentiert wird, „Überwachung sei einer der ‚ersten und besten Kunden' für KI“, und darüber hinaus sei „Massenüberwachung eine super Einsatzmöglichkeit für maschinelles Lernen“.

Eine Folie mit dem Titel „Staatliche Datensätze: Überwachung = Smart Cities“ stellt fest, dass China gemeinsam mit Googles chinesischem Hauptrivalen Alibaba ganz vorne in dem Rennen dabei ist.

Dies ist bemerkenswert, weil Googles Mutterkonzern Alphabet genau diese Vision von seiner Abteilung Sidewalk Labs hat vorantreiben lassen, und dabei einen großen Teil des Hafenviertels von Toronto als Prototyp für seine „Smart City“ ausgewählt hat. Aber das Toronto-Projekt wurde nach zwei Jahren unablässiger Kontroversen über die enormen Mengen an persönlichen Daten, die Alphabet sammeln würde, über den fehlenden Schutz der Privatsphäre und über den fragwürdigen Nutzen für die Stadt als Ganzes einfach eingestellt.

Im November, fünf Monate nach dieser Präsentation, veröffentlichte NSCAI einen Zwischenbericht für den Kongress, in dem weiterhin Alarm bezüglich der Notwendigkeit für die USA geschlagen wurde, mit Chinas Anwendung dieser umstrittenen Technologien gleichzuziehen. „Wir befinden uns in einem strategischen Wettbewerb“, heißt es in dem Bericht, den das Electronic Privacy Information Center über FOIA erhalten hat „KI wird zentral sein. Die Zukunft sowohl unserer nationalen Sicherheit als auch der Wirtschaft steht auf dem Spiel.“

Ende Februar ging Schmidt mit seiner Kampagne an die Öffentlichkeit, vermutlich weil er eingesehen hatte, dass die Budgeterhöhungen, die sein Gremium forderte, keine Zustimmung ohne wesentlich breitere Absegnung finden könnten. In einem Meinungskommentar in der New York Times unter der Überschrift „Ich habe Google geleitet. Silicon Valley könnte gegenüber China verlieren“, rief Schmidt zu „beispiellosen Partnerschaften zwischen Regierung und Industrie“ auf, und läutete wieder einmal die Alarmglocke der Gelben Gefahr:

„KI wird neue Grenzen in allen Bereichen — von der Biotechnologie bis zum Bankwesen — öffnen, und es ist auch eine Priorität des Verteidigungsministeriums. (…) Bei einem Fortdauern der gegenwärtigen Trends wird erwartet, dass Chinas Investitionen in Forschung und Entwicklung in zehn Jahren jene der USA übertreffen werden, etwa zur gleichen Zeit wird voraussichtlich seine Wirtschaft die unsere überflügeln.

Wenn sich diese Trends nicht verändert, werden wir in den 2030-er-Jahren mit einem Land konkurrieren, das über eine größere Wirtschaft, mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung, eine bessere Forschung, einen breiten Einsatz im Bereich der Neuen Technologien und eine stärkere Infrastruktur im Bereich der Datenverarbeitung verfügt. (...) Letztlich konkurrieren die Chinesen um die weltweite Führungsposition im Bereich der Innovationen, und gegenwärtig ist es für die USA kein Spiel auf Sieg.“

Laut Schmidt besteht die einzige Lösung in einem Geldregen aus öffentlichen Mitteln. Das Weiße Haus lobte er dafür, dass es eine Verdoppelung der Forschungsmittel für KI und für Quanteninformatik gefordert hat:

„Wir sollten planen, die Finanzierung in jenen Bereichen erneut zu verdoppeln, wo wir institutionelle Kapazitäten in Laboren und Forschungseinrichtungen aufbauen. (…) Zugleich sollte der Kongress der Forderung des Präsidenten auf Finanzierung der höchsten Verteidigungsausgaben im Bereich Forschung und Entwicklung seit über 70 Jahren nachkommen, und das Verteidigungsministerium sollte diesen Mittelzufluss nutzen, um bahnbrechend neue Möglichkeiten zu schaffen in KI, Quanteninformatik, Hyperschalltechnik und weiteren prioritären Bereichen der Technologie.“

Rebranding

Das war genau zwei Wochen, bevor der Ausbruch des Coronavirus zur Pandemie erklärt wurde, und es war keine Rede davon, dass ein Ziel dieses gewaltige Hightech-Ausbaus der Schutz der amerikanischen Gesundheit war. Nur dass es notwendig sei, um zu verhindern, von China überflügelt zu werden. Aber natürlich hat sich das bald gewandelt.

Innerhalb der zwei Monate, die seither vergangen sind, hat Schmidt diese ursprünglichen Forderungen — nach massiven öffentlichen Ausgaben für Hightech-Forschung und Infrastruktur, nach einer ganzen Menge an „öffentlich-privaten Partnerschaften“ auf dem Gebiet der KI, und nach der Lockerung unzähliger Datenschutz- und Sicherheitsbestimmungen — einem aggressiven Rebranding unterzogen. Jetzt werden der Öffentlichkeit alle diese Maßnahmen — und noch mehr — als unsere einzig mögliche Hoffnung verkauft, uns vor einem neuen Virus zu schützen, das uns noch jahrelang begleiten wird.

Und die Technologieunternehmen, zu denen Schmidt enge Verbindungen pflegt und die zahlreich in den einflussreichen Vorständen vertreten sind, deren Präsident er ist, haben sich alle als wohltätige Beschützer der öffentlichen Gesundheit und als großzügige Verfechter der „Alltagshelden“ — von denen viele, wie zum Beispiel Paketzusteller, ihre Jobs verlieren würden, sollten sich diese Firmen durchsetzen — neu positioniert.

Keine zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns des Staates New York schrieb Schmidt einen Leitartikel für das Wall Street Journal, der sowohl den neuen Ton vorgab, als auch deutlich machte, dass das Silicon Valley die feste Absicht hatte, die Krise für einen dauerhaften Wandel zu nutzen.

„Wie andere Amerikaner auch, versuchen Technologen ihren Teil zur Unterstützung der Pandemiebekämpfung an vorderster Front beizutragen. (…)

Aber alle Amerikaner sollten sich fragen, wo wir unsere Nation nach dem Ende der Covid-19-Pandemie gern haben wollen. Wie könnten die in der gegenwärtigen Krise entwickelten Technologien uns in eine bessere Zukunft führen? (…) Unternehmen wie Amazon wissen, wie man effizient etwas liefert und verteilt. Sie werden den Regierungsstellen, die nicht über die Computersysteme und die Fachkenntnis verfügen, ihre Dienstleistung und ihre Beratung zur Verfügung stellen müssen.

Wir sollten auch den Trend zum Onlineunterricht beschleunigen, der zur Zeit eine beispiellose Testphase durchläuft. Online gibt es keine Notwendigkeit zu Nähe, was den SchülerInnen ermöglicht, Unterricht von den besten Lehrern zu erhalten, ganz unabhängig davon, in welchem Schuldistrikt sie leben. (…)

Die Notwendigkeit schneller, groß angelegter Experimente wird auch die Revolution der Biotechnologie vorantreiben. (…) Und schließlich braucht das Land seit langem eine echte digitale Infrastruktur. (...) Wenn wir ein zukünftiges Wirtschafts- und Bildungssystem aufbauen wollen, das auf der Telekommunikation basiert, brauchen wir eine voll vernetzte Bevölkerung und eine ultraschnelle Infrastruktur. Die Regierung muss massiv investieren — möglicherweise als Teil eines Konjunkturpakets — , um die digitale Infrastruktur der Nation in cloudbasierte Plattformen zu überführen, und diese über ein 5G-Netzwerk zu verbinden.“

In der Tat hat Schmidt diese Vision unermüdlich verfolgt. Zwei Wochen nach Erscheinen dieses Artikels charakterisierte er das Ad-hoc-Programm für den Heimunterricht, das von Schulen und Familien im ganzen Land während dieses Gesundheitsnotstandes zusammengeschustert werden mussten, als „massives Experiment des Onlineunterrichts“.

Das Ziel dieses Experiments, so sagte er, sei „herauszufinden: Wie lernen Kinder online? Und mit diesen Daten sollten wir in der Lage sein, bessere Mittel für den Onlineunterricht und das Lernen auf Distanz zu entwickeln, die in Kombination mit dem Lehrer (…) den Kindern helfen werden, besser zu lernen.“ Während genau dieser Video-Schalte, die vom Economic Club of New York ausgerichtet worden war, forderte Schmidt auch mehr Telemedizin, mehr 5G, mehr Onlinehandel und alles, was sonst noch auf der bereits bestehenden Wunschliste steht. Alles dies im Namen der Virusbekämpfung.

Sein aufschlussreichster Kommentar jedoch war dieser:

„Der Nutzen, den diese, von uns so gerne schlecht gemachten Unternehmen uns bieten, hinsichtlich der Kommunikationsmöglichkeiten, der Chancen für das Gesundheitswesen, der Möglichkeiten der Informationsbeschaffung ist tief greifend. Überlegen Sie einmal, wie Ihr Leben in Amerika aussähe ohne Amazon.“

Er fügte hinzu, dass die Leute „ein bisschen dankbar sein sollten, dass diese Firmen das Kapital erhalten, die Investition getätigt, die Geräte entwickelt haben“, die wir heutzutage nutzen, und die uns wirklich behilflich seien.

Demokratie? Lästig!

Es erinnert uns daran, dass bis vor kurzem der öffentliche Druck gegen diese Firmen zugenommen hatte. Präsidentschaftskandidaten diskutierten ganz offen darüber, die großen Technikunternehmen zu zerschlagen. Amazon sah sich gezwungen, die Pläne für seine Hauptgeschäftsstelle in New York aufzugeben wegen heftiger lokaler Widerstände. Googles „Sidewalk Labs-Projekt“ befand sich in einer Dauerkrise, und Googles eigene Mitarbeiter weigerten sich, eine Überwachungstechnologie mit militärischen Einsatzmöglichkeiten zu entwickeln.

Kurz gesagt erwies sich die Demokratie — die lästige öffentliche Beteiligung an der Gestaltung kritischer Institutionen und des öffentlichen Raumes — als das größte Hindernis für die von Schmidt aufgezeigte Vision, die er zu Anfang aus seiner Perspektive an der Spitze von Google und Alphabet und dann als Vorsitzender der beiden mächtigen Gremien als Berater des Kongresses und des Verteidigungsministeriums vertreten hatte. Die NSCAI-Dokumente enthüllen, hat diese unbequeme Machtausübung durch Vertreter der Öffentlichkeit und durch Technologiemitarbeiter innerhalb dieser Megafirmen aus der Sicht von Männern wie Schmidt und Amazon-CEO Jeff Bezos das Rennen um die weitere Entwicklung der KI in entnervender Weise ausbremst, ganze Flotten potenziell tödlicher fahrerloser Autos und Lastwagen nicht auf die Straße gelassen, private Krankenakten davor bewahrt, zu einer Waffe der Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer zu werden, verhindert, dass der öffentliche Raum flächendeckend mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet wird und vieles mehr.

Jetzt, mitten in dem Gemetzel dieser andauernden Pandemie, der Furcht und der Unsicherheit angesichts der damit verbundenen Zukunft, sehen diese Firmen den Zeitpunkt gekommen, all diese demokratischen Beteiligungen aus dem Wege zu räumen.

Sie wollen dieselbe Machtfülle haben wie ihre chinesischen Konkurrenten, die sich den Luxus leisten können, ohne durch Eingriffe seitens der Arbeits- oder der Bürgerrechte behindert zu werden.

All dies schreitet sehr schnell voran. Die australische Regierung hat mit Amazon vertraglich vereinbart, dass die Daten ihrer umstrittenen Corona-Tracking-App gespeichert werden. Die kanadische Regierung hat Amazon per Vertrag zum Auslieferer medizinischer Ausrüstung gemacht, wobei Fragen aufkamen, warum der öffentliche Postdienst umgangen wurde. Und Anfang Mai hat innerhalb weniger Tage Alphabet eine neue „Sidewalk-Lab-Initiative“ entwickelt, mit der die städtische Infrastruktur mit einem Startkapital von 400 Millionen US-Dollar erneuert werden soll.

Josh Marcuse, geschäftsführender Direktor des Defense Innovation Board (eine Organisation, die dem US Militär die technischen Innovationen des Silicon Valley zur Verfügung stellen möchte, Anmerkung des Übersetzers) kündigte an, dass er diesen Posten verlassen und ganz bei Google arbeiten als Leiter der Abteilung Strategie und Innovation für den globalen öffentlichen Sektor werde, was bedeutet, dass er Google dabei helfen wird, bei einigen der günstigen Gelegenheiten abzukassieren, die er und Schmidt mit ihrer Lobbyarbeit eifrig geschaffen haben.

Selbstverständlich ist in den kommenden Monaten und Jahren die Technologie ganz sicher ein Schlüsselelement für den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Die Frage ist nur: Wird diese Technologie den Regeln der Demokratie und der öffentlichen Aufsicht unterworfen sein, oder wird sie sich im Rausch des Ausnahmezustandes und ohne Begleitung durch kritische Fragen entfalten, wodurch unser Leben für kommende Jahrzehnte geprägt sein wird?

Digitale Bildung

Fragen, wie beispielsweise: Wenn wir tatsächlich miterleben, wie entscheidend die digitale Vernetzung in Krisenzeiten ist, sollten diese Netzwerke und unsere Daten dann wirklich in den Händen privater Player wie Google, Amazon und Apple liegen? Wenn all dies so stark öffentlich finanziert wird, sollte die öffentliche Hand dann auch Eigentümer sein und es kontrollieren? Wenn das Internet so offensichtlich entscheidend ist für so vieles in unserem Leben, sollte es dann als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge eingestuft werden?

Und, während zweifellos die Möglichkeit zur Telekonferenz während dieser Zeit des Lockdowns einen Rettungsanker darstellt, muss es ernsthafte Debatten darüber geben, dass unsere längerfristigen Schutzmaßnahmen deutlich humaner sind. Nehmen wir die Bildung. Schmidt liegt richtig, wenn er sagt, dass überfüllte Klassenräume ein Gesundheitsrisiko darstellen, zumindest so lange, bis wir einen Impfstoff haben. Wie wäre es daher, die doppelte Menge an Lehrpersonal einzustellen, und damit die Klassengrößen zu halbieren? Wie wäre es damit, sicherzustellen, dass in jeder Schule eine Person zur Krankenpflege zur Verfügung steht?

Das würde dringend benötigte Arbeitsplätze in einer Arbeitslosenkrise während eines Konjunkturrückganges schaffen und allen in der Bildungslandschaft mehr Ellenbogenfreiheit geben. Wenn Gebäude überfüllt sind, warum nicht den Tag in Schichten einteilen und mehr Unterricht im Freien abhalten, indem man die zahlreichen Forschungsergebnisse nutzt, die zeigen, wie der Aufenthalt in der Natur die Lernfähigkeit der Kinder fördert?

Sicher, solche Arten von Veränderung einzuführen, wäre anstrengend. Aber sie sind nicht annähernd so riskant, wie das Abschaffen erfolgreich erprobter Technologien, wo ausgebildete Menschen jüngere Menschen anleiten — von Angesicht zu Angesicht — und in Gruppen, in denen sie lernen, sozial miteinander umzugehen, um sich gegenseitig zu unterstützen.

Andy Pollota, Präsident der United Teachers im Bundesstaat New York, reagierte schnell, als er von der Partnerschaft des Staates New York mit der Gates Foundation hörte: „Wenn wir das Bildungssystem neu erfinden wollen, sollten wir damit beginnen, den Bedarf an Sozialarbeitern, Beratern für psychische Gesundheit, Schulkrankenschwestern, bereichernden Kunstkursen, fortgeschrittenen Kursen und kleineren Klassen in den Schulbezirken im gesamten Bundesstaat zu decken“, so Pollota.

Eine Koalition von Elterngruppen wies auch darauf hin, dass die Ergebnisse des „Experiments des Onlineunterrichts“ — wie Schmidt es ausgedrückt hatte —, sollten sie ein solches tatsächlich miterlebt haben, sehr besorgniserregend seien:

„Seit die Schulen Mitte März geschlossen wurden, haben sich nach unserer Beobachtung die Defizite eines Lernens am Bildschirm nur noch vergrößert.“

Zusätzlich zu offensichtlichen Klassen- und Rassenvorurteilen gegenüber Kindern, die über keinen Internetzugang und keinen privaten Computer verfügen — Probleme, die Technologieunternehmen sehr gerne mit einem öffentlich finanzierten massiven Ankauf von Geräten gelöst sehen möchten — gibt es bedeutende Fragen, ob Onlineunterricht für viele Kinder mit Behinderungen hilfreich sei, wie dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Und es gibt keine technologische Lösung für das Problem des Lernens in einer überfüllten und/oder missbräuchlichen häuslichen Umgebung.

Die Frage ist nicht, ob sich die Schulen angesichts eines hochansteckenden Virus, für das es weder ein Medikament noch eine Impfung gibt, ändern müssen. Wie jede Einrichtung, in der Menschen sich in Gruppen zusammenfinden, werden sie sich verändern. Das Beunruhigende ist, wie immer in solchen Momenten des kollektiven Schockzustandes, das Fehlen einer öffentlichen Debatte darüber, wie solche Veränderungen aussehen und wem sie zugutekommen sollten: Privaten Technologieunternehmen oder SchülerInnen?

Telemedizin und mehr Ärzte!

Bezüglich unserer Gesundheit müssen wir dieselben Fragen stellen. Es ist sinnvoll, während einer Pandemie Arztpraxen und Krankenhäuser zu meiden. Aber Telemedizin ist bei weitem nicht ausreichend. Deshalb müssen wir eine evidenzbasierte Debatte über die Vor- und Nachteile der Verwendung knapper öffentlicher Mittel für Telemedizin führen — im Vergleich zu besser ausgebildetem und mit aller notwendigen Schutzausrüstung versehenem Pflegepersonal, das Hausbesuche machen kann, um Patienten zu Hause diagnostizieren und behandeln zu können. Und möglicherweise ist es vordringlich, dass wir die richtige Balance zwischen Tracking-Apps für das Virus, die unter Beachtung des Schutzes der Privatsphäre sicher eine Rolle spielen werden, und den Forderungen nach kommunalen medizinischen Einsatzgruppen schaffen, wodurch Millionen Amerikaner Arbeit bekämen, nicht nur im Bereich der Kontaktverfolgung, sondern auch in der Bereitstellung und dem Angebot von notwendigem Material und Unterstützung zur sicheren Bewältigung der Quarantäne.

In jedem Falle werden wir harte Entscheidungen treffen müssen zwischen Investitionen in die Menschen oder in die Technologie. Denn die brutale Wahrheit ist, dass wir, so wie die Dinge stehen, uns beides zugleich wahrscheinlich nicht werden leisten können. Die Weigerung, den Bundesstaaten und den großen Städten in einer fortlaufenden bundesstaatlichen Rettungsaktion die notwendigen Mittel zu geben, bedeutet, dass die Coronakrise nun mit voller Wucht in die hausgemachte Austeritätskrise hineinkracht. Öffentliche Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und der öffentliche Verkehr stehen vor existenziellen Fragen betreffs ihrer Zukunft.

Sollten die Technologieunternehmen Erfolg haben mit ihrer heftigen Lobby-Kampagne für Onlineunterricht, Telemedizin, 5G und fahrerlose Autos — ihr New Deal der Bildschirme — so wird schlicht kein Geld übrig bleiben für drängende öffentliche Prioritäten, ganz zu schweigen von dem Grünen New Deal, den unser Planet so dringend braucht.

Im Gegenteil: Der Preis für all diese glitzernden technischen Spielereien werden Massenentlassungen von Lehrerinnen und Lehrern sowie Schließungen von Krankenhäusern sein.

Die Technologie stellt uns leistungsstarke Geräte zur Verfügung, aber nicht für jedes Problem gibt es eine technologische Lösung. Und das Problem mit der Auslagerung wichtiger Entscheidungen darüber, wie wir unsere Bundesstaaten und Städte „neu gestalten“ können, an Menschen wie Bill Gates und Eric Schmidt besteht darin, dass sie ihr Leben lang keinen Hehl aus ihrer Überzeugung gemacht haben, dass es kein Problem gebe, das nicht technologisch gelöst werden könnte.

Für sie und viele andere im Silicon Valley ist die Pandemie eine großartige Gelegenheit, nicht nur Dankbarkeit, sondern auch die Ehrerbietung und die Macht zu erhalten, die ihnen bisher aus ihrer Sicht unberechtigterweise versagt worden ist. Und Andrew Cuomo scheint dem früheren Google-Chef so etwas wie freie Regentschaft übertragen zu haben, indem er ihm das Kommando für jenes Gremium übertragen hat, das die bevorstehende Öffnung des Staates New York gestalten wird.
Naomi Klein

Auf die Erfahrung grossen Vergnügens folgt oft der Wunsch nach erneuter Autorität Das Covid Versagen der Linken

 

Während der verschiedenen Phasen der globalen Pandemie haben sich die Präferenzen der Menschen in Bezug auf epidemiologische Strategien eng mit ihrer politischen Orientierung überschnitten.

Seit Donald Trump und Jair Bolsonaro im März 2020 Zweifel an der Weisheit einer Abriegelungsstrategie geäussert haben, haben sich Liberale und die Linken des westlichen politischen Spektrums, einschliesslich der meisten Sozialisten, in der Öffentlichkeit für die Abriegelungsstrategie der Pandemieabschwächung stark gemacht - und neuerdings auch für die Logik der Impfpässe. Jetzt, da Länder in ganz Europa mit strengeren Restriktionen für Ungeimpfte experimentieren, fallen linke Kommentatoren - die sonst so lautstark Minderheiten verteidigen, die unter Diskriminierung leiden - durch ihr Schweigen auf.

Als Schriftsteller, die sich immer auf der linken Seite positioniert haben, sind wir beunruhigt über diese Wendung der Ereignisse. Kann man wirklich keine fortschrittliche Kritik an der Quarantäne gesunder Menschen üben, wenn die neuesten Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass der Unterschied zwischen geimpften und nicht geimpften Personen in Bezug auf die Übertragung verschwindend gering ist? Die Reaktion der Linken auf Covid erscheint nun als Teil einer umfassenderen Krise der linken Politik und des linken Denkens - einer Krise, die seit mindestens drei Jahrzehnten andauert. Deshalb ist es wichtig, den Prozess zu identifizieren, durch den diese Krise Gestalt angenommen hat.

In der ersten Phase der Pandemie - der Phase der Abschottung - waren es eher die kulturell und wirtschaftlich rechts Stehenden, die den sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Schaden der Abschottung betonten. In der Zwischenzeit machte Donald Trumps anfängliche Skepsis gegenüber Abriegelungen diese Position für die meisten derjenigen, die der kulturellen und wirtschaftlichen Linken angehören, unhaltbar. Die Algorithmen der sozialen Medien haben diese Polarisierung dann noch verstärkt.

Die westliche Linke machte sich daher sehr schnell für die Abriegelung stark, die als "Pro-Life"- und "Pro-Kollektiv"-Entscheidung angesehen wurde - eine Politik, die theoretisch die öffentliche Gesundheit oder das kollektive Recht auf Gesundheit fördert. In der Zwischenzeit wurde jede Kritik an den Schliessungen als "rechts", "pro-ökonomisch" und "pro-individuell" verunglimpft und beschuldigt, "Profit" und "business as usual" über das Leben der Menschen zu stellen.

Alles in allem wurde durch die jahrzehntelange politische Polarisierung ein Thema der öffentlichen Gesundheit sofort politisiert, ohne dass eine Diskussion darüber möglich gewesen wäre, wie eine kohärente linke Antwort aussehen könnte. Gleichzeitig distanzierte sich die Linke mit ihrer Position von jeder Art von Arbeiterbasis, da Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen am stärksten von den sozioökonomischen Auswirkungen der fortgesetzten Abschottungspolitik betroffen waren und auch diejenigen waren, die am ehesten arbeiten mussten, während die Laptop-Klasse von Zoom profitierte.

Dieselben politischen Verwerfungen traten auch bei der Einführung der Impfstoffe und jetzt bei der Einführung der Covid-Pässe auf. Der Widerstand wird mit der Rechten assoziiert, während die Linken beide Massnahmen im Allgemeinen unterstützen. Die Opposition wird als eine verworrene Mischung aus wissenschaftsfeindlichem Irrationalismus und individualistischem Libertarismus verteufelt.

Aber warum hat die Mainstream-Linke praktisch alle Covid-Massnahmen unterstützt? Wie kam es zu einer derart vereinfachenden Sichtweise der Beziehung zwischen Gesundheit und Wirtschaft, die jahrzehntelange (linke) sozialwissenschaftliche Forschung, die zeigt, wie eng Wohlstand und Gesundheitsergebnisse zusammenhängen, ins Lächerliche zieht? Warum hat die Linke die massive Zunahme der Ungleichheiten, den Angriff auf die Armen, auf die armen Länder, auf Frauen und Kinder, die grausame Behandlung älterer Menschen und die enorme Zunahme des Reichtums der reichsten Einzelpersonen und Unternehmen infolge dieser Politik ignoriert?

Wie kommt es, dass die Linke im Zusammenhang mit der Entwicklung und Einführung von Impfstoffen den Gedanken ins Lächerliche zieht, dass angesichts des Geldes, das auf dem Spiel steht, und angesichts der Tatsache, dass BioNTech, Moderna und Pfizer derzeit zusammen über 1.000 US-Dollar pro Sekunde mit den Covid-Impfstoffen verdienen, bei den Impfstoffherstellern andere Beweggründe als das "öffentliche Wohl" im Spiel sein könnten? Und wie ist es möglich, dass die Linke, die oft unter staatlicher Repression leidet, heute die besorgniserregenden ethischen und politischen Implikationen der Covid-Pässe nicht zu erkennen scheint?

Während der Kalte Krieg mit der Ära der Dekolonisierung und dem Aufkommen einer globalen antirassistischen Politik zusammenfiel, leitete das Ende des Kalten Krieges - neben dem symbolischen Triumph der Dekolonisierungspolitik mit dem Ende der Apartheid - eine existenzielle Krise für linke Politik ein. Der Aufstieg der neoliberalen wirtschaftlichen Hegemonie, die Globalisierung und der Transnationalismus der Unternehmen haben die historische Auffassung der Linken vom Staat als Motor der Umverteilung untergraben.

Hinzu kommt die Erkenntnis, dass die Linke, wie der brasilianische Theoretiker Roberto Mangabeira Unger argumentiert hat, in Zeiten grosser Krisen immer am meisten profitiert hat - die Russische Revolution profitierte vom Ersten Weltkrieg, der Wohlfahrtskapitalismus von den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Diese Geschichte mag zum Teil die heutige Positionierung der Linken erklären: Die Verstärkung der Krise und ihre Verlängerung durch nicht enden wollende Restriktionen mag von einigen als ein Weg gesehen werden, linke Politik nach Jahrzehnten der existenziellen Krise wieder aufzubauen.

Das fehlerhafte Verständnis der Linken über das Wesen des Neoliberalismus mag auch ihre Reaktion auf die Krise beeinflusst haben. Die meisten Linken glauben, dass der Neoliberalismus einen "Rückzug" oder eine "Aushöhlung" des Staates zugunsten des Marktes bedeutet. Daher interpretierten sie den Aktivismus der Regierung während der Pandemie als willkommene "Rückkehr des Staates", die ihrer Ansicht nach potenziell in der Lage ist, das angeblich antistaatliche Projekt des Neoliberalismus letztendlich rückgängig zu machen. Das Problem mit diesem Argument, selbst wenn man seine zweifelhafte Logik akzeptiert, ist, dass der Neoliberalismus nicht zu einem Absterben des Staates geführt hat. Im Gegenteil, der Anteil des Staates am BIP hat während der gesamten neoliberalen Ära weiter zugenommen.

Dies sollte nicht überraschen. Der Neoliberalismus stützt sich ebenso wie der "Keynesianismus" auf umfangreiche staatliche Interventionen, nur dass der Staat jetzt fast ausschliesslich zur Förderung der Interessen des Grosskapitals eingreift - zur Überwachung der Arbeiterklassen, zur Rettung grosser Banken und Unternehmen, die sonst bankrott gehen würden, usw. Tatsächlich ist das Kapital heute in vielerlei Hinsicht mehr denn je vom Staat abhängig. Wie Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan anmerken: "In dem Masse, in dem sich der Kapitalismus entwickelt, werden Regierungen und Grossunternehmen immer enger miteinander verflochten. ... Der kapitalistische Machtmodus und die ihn beherrschenden Kapitalkoalitionen erfordern keine kleinen Regierungen. Tatsächlich brauchen sie in vielerlei Hinsicht grössere".

Der heutige Neoliberalismus ähnelt eher einer Form des Staatsmonopolistischen Kapitalismus - oder der Korporatokratie - als der Art von kleinstaatlichem Kapitalismus der freien Marktwirtschaft, die er oft zu sein vorgibt. Dies erklärt, warum er immer mächtigere, interventionistische und sogar autoritäre Staatsapparate hervorgebracht hat.

Das allein macht den Jubel der Linken über eine nicht existierende "Rückkehr des Staates" peinlich naiv. Und das Schlimmste daran ist, dass sie diesen Fehler schon einmal gemacht hat. Selbst nach der Finanzkrise von 2008 haben viele Linke hohe Staatsdefizite als "Rückkehr von Keynes" gefeiert - obwohl diese Massnahmen in Wirklichkeit sehr wenig mit Keynes zu tun hatten, der zu Staatsausgaben riet, um Vollbeschäftigung zu erreichen, und stattdessen darauf abzielten, die Schuldigen der Krise, die Grossbanken, zu stützen. Darauf folgte ein beispielloser Angriff auf die Sozialsysteme und die Rechte der Arbeitnehmer in ganz Europa.

Etwas Ähnliches geschieht heute, da staatliche Aufträge für Covid-Tests, PSA, Impfstoffe und jetzt auch für Impfpass-Technologien an transnationale Unternehmen vergeben werden (oft durch zwielichtige Geschäfte, die nach Vetternwirtschaft stinken). In der Zwischenzeit wird das Leben und die Lebensgrundlage der Bürgerinnen und Bürger durch die "neue Normalität" erschüttert. Die Tatsache, dass die Linke dies nicht zu bemerken scheint, ist besonders rätselhaft. Schliesslich ist der Gedanke, dass Regierungen dazu neigen, Krisen auszunutzen, um die neoliberale Agenda weiter zu festigen, in der jüngeren Literatur der Linken weit verbreitet.

Pierre Dardot und Christian Laval haben zum Beispiel argumentiert, dass die Krise im Neoliberalismus zu einer "Regierungsmethode" geworden ist. Berühmter ist Naomi Klein, die in ihrem 2007 erschienenen Buch "Die Schock Strategie" die Idee des "Katastrophenkapitalismus" untersucht hat. Ihre zentrale These lautet, dass es in Momenten öffentlicher Angst und Orientierungslosigkeit einfacher ist, Gesellschaften umzugestalten: Dramatische Veränderungen der bestehenden Wirtschaftsordnung, die normalerweise politisch unmöglich wären, werden in rascher Folge durchgesetzt, bevor die Öffentlichkeit Zeit hatte zu verstehen, was passiert.

Heute ist eine ähnliche Dynamik im Spiel. Nehmen wir zum Beispiel die Hightech-Überwachungsmassnahmen, die digitalen Ausweise, die Unterdrückung öffentlicher Demonstrationen und die Beschleunigung von Gesetzen, die von den Regierungen zur Bekämpfung des Coronavirus eingeführt wurden. Wenn die jüngste Geschichte etwas hergibt, werden die Regierungen sicherlich einen Weg finden, viele der Notstandsregelungen dauerhaft zu machen - so wie sie es mit vielen Anti-Terror-Gesetzen nach dem 11. September getan haben. Wie Edward Snowden bemerkte: "Wenn wir sehen, dass Notstandsmassnahmen verabschiedet werden, vor allem heute, dann sind sie in der Regel von Dauer. Der Notstand wird tendenziell ausgeweitet". Dies bestätigt auch die Ideen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben über den "Ausnahmezustand", der jedoch von der Mainstream-Linken für seine Anti-Einsperr-Position verunglimpft wurde.

Letztlich sollte jede Form staatlichen Handelns danach beurteilt werden, wofür sie tatsächlich steht. Wir unterstützen staatliche Eingriffe, wenn sie dazu dienen, die Rechte von Arbeitnehmern und Minderheiten zu fördern, Vollbeschäftigung zu schaffen, wichtige öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, die Macht der Unternehmen zu zügeln, die Dysfunktionalität der Märkte zu korrigieren und die Kontrolle über wichtige Branchen im öffentlichen Interesse zu übernehmen. Doch in den letzten 18 Monaten haben wir genau das Gegenteil erlebt: eine beispiellose Stärkung der transnationalen Konzernriesen und ihrer Oligarchen auf Kosten der Arbeitnehmer und der lokalen Unternehmen. Aus einem Bericht vom letzten Monat, der sich auf Daten von Forbes stützt, geht hervor, dass allein die amerikanischen Milliardäre während der Pandemie einen Vermögenszuwachs von 2 Billionen US-Dollar verzeichnen konnten.

Ein weiteres linkes Hirngespinst, das von der Realität zunichte gemacht wurde, ist die Vorstellung, dass die Pandemie einen neuen Kollektivgeist hervorbringen würde, der Jahrzehnte des neoliberalen Individualismus überwinden könnte. Im Gegenteil, die Pandemie hat die Gesellschaft noch mehr gespalten - in Geimpfte und Ungeimpfte, in diejenigen, die von den Vorteilen intelligenter Arbeit profitieren können, und diejenigen, die das nicht können. Darüber hinaus ist ein Demos aus traumatisierten Individuen, die von ihren Angehörigen getrennt wurden, sich gegenseitig als potenzielle Krankheitsüberträger fürchten und Angst vor körperlichem Kontakt haben, kaum ein guter Nährboden für kollektive Solidarität.

Aber vielleicht lässt sich die Reaktion der Linken besser in individuellen als in kollektiven Begriffen verstehen. Die klassische psychoanalytische Theorie hat einen klaren Zusammenhang zwischen Vergnügen und Autorität aufgezeigt: Auf die Erfahrung grossen Vergnügens (Befriedigung des Vergnügungsprinzips) folgt oft der Wunsch nach erneuter Autorität und Kontrolle, die durch das Ich oder das "Realitätsprinzip" zum Ausdruck kommt. Dies kann in der Tat zu einer umgekehrten Form des Vergnügens führen. Die letzten zwei Jahrzehnte der Globalisierung haben eine enorme Ausweitung der "Lust an der Erfahrung" mit sich gebracht, die von der zunehmend transnationalen globalen liberalen Klasse geteilt wird - von denen sich viele, historisch gesehen, als links identifizierten (und diese Position in der Tat zunehmend von den traditionellen Arbeiterklassen-Wählerschaften der Linken usurpierten).

Diese massive Zunahme von Vergnügen und Erfahrung in der liberalen Klasse ging einher mit einem wachsenden Säkularismus und dem Fehlen jeglicher anerkannter moralischer Zwänge oder Autoritäten. Aus der Sicht der Psychoanalyse lässt sich die Unterstützung dieser Klasse für die "Covid-Massnahmen" ganz einfach so erklären: als das gewünschte Auftreten einer Gruppe von restriktiven und autoritären Massnahmen, die zur Einschränkung des Vergnügens auferlegt werden können, im Rahmen eines moralischen Kodexes, der dort einspringt, wo er zuvor fehlte.

Ein weiterer Faktor, der das Eintreten der Linken für "Covidmassnahmen" erklärt, ist ihr blindes Vertrauen in die "Wissenschaft". Dies hat seine Wurzeln in dem traditionellen Glauben der Linken an den Rationalismus. Es ist jedoch eine Sache, an die unbestreitbaren Tugenden der wissenschaftlichen Methode zu glauben - eine andere ist es, die Art und Weise, in der die Machthaber die "Wissenschaft" zur Durchsetzung ihrer Ziele ausnutzen, völlig zu ignorieren. Die Möglichkeit, sich auf "harte wissenschaftliche Daten" zu berufen, um die eigenen politischen Entscheidungen zu rechtfertigen, ist ein unglaublich mächtiges Instrument in den Händen der Regierungen - es ist in der Tat das Wesen der Technokratie. Dies bedeutet jedoch, dass man sorgfältig die "Wissenschaft" auswählt, die die eigene Agenda unterstützt, und dass man alle alternativen Ansichten aggressiv an den Rand drängt, unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Wert.

Dies geschieht schon seit Jahren im Bereich der Wirtschaft. Ist es wirklich so schwer zu glauben, dass eine solche Vereinnahmung durch Unternehmen heute in der medizinischen Wissenschaft stattfindet? Nach Ansicht von John P. Ioannidis, Professor für Medizin und Epidemiologie an der Stanford University, nicht. Ioannidis geriet Anfang 2021 in die Schlagzeilen, als er zusammen mit einigen seiner Kollegen eine Arbeit veröffentlichte, in der er behauptete, dass es in epidemiologischer Hinsicht keinen praktischen Unterschied zwischen Ländern gibt, die sich abgeschottet haben, und solchen, die dies nicht getan haben. Die Gegenreaktion gegen die Arbeit - und insbesondere gegen Ioannidis - war heftig, vor allem unter seinen wissenschaftlichen Kollegen.

Dies erklärt, warum er kürzlich seinen eigenen Berufsstand scharf anprangerte. In einem Artikel mit dem Titel "How the Pandemic Is Changing the Norms of Science" (Wie die Pandemie die Normen der Wissenschaft verändert) stellt Ioannidis fest, dass die meisten Menschen - vor allem auf der Linken - zu glauben scheinen, dass die Wissenschaft auf der Grundlage der "Mertonschen Normen des Kommunalismus, des Universalismus, des Desinteresses und des organisierten Skeptizismus" funktioniert. Aber so funktioniert die wissenschaftliche Gemeinschaft leider nicht, erklärt Ioannidis. Mit der Pandemie explodierten die Interessenkonflikte der Unternehmen - und dennoch wurde das Reden darüber zu einem Anathema.

Er fährt fort: "Berater, die Millionen von Dollar mit der Beratung von Unternehmen und Regierungen verdienten, erhielten prestigeträchtige Positionen, Macht und öffentliches Lob, während unbelastete Wissenschaftler, die pro bono arbeiteten, es aber wagten, die vorherrschenden Narrative zu hinterfragen, als konfliktbehaftet verleumdet wurden. Der organisierte Skeptizismus wurde als Bedrohung für die öffentliche Gesundheit angesehen. Es kam zu einem Zusammenstoss zwischen zwei Denkschulen, der autoritären öffentlichen Gesundheitspflege und der Wissenschaft - und die Wissenschaft verlor".

Letztlich ist die eklatante Missachtung und Verhöhnung der berechtigten Sorgen der Menschen (über Abriegelungen, Impfstoffe oder Covid-Pässe) durch die Linke beschämend. Diese Sorgen sind nicht nur in tatsächlicher Not begründet, sondern entspringen auch einem verständlichen Misstrauen gegenüber Regierungen und Institutionen, die unbestreitbar von Unternehmensinteressen vereinnahmt worden sind. Wer wie wir einen wirklich progressiv-interventionistischen Staat befürwortet, muss sich mit diesen Bedenken auseinandersetzen - und darf sie nicht abtun.

Aber die Antwort der Linken ist auf der Weltbühne am unzureichendsten, wenn es um die Beziehung zwischen den Beschränkungen des Covid und der sich vertiefenden Armut im globalen Süden geht. Hat sie wirklich nichts zu sagen über die enorme Zunahme von Kinderheiraten, den Zusammenbruch der Schulbildung und die Zerstörung von formellen Arbeitsplätzen in Nigeria, wo nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde 20 % der Menschen während der Abriegelungen ihre Arbeit verloren haben?

Was ist mit der Tatsache, dass das Land mit den höchsten Covid-Sterblichkeitszahlen und der höchsten Übersterblichkeitsrate im Jahr 2020 Peru war, das eine der strengsten Abriegelungen der Welt hatte? Zu all dem wurde praktisch geschwiegen. Diese Position muss im Zusammenhang mit der Vorrangstellung nationalistischer Politik auf der Weltbühne gesehen werden: Das Scheitern linker Internationalisten wie Jeremy Corbyn bei den Wahlen bedeutete, dass umfassendere globale Themen wenig Zugkraft hatten, wenn es um eine breitere Reaktion der westlichen Linken auf Covid-19 ging.

Es ist erwähnenswert, dass es in der Linken Ausreisser gab - linksradikale und sozialistische Bewegungen, die sich gegen den vorherrschenden Umgang mit der Pandemie ausgesprochen haben. Dazu gehören Black Lives Matter in New York, linke Lockdown-Skeptiker im Vereinigten Königreich, die chilenische städtische Linke, Wu Ming in Italien und nicht zuletzt die sozialdemokratisch-grüne Allianz, die derzeit in Schweden regiert. Das gesamte linke Meinungsspektrum wurde jedoch ignoriert, was zum Teil auf die geringe Zahl linker Medien zurückzuführen ist, aber auch auf die Marginalisierung abweichender Meinungen vor allem durch die Mainstream-Linke.

Vor allem aber war dies ein historisches Versagen der Linken, das katastrophale Folgen haben wird. Jede Form des populären Dissenses wird wahrscheinlich wieder von der (extremen) Rechten hegemonisiert werden, was jede Chance der Linken zunichte macht, die Wähler zu gewinnen, die sie braucht, um die Hegemonie der Rechten zu brechen. In der Zwischenzeit hält die Linke an einer Technokratie von Experten fest, die durch den katastrophalen Umgang mit der Pandemie im Hinblick auf den sozialen Progressivismus schwer geschwächt ist. Da jede Art von wählbarer Linker der Vergangenheit angehört, werden die Diskussion und der Dissens, die das Herzstück jedes echten demokratischen Prozesses sind, wahrscheinlich mit ihr verschwinden.

Toby Green and Thomas Fazi
Übersetzung: Thomas Trüten

https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/panorama/coronavirus-pandemie-linke-positionen-versagen-6754.html

Die SCHOCKDOKTRIN.
Dabei bestehe die Methode darin, Momente kollektiver traumatischer
Erfahrungen dazu zu nutzen, einen radikalen sozialen & wirtschaftlichen
Umbau durchzusetzen.
Und so funktioniert die Schockdoktrin:
Ein ursprüngliches Desaster versetzt nahezu die gesamte Gesellschaft in
einen kollektiven Schockzustand & klopft diese für die kommenden Veränderungen
weich. Auf diese Weise geben schockierte Gesellschaften oft Dinge auf,
die sie ansonsten vehement verteidigen würden.
Unternehmen & Politiker würden die Angst & Orientierungslosigkeit der Menschen
durch den SCHOCK ausnutzen, um eine wirtschaftliche SCHOCKTHERAPIE durchzusetzen.
Damit diese uneingeschränkt angewandt werden kann, sei ein großes kollektives
Trauma vonnöten, das demokratische Praktiken entweder vorübergehend außer
Kraft setzt oder sie völlig unterbindet.
Dazu bedarf es autoritärer Verhältnisse & des gezielten Einsatzes der Organe
der staatlichen Ordnungsmacht.
Bereits vor mehr als zehn Jahren bezeichnete Naomi Klein dieses Szenario
als "SCHOCKSTRATEGIE" & nannte die gesellschaftlichen Verhältnisse
"KATATROPHEN-KAPITALISMUS".
Der größte & wirkungsvollste Schockzustand tritt jedoch dann ein, wenn sich
Menschen durch eine auftretende Gefahr unmittelbar in ihrem Leben bedroht
fühlen, wenn es für sie - und sei es nur scheinbar - um Leben und Tod geht.
Da der Tod in der westlichen Kultur seit langem schon tabuisiert und aus
dem Bewusstsein der Menschen verdrängt wird, können sie sich mit ihrer
STERBLICHKEIT kaum abfinden.
In einem - zunächst vertraulichen - ministeriellen Strategiepapier zur
Eindämmung von COVID-19 wird die SCHOCKSTRATEGIE aufgegriffen und angewandt.
Das Papier wurde durch eine Gruppe von Wissenschaftlern - mehrheitlich
Wirtschaftswissenschaftler - erstellt und dürfte eine wichtige Rolle bei
der Entscheidung der Bundesregierung für die wirtschafts- und grundrecht-
einschränkenden Maßnahmen der Lockdowns gespielt haben.
Statt die Menschen mit sachlich begründeten Informationen zu versorgen
und aufzuklären, um auf diese Weise Vertrauen zu schaffen und vorhandene
Ängste abzubauen, setzten die Wissenschaftler auf eine völlig andere
Vorgehensweise.
So plädieren sie in aller Offenheit für eine Strategie, deren Ziel es
sein müsse, die Bevölkerung durch eine "gewünschte Schockwirkung in Angst
zu versetzen. Dazu soll beispielsweise die "Urangst" eines jeden Menschen,
die ANGST ZU ERSTICKEN oder nicht genug Luft (zu) kriegen, wachgerufen
werden.

Buchempfehlung:

Mit Beiträgen von Jens Bernert, Matthias Burchardt, Moritz Enders, Anneliese Fikentscher, Hannes Hofbauer, C. J. Hopkins, Caitlin Johnstone, Peter Koenig, Ullrich Mies, Anselm Lenz, Andreas Neumann, Marco Pizzuti, Hermann Ploppa, Wolfram Rost, Daniel Sandmann, Aya Velázquez, John W. Whitehead, Walter Weber und Ernst Wolff.

Die Corona-Krise brachte es an den Tag: Seit Beginn des Jahres 2020 ist die Fassade der westlichen Demokratien zusammengebrochen. Beim Umgang mit der Pandemie griffen die Machthaber fast allerorts zu autoritären Methoden. Ihre Instrumentalisierung geriet zu einem Eliten-Komplott, das jede Verschwörungstheorie in den Schatten stellt. Nichts hat die reale Funktion des bürgerlichen Staates so klar ins Licht gerückt wie diese Krise.

Regierungen arbeiten als Exekutiven für Big Money, Big Pharma und Big Data. Der geheimdienstlich und militärisch organisierte Kriegs- und Sicherheitskomplex wurde dadurch zum Feind der eigenen Bevölkerungen.

Im Schatten des Corona-Ausnahmezustands wird die Errichtung einer totalitären Ordnung geprobt. Demokratinnen und Demokraten sind aufgerufen, diesen Plan zu durchkreuzen. Der vorliegende Band soll einen Beitrag dazu leisten.

Ullrich Mies lässt internationale Expertinnen und Experten zu Wort kommen. Sie befassen sich mit der „Neuen Normalität“, die die Globalisten der Finanzwelt und des World Economic Forum für die Menschheit vorgesehen haben: eine digitalisierte, kontrollierte und transhumanistische, eine entmenschlichte Welt. Dagegen gilt es, die Analyse zu schärfen und die Erkenntnis als Waffe des Widerstands einzusetzen.

Der Autor

Ullrich Mies, Jahrgang 1951, studierte Internationale Politik in Duisburg und Kingston/Jamaika. Seine Arbeitsgebiete umfassen Kapitalismuskritik, Demokratiezerfall und Antimilitarismus. Im Promedia Verlag erschienen von ihm (als Herausgeber gemeinsam mit Jens Wernicke): „Fassadendemokratie und Tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter“ (9. Auflage 2021) sowie „Der Tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet” (3. Auflage 2019).

Buchempfehlung:

Mit Texten von Wolf Wetzel, Marlene Streeruwitz, Moshe Zuckermann, Norman Paech, Rainer Fischbach, Birgit Sauer, Farid Hafez, Michael Meyen, Diether Dehm, Joachim Hirsch, Maria Wölflingseder, Imad Mustafa, Dieter Reinisch, Karl Reitter und Christian Schubert.

Die Machtausübung unserer Tage basiert auf mehreren Säulen. Noch immer scheint jene Definition zu gelten, mit der Antonio Gramsci vor bald 100 Jahren den (bürgerlichen) Staat beschrieb: „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Die jeweiligen Regierenden erkaufen die Akzeptanz zu ihrer Politik mit materiellen Zugeständnissen – so dies ökonomisch möglich ist. Parallel dazu betreiben sie eine Herrschaftstechnik, die immer offener zutage tritt: die Erzeugung von Angst. Dies ermöglicht dem Staat stärkere Befugnisse und lenkt die Aufmerksamkeit der Menschen auf das jeweilige Drohszenario.

Die vermittelten Gefahren haben reale Ausgangspunkte und reichen von Terroranschlägen bis zur Ausbreitung von Viren. Dem Liberalismus ist das Autoritäre inhärent und er nutzt Bedrohungen, um die Kontrolle des sozialen Lebens auszuweiten und die demokratische Teilhabe weiter einzuschränken. Das Motto der Maßnahmen, seien es zunehmende Überwachung, Anti-Terrorgesetzgebung, Austeritätsregime, Ausgangssperren oder Lockdowns, lautet: Es gibt keine Alternative. Medien transportieren und verstärken diese Botschaft und sorgen dafür, dass die von oben verbreitete Angst nach unten in alle gesellschaftlichen Bereiche durchsickert, sodass Menschen dazu übergehen, sich gegenseitig unter Druck zu setzen, um den politischen Vorgaben Folge zu leisten.

Der Sammelband „Herrschaft der Angst“ setzt sich mit historischen Beispielen und Auswirkungen dieser – im Zuge der sogenannten Corona-Krise verstärkten – Strategie auseinander. Von den Notstandsverordnungen in der BRD der 1970er-Jahre über das Beispiel der israelischen Politik der Furcht bis zur Islamophobie und den Pandemie-Verordnungen reicht der Bogen der Beiträge. Dazu werden auch kulturelle und psychologische Folgen der Herrschaft durch Angst in den Blick genommen, die wiederum in negativer Weise auf die Gesellschaft zurückwirken.

Ein emanzipatorischer Aufbruch ist dringend notwendig. Dafür ist eine Kritik an der verordneten Angst unerlässlich.

Die Herausgeber

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Publizist und Verleger. Im Promedia Verlag ist von ihm u.a. erschienen: „Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter“ (2. Auflage 2015).

Stefan Kraft, geboren 1975 in Wien, ist Verleger und Publizist in Wien. Von ihm erschien im Promedia Verlag „Rosa Luxemburg“ (2005, gemeinsam mit Fritz Keller) und „Der junge Marx“ (2007, gemeinsam mit Karl Reitter).

Für meine Schwester, die sich nicht hat impfen lassen Corona: Widersprüche & Fehlannahmen. Man kann eine Krise beenden, indem man zur nächsten übergeht. Mag sein, dass ein Krieg interessanter ist, als ein Virus, dessen Letalitätsrate in Deutschland bei 0,81 Prozent liegt.

Ich werde dennoch nicht vergessen, in was für Widersprüche man uns in jener Zeit einzuschliessen versuchte (all die hochherzigen Appelle: soziale Kontakte vermeiden, um „sozial“ zu sein, auf die Freiheit verzichten, um die Freiheit zu retten usw.) und sich mit dem „Präventionsparodox“ gegen jede Massnahmenkritik immunisierte. Rational lassen sich folgende Fehlannahmen im Zusammenhang mit der Pandemie rekonstruieren (wobei ich die krassesten einmal unkommentiert lasse, also dass NICHTS unternommen werden müsse, die Alten uns eh nur auf der Tasche lägen, wie Rechte oder „Neoviralisten“ zu Beginn der Pandemie tatsächlich meinten (1), und auf der anderen Seite ALLES getan werden müsse, um eine Infektion zu verhindern, wie die Befürworter der Zero-Covid-Strategie aus dem linken Spektrum (2)):

1.) dass die Impfung aus der ganzen Misere herausführe – die wohl folgenschwerste Fehlannahme, denn aus ihr leiteten sich weitere ab, nämlich,

1a) dass Impfen Fremdschutz, also ein „Akt der Solidarität“ sei, und folglich

1b) Ungeimpfte „Treiber der Pandemie“ (die Hoffnung darauf ist noch verzeihlich, man wusste zu Beginn einfach nicht, wie schnell der Impfschutz wegschmilzt; unverzeihlich aber ist der Umgang mit jenen, die sich gegen eine Impfung entschieden haben, ihre Ausgrenzung, ihre Dämonisierung; es ist in diesem Zusammenhang mehr als ein schlechter Witz, dass Ugo Mattei den Status als Ungeimpfter ganz bewusst als eine Form der sozialen Erfahrung begreift: „Ich habe mich nicht impfen lassen, um ein einziges Mal die Welt aus der Perspektive derer zu sehen, die aus sozialen Prozessen ausgeschlossen sind.“ Als weisser privilegierter bürgerlicher Mann könne er weder schwarz noch eine Frau werden, so der 61- Jährige. Die Erfahrung, die er als Nichtgeimpfter mache, sei insofern „ein grosses Geschenk.“ (3)).

2.) dass das Gesundheitssystem durch selbstverantwortliches Handeln zu entlasten sei (damit wird ein Aufgabenbereich, der zur staatlichen Verantwortung gehört, zu der des Bürgers verkehrt: „als müssten er durch Nicht-Erkrankung eine defizitäre Gesundheitspolitik vor ihrem Offenbarungseid schützen. Ebenso gut könnte man Führerscheinprüfung und Kfz-Zulassung verbieten, weil man eine Überfüllung der Strassen befürchtet oder dass es zu wenige Parkplätze gibt. Eine Gesundheitspolitik, die mit der flächendeckenden Schliessung von Krankenhäusern und Kliniken fortfährt, aber einen Mangel an Pflegekräften und Intensivbetten beschwört, um das Angstniveau zu schüren, zugleich aber schon im Sommer 2020 ca. 400.000 Kurzarbeiter im medizinischen Bereich verzeichnet und den durch ausgesetzte Behandlungen und Operationen defizitären Betrieb durch massive Subventionen vor der Insolvenz schützen muss, fällt dem Irrsinn seiner eigenen Massregelungen zum Opfer, für die kein Bürger in Haftung zu nehmen oder gar zum Verzicht auf seine Grundrechte zu zwingen ist.“ (4))

3.) dass Experten, in diesem Fall Virologen und Epidemiologen, den Politikern und Politikerinnen ihre Entscheidungen abnehmen sollten (diese Fehlannahme war sogar in vermeintlich gebildeten Kreisen anzutreffen, Stichwort: „Listen to the scientists“; dazu Michael Hirsch: „Natürlich muss die Politik die relevanten Daten und Prognosen von Virologen und Medizinern berücksichtigen. Aber die eigentlich schwierigen Entscheidungen der Stunde sind eben tragische politische Entscheidungen. Es ist ein gefährlicher Irrglaube, sie könnten ‚wissenschaftlich’ legitimiert werden. Denn Wissenschaft ist, je mehr sie nicht nur die Natur, sondern das menschliche Zusammenleben betrifft, in ihrem Wesen kontrovers. Die letzten Entscheidungen sind hier nicht objektive Feststellungen über Tatsachen, sondern politische und philosophische Wertungen über die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens. Hier gibt es keine Werturteilsfreiheit, und das bedeutet: Das Maximale an Wissenschaftlichkeit ist die saubere Kennzeichnung des eigenen gesellschaftspolitischen und philosophischen Standorts.“ (5))

4.) dass Grundrechte an den Impfstatus gekoppelt sind (sie sind unveräusserlich; Grundrechte heissen Grundrechte, „weil sie grundsätzlich auch in gefährlichen Zeiten gelten sollten“ (6)).

5.) dass „die Politik“ vom Prinzen des Virus aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt werden und ihre volle Gestaltungsmacht auf die Hinwendung der Welt zum Besseren verwenden würde.“ (7) Auch diese Hoffnung ist verzeihlich. Doch nach der Ausgangssperre werden wir nicht in einer neuen Welt erwachen, wie Houellebecq schreibt, „es wird dieselbe sein, nur ein bisschen schlechter.“ (8)

MAS

Fussnoten:

1. Thomas Assheuer, „Menschenopfer für den Kapitalismus“, in: Die Zeit (01.05.2020); Jean-Luc Nancy, „Neoviralismus“, in: ders.: Ein allzumenschliches Virus. Wien 2021, S. 43-46.

2. Alex Demirović, „Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist. Zur Kritik des Aufrufs #ZeroCovid“, in: analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte & Praxis (18.01.2021).

3. zit. n. Andrea Dernbach, „Giorgio Agamben tritt gegen Corona-Massnahmen auf“, in: Der Tagesspiegel (11.01.2022).

4. Rudolf Brandner, „Pathologie der Freiheit“, in: Compact Aktuell 2021, S. 31-62, hier: 58.

5. Michael Hirsch, „Das Elend der Expertokratie“, in: Textem. Texte und Rezensionen (14.04.2020); vgl. zu diesem Thema auch: „Was kann die Wissenschaft bei Pandemien leisten? Ein Essay, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vorgelegt am 22.12.2020 von Alexander Bogner“ https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/NEWS/2021/PDF/Bogner_Alexander_de_PF_2020-26_final-CD-1.pdf

6. „Nicht die Beschränkung ist der Normalzustand“. Heribert Prantl im Gespräch mit Tobias Armbrüster, in: Deutschlandfunk (10.02.2021)

7. Henning Trüper: Seuchenjahr. Berlin 2021, S. 21.

8. Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen. Köln 2020, S. 184.

Impfpflicht, Impfpatente und Gesundheitspolitik (Un)-gesundheitspolitik im Kapitalismus Wir hören immer wieder: "Zurück zur Normalität", endlich wieder "back to normal". Wer diese Normalität zeichnet ist eine Frage, die zunehmend lauter gestellt wird.

Mir ist wichtig vorab zu betonen, dass ich diesen Text schreibe, ohne einen medizinischen Hintergrund zu haben und das Thema rein aus meiner Perspektive als Mensch betrachte, der sich für das gesundheitliche Wohlergehen meiner Mitmenschen und unserer Gesellschaft interessiert. Jedoch nicht um das Wohlergehen um jeden Preis. Ich bin davon überzeugt, dass der Schutz vor SARS-CoV-2 oder einem vergleichbaren Virus mit einer derart grossen "Schlagkraft" in einer nicht-kapitalistischen Welt anders aussehen würde.

Wenn wir feststellen, wer von Kriegen profitiert, indem wir auf die steigenden Aktienkurse von bspw. Rheinmetall sehen, dann liegt es für mich auch nah zu hinterfragen, wer von der Immunisierung gegen Corona profitiert.

Einem Staat blind Entscheidungen zur eigenen Gesundheit zu überlassen, ist eine denkbar schlechte Idee.

Der "Kampf" gegen ein Virus, das gefährlich für uns werden kann geschieht nicht im luftleeren Raum (siehe Quelle 1). Die Massnahmen in diesem Kampf wurden von der herrschenden Klasse bestimmt. Diese Massnahmen schienen teilweise willkürlich (z.B. Ausgangssperren nachts).

Doch wie willkürlich sind Massnahmen, Regelungen, Bestimmungen, Verordnungen (Quelle 2) in unserer Welt wirklich, wenn das System, in dem wir leben und agieren, ein System ist, das nach Profit strebt? Kann es dann Massnahmen geben, die nur auf unseren "gesundheitlichen Schutz" abzielen? Nein, kann es nicht.

Impfpflicht

Eine staatlich verordnete Impfpflicht widerspricht unseren Vorstellungen von einer selbstbestimmten Gegenwart und autonomen Entscheidungen über das eigene Leben und die Gesundheit.

Eine Handlung, die das eigene Leben so unmittelbar betrifft wie ein medizinischer Eingriff, sollte nicht in die Hände des Staates gelegt werden. Wir sind für eine freie Impfentscheidung.

Wir hinterfragen die blinde Befürwortung von Massnahmen, die uns als Vorteil für unsere Gesundheit präsentiert werden und für unser aller Wohl sorgen sollen. Der Staat handelt immer innerhalb von bestimmten politischen Interessen.

Aktuell (20.04.2022) ist es "erlaubt" in einem Nachtclub tanzen zu gehen, dies macht das Ganze noch nicht "sicher" im Sinne des Infektionsschutzes. Das erscheint total logisch. Andersherum wurden Menschen, die Regeln brachen, z.B. die Ausgangssperre nicht beachteten, als massive Bedrohung für unser aller Gesundheit dargestellt. Das ist paradox.

Es gibt Gründe, daran zu zweifeln, dass der Grossteil der "Corona - Massnahmen" unsere Gesundheit sichern sollten:
  • Nur weil eine Impfung mich ganz persönlich schützt, heisst dies nicht, dass dieser Schutz vor z.B. einem schweren Verlauf, die einzige Motivation der Politiker*innen widerspiegelt. Denn die Biotechnologie ist ein grosser Markt, der zunehmend erschlossen wird, und zu glauben, dass diese zwangsläufig profitorientierten Unternehmen in Kooperation mit dem Staat nichts als unser gesundheitliches Wohl im Fokus haben, ist schlichtweg naiv. Erst recht vor dem Hintergrund eines aktiven Blockierens der Patentfreigabe durch u.a. Deutschland.
  • Menschen gegen ihren Willen und ohne ihre Bedenken, Sorgen, Ängste aufzulösen, zur Impfung zu zwingen, ist nicht, wie es gern mal dargestellt wird, "hilfreich" und "erlösend" (Quelle 3). Das Narrativ einer "Befreiung" durch eine Impfung ist sowieso mehr als fragwürdig.
  • In vielen Debatten in Öffentlichkeit, Medien und im Bundestag zur Impfpflicht schien das Thema Impfen irgendwann auch nicht mehr ausschliesslich aus einer gesundheitlichen Perspektive betrachtet zu werden. Stattdessen ging es zunehmend darum, sich gegen Oppositionen, verschiedene Protestbewegungen und Ideologien zu behaupten und die jeweils eigene Durchsetzungskraft zu beweisen. Es wurde also erwogen, Menschen nicht nur oder vorwiegend aus medizinischen Anlässen, sondern durchaus auch aus politischen Gründen zu einer medizinischen Behandlung zu verpflichten. Medizinische Behandlungen sollten also zur Stärkung der politischen Durchsetzungskraft eingesetzt werden, was eine sehr fragwürdige Praxis und Prämissen bedeutet hätte.
Auch jetzt in einer Zeit, in der Menschen aus der Ukraine in Deutschland ankommen, haben sich die Probleme gezeigt, die mit der Vorstellung einer Impfung als "Standardausstattung" einhergehen. Nicht nur, dass die Flucht nicht-weisser Menschen bedauerlicherweise sowieso erschwert ist durch rassistische Vorgehensweisen an den Grenzkontrollen. Hinzu kommen zum Beispiel Situationen wie in Stuttgart, als Menschen nicht im Hotel untergebracht werden konnten, da entsprechende Impf- oder Testnachweise nicht vorgezeigt werden konnten (Quelle 4).

Eine Person, die ich vor einigen Wochen in meiner Strasse traf, erzählte mir von dem Unverständnis gegenüber den Booster-Impfungen, als wir ins Gespräch vor dem Essensverteiler-Schrank kamen. Sie eröffnete mir ihre Angst vor der Impfung aufgrund von zahlreichen Allergien und ihre Skepsis wegen "immer kürzer werdender Zeiträumen zwischen den Impfungen". Es geht um so viel mehr als nur Zahlen, Studien und Fakten. "Die Wissenschaft" hätte mir in diesem Gespräch nicht helfen können. Die Corona-Krise treibt so viele Menschen noch tiefer in die Prekarität (Quelle 5).

Wir sollten uns vor Augen führen, dass sich bei Diskussionen über Corona auf Erkenntnisse aus der Wissenschaft zu beziehen ein Privileg ist. Nicht alle haben Zeit, Musse und Interesse sich mit dem auseinander zu setzen, was Virolog*innen Tag für Tag von sich geben. Wenn viele keinerlei Einblicke haben in die Lebensrealität von Menschen, die wohl am meisten unter der Krise leiden, fällt es leicht alle als "verrückt" und "verschwurbelt" zu zeichnen, die sich nicht freiwillig Christian Drostens Podcast reinziehen.

Es braucht wohl einiges, um die Wunden der Krise zu heilen, was genau es braucht müssen wir gemeinsam rausfinden und erkämpfen. Was wir jedoch nicht brauchen sind zentrale Impfregister, die wir entschlossen ablehnen.

Ein Ansatz zur Bewältigung wäre es Empathie zu üben, die Fähigkeit zu erproben, Positionen in ihrer Vielfalt auszuhalten. Und nein, damit sage ich nicht, dass rechtsradikales Gedankengut eine legitime Meinung ist. Damit sage ich lediglich, dass z.B. der Mensch, der mit seinem Laib Brot aus dem Verteiler-Schrank vor mir stand und von seinem Unwohlsein gegenüber den gesellschaftlichen Umständen berichtete und mir seine Ängste eröffnete - eine legitime Meinung hat und es einfach nur schade ist, dass er und viele andere Gefahr laufen sich in rechten Narrativen auf der Suche nach Antworten zu verlieren, weil Linke abgesehen von "ZeroCovid" kaum teilnahmen im Diskurs über die Probleme der letzten Jahre.

Impfpatente

Indien und Südafrika haben 2020 den sogenannten "Trips Waiver" Antrag gestellt, in dem die Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Technologien für den Zeitraum der Pandemie gefordert wird. Seit über einem Jahr stimmt Deutschland diesem Antrag nicht zu und verhindert somit eine Verteilung des Impfstoffes an Impfwillige weltweit. Deutschland kann sich momentan sowieso gut hinter der allgemeinen Empörung über die 23 % der aus unterschiedlichsten Gründen nicht geimpften Menschen verstecken.

Ohne Frage wird die Freigabe der Impfpatente nicht alles Leid der Krise beenden, trotzdem ist es eine mögliche Positionierung, die von der Verantwortung eines einzelnen Menschen und dem Impfstatus weggeht und Konzerne, die von der Blockade der Patentfreigabe profitieren, in die Mangel nimmt (Quelle 6).

Lasst uns jedoch nicht so tun, als ob wir uns viel von solchen Forderungen an die Politik erhoffen, wir erhoffen uns gar nichts von Regierenden, denn wir wissen, dass der Fokus nicht darauf liegt, uns alle gut durch eine Gesundheits- und Gesellschaftskrise zu bringen.

Gesundheitspolitik

Die Krisenpolitik aka "Corona-Politik" ist eine nur schwer überschaubare und alles andere als übersichtliche Politik. Von Masken-Deals bis zum Aussetzen von kostenlosen Schnelltests (Quelle 7 u. 8) schien kaum eine Massnahme beruhigend für mich und grosse Teile meine Umfeldes.

Es gab und gibt zahlreiche Änderungen, Regeln, die sich ständig ändern, Massnahmen, die angepasst werden, neue Einreisebestimmungen, moralische Erwartungen an das "solidarisch" sein, Impfungen, die plötzlich doch nicht mehr gültig sind (Quelle 9) oder Impfstoffe, die in den EU-Staaten gar nicht erst zugelassen wurden.

Ausserdem digitale Pässe, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und Menschen wundern sich noch über Aufstände in Berliner Parks (Quelle 9)? Dabei sollte es viel mehr dieser Aufstände geben, die Wut ist berechtigt - the kids are alright.

Eine kritische Auseinandersetzung mit staatlichen Massnahmen ist wichtig für jede*n. Einfach nur diejenigen, die Kritik äussern und dies vielleicht nicht auf eine akademische Art und Weise tun, die sich manche Linken anscheinend wünschen, als Nazis zu diffamieren, ist schlichtweg falsch.

Man läuft nicht mit Nazis, aber man kuschelt auch nicht mit Krisenprofiteuren!

Wir hören immer wieder: "Zurück zur Normalität", endlich wieder "back to normal". Wer diese Normalität zeichnet ist eine Frage, die zunehmend lauter gestellt wird. Ob wir überhaupt dahin zurück wollen oder können steht sowieso schon lange im Raum. Es sollte kein zurück zur "Normalität" der Herrschaft geben, doch die Herrschenden haben nun eine ganze Reihe neuer Instrumente zum Erhalt dieser Macht ergattert.

Gruppe Autonomie und Solidarität

Quellen:

Q1: Impfstoff-Verteilung: Das geopolitische Tauziehen ARTE: https://www.youtube.com/watch?v=cTzTEfAOWdU Überwachen und Impfen: Corona, Kolonialismus und Biopolitik https://www.heise.de/tp/features/Ueberwachen-und-Impfen-Corona-Kolonialismus-und-Biopolitik-6315168.html?seite=all

Q2: Verordnungen DE in Folge der Covid-19-Pandemie: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_infolge_der_COVID-19-Pandemie_erlassenen_deutschen_Gesetze_und_Verordnungen

Q3: Lage der Nation, Politikpodcast | Impfgegnern eine Brücke bauen: https://www.deutschlandfunkkultur.de/impfpflicht-gruppenidentifikation-100.html

Q4: 3G Nachweis Geflüchtete in Stuttgart: https://www.badische-zeitung.de/kriegsfluechtlinge-scheitern-in-baden-wuerttemberg-an-3g--210253741.html

Q5: Armut und Corona in Deutschland: https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/armut-corona-pandemie-bericht-100.html

Q6: Podcast zu "Hintergrundinfos zum pandemischen Systemversagen": https://www.medico.de/boosterkapitalismus-18474

Q7: Maskendeals: https://www.sueddeutsche.de/bayern/masken-deal-sauter-nuesslein-elfeinhalb-millionen-euro-1.5269605

Q8: Aussetzung kostenloser Schnelltest: https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/03/30/kostenlose-buergertests-ab-juni-nur-noch-in-ausnahmefaellen

Q9: Impfstatus Johnson&Johnson: https://www.kreiszeitung.de/deutschland/geimpfte-gericht-kippt-unvollstaendigen-impfstatus-johnson-johnson-zr-91359748.html

Q10: Berliner Riots 2021: https://newsrnd.com/news/2021-06-14-rioting-in-berlin-parks--police-take-action-against-thousands-of-party-people.r1go4_4Vid.html

Textauswahl zum Nachlesen:

- Text 1 aus der Textreihe Autonomie und Solidarität: Positionspapier, Kritik am Umgang mit der COVID 19 Pandemie https://enough-is-enough14.org/2022/04/12/gruppe-autonomie-und-solidaritaet-kritik-am-umgang-mit-der-covid-19-pandemie/

- Text 2 aus der Textreihe Autonomie und Solidarität: Die soziale Frage und die neue Form von „Solidarität“ https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/gesellschaft/panorama/corona-pandemie-soziale-frage-solidaritaet-klassismus-ungleichheit-7002.html

- Überwachen und Impfen: Corona, Kolonialismus und Biopolitik: https://www.heise.de/tp/features/Ueberwachen-und-Impfen-Corona-Kolonialismus-und-Biopolitik-6315168.html?seite=all

- Corona ist das Virus, Kapitalismus ist das Problem : https://de.indymedia.org/node/182061

- Impfplicht und Gruppen: https://www.deutschlandfunkkultur.de/impfpflicht-gruppenidentifikation-100.html

Linke Konfusion in der Spätpandemie Hinnehmen oder durchdrehen? Anarchist:innen verbreiten esoterische Impfkritik, Feministinnen treten an Anti-Massnahmen-Demonstrationen auf und an linken Veranstaltungen werden Ausweise kontrolliert.

Am Anfang der fünften Corona-Welle zeigt sich: Es ist höchste Zeit, die vergangenen Debatten um emanzipatorische Perspektiven wieder aufzunehmen.

Als im Frühsommer in der Schweiz die Impfkampagne gegen das Corona-Virus startete, machte sich Erleichterung breit. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum gewohnten Freizeit-, Konsum- und Arbeitsverhalten war nach über einem Jahr der gesundheitlichen und ökonomischen Ausnahmesituation gross. Durch die Impfung schien alles wieder langsam in gewohnte Bahnen zurückzukehren. Auch viele Linke rechneten mit so etwas wie «Normalität». Soliparties und Plena finden wieder statt, die Polizei löst Demonstrationen nicht mehr unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung auf und es treten auch wieder andere Themen in den Vordergrund.

Doch schon einige Monate später muss man konstatieren, dass von einem «Vor-Pandemie-Zustand» keine Rede sein kann. Die reiche Schweiz hat die niedrigste Impfquote in ganz Westeuropa. Dafür sind die Anti-Massnahmen-Proteste grösser als je zuvor. Mit ihnen etabliert sich zum ersten Mal seit den 1990er-Jahren eine kontinuierliche rechte Präsenz auf den Strassen von Schweizer Städten. Gleichzeitig steigen die Inzidenzen wieder an und die Situation im Gesundheitswesen bleibt angespannt.

Auch in der (radikalen und nicht-so-radikalen) Linken knarrt es im Gebälk. Insbesondere die Frage nach der Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die Impfung, das Covid-Zertifikat und die Proteste dagegen sorgen für einige Konfusion und legen Widersprüche offen. Debatten um Analyse und Strategie wären sicher zu begrüssen, doch (noch) herrschen Gehässigkeiten und gegenseitige Unterstellungen auf Twitter, Mailinglisten und barrikade.info vor.

Linke Strategien in der Pandemie

Vor allem zu Beginn der Pandemie gab es durchaus Diskussionen darüber, wie emanzipatorische Strategien und Forderungen aussehen könnten. Die inflationäre Verwendung des Begriffs «Solidarität» im staatlichen Diskurs wurde von Linken mit Argwohn zur Kenntnis genommen. Statt die Solidarität an den Staat zu delegieren, wurde nach einem angemessenen Umgang mit der Pandemie gesucht. Für viele war klar, dass es wichtig ist, die vom Virus ausgehende Gefahr für die Gesundheit, wie auch die ökonomischen Konsequenzen eines Lockdowns für die Proletarisierten ernst zu nehmen und sich dabei nicht auf den Staat zu verlassen. Man war sich zudem weitgehend einig, dass physische Kontakte und damit das Risiko einer Ansteckung reduziert werden sollte.

Auf der Ebene der Praxis hatte die radikale Linke hierzulande zunächst Mühe, sich mit der veränderten Situation zurechtzufinden. Sie schwankte zwischen selbstreferenziellem Aktionismus, Internet-Engagement und direkter Unterstützung von Proletarisierten und Geflüchteten.

Die radikale Linke hierzulande hatte zunächst Mühe, sich mit der veränderten Situation zurechtzufinden. Plötzlich standen Aktions- und Organisationsformen, die jahrelang belächelt oder vernachlässigt wurden wieder im Zentrum der Diskussion.

Plötzlich standen Aktions- und Organisationsformen, die jahrelang belächelt oder vernachlässigt wurden, wie beispielsweise Basisarbeit in den Betrieben oder solidarische Nachbarschaftsstrukturen, wieder im Zentrum der Diskussion. Der Zusammenschluss Solidarität gegen Corona rief auf Plakaten zur «kollektiven Verantwortung anstatt staatlicher Zwangsmassnahmen» sowie gegenseitiger Hilfe in Form von Nachbarschaftsstrukturen auf und forderte bessere Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal, kostenlose Gesundheitsversorgung für alle, Aussetzung der Mieten und genügend Unterstützung für Arbeiter:innen, Arbeitslose und Geflüchtete. Es wurde allerdings schnell klar, dass es keine gesellschaftliche Kraft gibt, die in der Lage wäre solche Forderungen durchzusetzen. Die fehlende Verankerung der radikalen Linken trat offen zu Tage und der Aufruf blieb ein Schrei ins Leere.

Andere setzten auf Appelle an den Staat. Die Initiative ZeroCovid, die auch in der Schweizer Linken einige Anhänger:innen fand, forderte einen «solidarischen Lockdown von unten», was vor allem die Schliessung der Arbeitsplätze meinte. Daraus entbrannte in der Linken kurzzeitig eine breite Debatte.

Alex Demirović warnte davor, dass der Aufruf die autoritären Tendenzen der staatlichen Pandemiebekämpfung verstärken könnte und machte darauf aufmerksam, dass es problematisch sei, im Namen der Wissenschaftlichkeit und der Solidarität Isolation zu propagieren und keine eigene Positionen auf die Strasse zu bringen. Die Gruppe Solidarisch gegen Corona, welche die zahlreichen Kämpfe der Proletarisierten weltweit gegen die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Verheerungen der Pandemie dokumentierte, wies darauf hin, dass die Frage danach, wer die Massnahmen gestaltet, durchsetzt und bezahlt nicht einfach als Details abgetan werden können.

Eine Reflexion über die Erfahrungen während der Pandemie hat bisher aber nicht stattgefunden. Das mag auch daran liegen, dass die befürchtete gesundheitliche und ökonomische Katastrophe im eigenen Vorgarten ausgeblieben ist. Es gibt kein spektakuläres Scheitern aufzuarbeiten.

Ausweiskontrolle und Namenslisten im besetzten Haus?

In der aktuellen Diskussion um das Covid-Zertifikat bleibt es in der radikalen Linken bislang recht still. Es stellt sich vor allem die Frage, wie mit der Zertifikatspflicht und dem Contact-Tracing an Veranstaltungen und Partys umgegangen werden soll. Dabei setzen viele linke Räume und Veranstaltungen die Zertifikatspflicht und das Contact-Tracing klag- und kritiklos um. Verständlicherweise ist das Bedürfnis nach sozialen Kontakten gross und es besteht die Notwendigkeit, insbesondere für Anti-Rep Arbeit, finanzielle Mittel zu sammeln. Gerade deshalb wäre es wichtig zu diskutieren, unter welchen Umständen staatliche Massnahmen wie das Covid-Zertifikat oder Contact-Tracing mitgetragen werden sollen. Dabei geht es nicht in erster Linie um «emanzipatorische Hygienekonzepte», sondern darum, die gesellschaftliche Dimension dieser Massnahmen mitzudenken.

Das Zertifikat ist heikel, weniger wegen seiner technischen Infrastruktur, sondern weil eine Gewöhnung und Normalisierung von Kontrollen stattfinden kann. Man zeigt regelmässig seinen Ausweis vor und gibt seine Kontaktdaten an, ohne zu fragen, ob das überhaupt sinnvoll ist und ob es Alternativen gibt. Man hat durchaus den Eindruck als hätte die Sensibilität in Bezug auf Datenschutz in den letzten Monaten bei linken Räume und ihren Besucher:innen eher ab- als zugenommen. Auf eine Aufforderung zum Tragen von Hygienemasken wird dagegen meist verzichtet, seit das nicht mehr staatlich vorgeschrieben wird.

Kritik kam indes von anderer Seite: Fankurven aus der ganzen Schweiz wehrten sich diesen Sommer erfolgreich gegen ID-Kontrollen an den Stadioneingängen im Zusammenhang mit der Zertifikatspflicht. Sie befürchteten, dass unter dem Vorwand der Pandemie repressive Massnahmen wie personalisierte Tickets eingeführt würden, die auch nach dem Ende der Zertifikatspflicht bestehen bleiben würden. Die Erfahrung zeigt, dass diese Sorge durchaus begründet ist. Nicht nur in der Schweiz dienen Fussballstadien den Behörden als Labors, in denen repressive Massnahmen erprobt werden, die dann später beispielsweise auch gegen Demonstrationen eingesetzt werden können.

Das Komitee Geimpfte gegen das Covid-Zertifikat argumentiert im aktuellen Abstimmungskampf zudem, dass das Zertifikat eine Scheinsicherheit biete. Mit der Einführung der Zertifikatspflicht seien die meisten Hygienemassnahmen aufgehoben worden, obwohl Zertifikate einfach gefälscht werden könnten und keinen Schutz vor einer Ansteckung böten. Es ist klar, dass dahinter das Interesse des Staates steht, dass der Laden wieder möglichst reibungslos läuft und nicht das Interesse nach Gesundheit der Bevölkerung.

Individualisierung der Pandemie

Jenseits solcher Detailfragen offenbaren sich aber auch gefährliche Abgründe. Im hitzigen Abstimmungskampf ist es die Sozialdemokratie, die an vorderster Front für das Covid-Gesetz kämpft. Viele Befürworter:innen verkaufen das Covid-Zertifikat als Allheilmittel, welche die Rückkehr zur Normalität ermögliche. Diese Position ist gefährlich und befördert – wie man aktuell vor allem in der sozialdemokratischen Twitteria beobachten kann – autoritäre Reflexe. Da werden ausschliesslich die dummen Impfverweigerer und Zertifikatsgegnerinnen für das Fortdauern der Pandemie verantwortlich gemacht und auch mal darüber sinniert, ob Ungeimpfte noch Anspruch auf ein Intensivbett haben sollten.

In Österreich verhängte die Regierung für kurze Zeit einen «Lockdown für Ungeimpfte» und in den meisten Teilen Deutschlands gilt die 2G-Regel für die meisten öffentlichen Orte. Solche Massnahmen zeigen wenig Wirkung gegen das Virus, sondern steigern vielmehr den Druck auf das Individuum. Der Staat entzieht sich der Verantwortung und schiebt das Fortdauern der Pandemie den Ungeimpften zu.

Das italienische Autor:innenkollektiv Wu Ming kritisiert die Linke dafür, dass sie ausschliesslich vom Virus, aber kaum über das desaströse und ungerechte Pandemie-Management der Regierung sprechen würde. Das italienische Covid-Zertifikat – den sogenannten Green Pass –bezeichnet Wu Ming als reines Propagandainstrument: «Um ihre Verantwortung für das Geschehen zu verschleiern, griff die Regierung zu einer Reihe von Ablenkungsmanövern, die auf dem klassischsten neoliberalen Trick basierten, der bereits vor der Pandemie in Bezug auf Umwelt, Klima und Gesundheit massiv eingesetzt wurde: Jede Verantwortung für die Ansteckungen wurde dem individuellen Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zugeschoben.»

«Die Regierung und die Bosse interessieren sich nicht für die Gesundheit der Proletarier:innen! Sie schieben all die Probleme rund um das Virus auf die einzelnen Arbeiter:innen, während das kapitalistische Ausbeutungssystem nicht angetastet wird.» SI Cobas, italienische Basisgewerkschaft

Diese Individualisierung der Verantwortung durch den Staat ist auch der Grund, weshalb sich die Basisgewerkschaft SI Cobas gegen den Green Pass wehrt: «Die Regierung und die Bosse interessieren sich nicht für die Gesundheit der Proletarier:innen! Während der Akutphase der Pandemie liessen sie uns zu Tausenden sterben, nur um die Fabriken und Lagerhäuser offen zu halten und weiterhin Gewinne zu erzielen! Jetzt zwingen sie uns den Green-Pass auf, um sich in Sachen Arbeitssicherheit vor der Verantwortung zu drücken. Sie schieben all die Probleme rund um das Virus auf die einzelnen Arbeiter:innen, während das kapitalistische Ausbeutungssystem nicht angetastet wird.»

Im Gegensatz zur italienischen Variante erstreckt sich die Zertifikatspflicht in der Schweiz nicht auf den Arbeitsplatz. Unternehmen können im Rahmen ihrer Schutzkonzepte eine Zertifikatspflicht einführen, müssen dafür aber Gratis-Tests anbieten. Das ist ein wichtiger Unterschied und mag ein Grund sein, weshalb die linke Kritik am Zertifikat bisher ausgeblieben ist. Allerdings ist es doch fraglich, ob angesichts der vehementen Verteidigung bei der sozialdemokratischen und oft achselzuckenden Umsetzung bei der radikalen Linken eine mögliche Ausweitung der Zertifikatspflicht dann nicht doch einfach hingenommen würde. Gut möglich, dass wir uns bald damit befassen müssen.

Anti-Massnahmen-Proteste: Intervenieren oder bekämpfen?

Es gibt aber nicht nur die linken Verteidiger:innen der staatlichen Massnahmen, sondern auch seine falschen Kritiker:innen. Die Bewegung, welche seit einiger Zeit wöchentlich auf die Strasse geht, um gegen das Covid-Gesetz, die Impfung und eine vermeintliche Diktatur zu lärmen, ist in den letzten Monaten immer grösser geworden. Auch einige Linke sympathisieren mit den Anti-Massnahmen-Protesten oder nehmen gar daran teil. Leider werfen sie dabei meist die letzten Reste emanzipatorischer Grundsätze über Bord.

Ein Beispiel für solche Verwirrungen erschien kürzlich auf barrikade.info, dem digitalen Flugblattständer der radikalen Linken in der Deutschschweiz. Die anonymen Autor:innen aus dem Milieu des insurrektionalistischen Anarchismus, legen eine «anarchistische und antiautoritäre» Position zu den aktuellen Pandemie-Massnahmen dar. Die Anführungszeichen sind uns in diesem Fall wichtig, denn die geäusserten Thesen entfernen sich weit von emanzipatorischen Inhalten. Einige Insurrektionalist:innen scheinen seit geraumer Zeit so fest auf ihre starren, subjektiven Ideale fixiert zu sein, dass das, was sie unter Kritik und Analyse verstehen, eher einem Perpetuum Mobile der ideologischen Selbstvergewisserung gleicht, als einer kritischen Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüchen. Die Devise und das unumstössliche Paradigma lautet dabei ganz lapidar: «Hauptsache gegen den Staat».

Einige Insurrektionalist:innen scheinen seit geraumer Zeit zu sehr auf ihre starren, subjektiven Ideale fixiert zu sein. Was sie unter Kritik und Analyse verstehen, gleicht eher einem Perpetuum Mobile der ideologischen Selbstvergewisserung, als einer kritischen Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüchen.

Die Autor:innen des Barrikade-Textes fordern zunächst eine Intervention in die Anti-Massnahmen-Proteste. Es folgt der in solchen Fällen übliche Verweis auf die Gilets-Jaunes-Bewegung in Frankreich, bei der anfänglich auch Rechte teilgenommen hätten, die durch linke Kräfte aber herausgedrängt wurden. Sie sind damit nicht die einzigen. Zuletzt sorgte etwa die Gruppe Feministischer Lookdown für Aufsehen, als sie an einer Anti-Massnahmen-Demonstration in Bern eine Rede hielt. Mit dabei war das Schwurbler-Spektrum von den «Freien Linken» über die «Freiheitstrychler», «Bündnis Urkantone» bis hin zu organisierten Neonazis. Auch die Lookdown-Gruppe schreibt, dass man nicht alle Massnahmen-Kritiker:innen als Nazis bezeichnen könne – was im Übrigen gar niemand tut. In Zürich wurde auf einem Transparent dazu lapidar festgehalten: «Wer mit Nazis marschiert, marschiert mit Nazis.»

Doch weder der Feministische Lookdown noch unsere anarchistischen Autor:innen beantworten die entscheidenden Fragen: Wie steht es um die soziale Zusammensetzung der Anti-Massnahmen-Proteste und welche Forderungen werden artikuliert? Welche Teile der Bewegung sind offen für linke Inhalte und Praxis? Wie könnte eine Intervention von linken Kräften aussehen, die die rechten Kräfte schwächen kann ohne sich gegen die Bewegung als Ganzes zu richten?

Um sich diesen Fragen zu nähern, braucht man analytische Begriffe. Hier lohnt sich erneut ein Blick über die Alpen. Wu Ming – deren Interview im Übrigen auch der Feministische Lookdown zur Lektüre empfiehlt – bezeichnet die Bewegung gegen den Green Pass in Italien als «bikonzeptuell»: Die Menschen hätten in der Krise eine Prekarisierung erfahren. Sie wollen sich mit diesen neuen materiellen Bedingungen aber nicht abfinden und halten deshalb an kleinbürgerlichen Werten fest. Obwohl sie also in ihrem politischen Ausdruck bürgerlich seien, könnten Linke sie erreichen, indem sie ihre materiellen Bedürfnisse und ihre Wut aufs System anspreche.

Bei der Betrachtung der Anti-Massnahmen-Proteste in der Schweiz hingegen kann man eine solche Konstellation beim besten Willen nicht erkennen. Aus den Äusserungen der Demonstrant:innen spricht keine Angst vor einem sozialen Abstieg, sondern vielmehr ein Unbehagen über die Eingriffe des Staates in ihre gewohnte Lebensweise. Ausserdem mobilisieren die Proteste primär ein bereits vor der Pandemie vorhandenes Potential an Verschwörungsgläubigen, Esoteriker:innen und rechten Kräfte von christlichen Fundis bis Neonazis. Es ist zu bezweifeln, dass es jemals die Möglichkeit einer linken Intervention gab. Von Beginn an waren Rechte und Neonazis aller Art nicht nur erkennbar dabei, sondern haben die Aktionen aktiv mitorganisiert. Nie sind sie auf Widerspruch oder Widerstand der anderen Demonstrant:innen gestossen. Im Gegenteil wurden regelmässig Passant:innen und antifaschistische Proteste aus den Demonstrationen heraus angegriffen, ohne dass dies zu einer Distanzierung oder Spaltung der Bewegung geführt hätte. Die Proteste wurden immer grösser. Es gibt überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass es innerhalb der Anti-Massnahmen-Proteste ein Milieu gäbe, welches für linke Positionen auch nur halbwegs offen wäre.

Viel naheliegender erscheint deshalb die Einschätzung des Revolutionären Jugendbündnisses Winterthur (RJBW). Das RJBW schreibt über die Bewegung der Massnahmen-Kritiker:innen: «Die Demonstrierenden rekrutieren sich grösstenteils aus rechtskonservativen Kreisen des Kleinbürgertums. Es gibt aber auch einige Personen, welche sich politisch links der «Mitte» verorten würden. […] Neben patriotischen Stammtischgänger:innen und Freiheitstrychlern, einigen verwirrten Hippies und Esoteriker:innen sind allerdings auch gesellschaftspolitisch gefährlichere Gruppen mit ihren Positionen an den Demonstrationen vertreten. Denn rechtsextreme Kader und Einzelpersonen fühlen sich dort pudelwohl und stossen auf relativ wenig bis gar keine Gegenwehr. So wird ihnen eine Plattform geboten, um sich Wochenende für Wochenende besser vernetzen zu können und ihre Positionen nach aussen zu tragen.»

Diese Leute kämpfen nicht gegen «den Staat» (einige Insurrektionalist:innen) oder «autoritäre Massnahmen» (Feministischer Lookdown). Sie stellen sich nur gegen die staatlichen Massnahmen, weil sie es als ihre «Freiheit» ansehen, die Pandemie zu verleugnen, sie wollen ungeachtet des Virus weiterarbeiten und konsumieren. Dass es zudem viele Leute und Bewegungen gibt, die sich nur für eine begrenzte Zeitspanne gegen gewisse Auswüchse des Staatshandelns auflehnen, aber selbst eine autoritäre Agenda verfolgen, wird erstaunlicherweise gerade seitens einiger Insurrektionalist:innen ignoriert. Progressive Forderungen, wie etwa diejenige nach einem besser ausgebauten Gesundheitswesen oder nach mehr staatlichen Hilfen gegen die Auswirkungen der Krise – was die Gruppe Feministischer Lookdown propagiert – sucht man hingegen vergebens.

Die Freiheit des atomisierten Individuums

Beschäftigt sich man sich aber ein bisschen näher mit den Ausführungen unserer Barrikade-Insurrektionalist:nnen, fallen durchaus auch ideologische Überschneidungen mit den rechten Massnahmen-Gegner:innen auf. Beide Seiten stellen die Begriffe «Freiheit» und «Selbstbestimmung» des Individuums in den Mittelpunkt ihrer Politik. Sie hängen dabei einem neoliberal deformierten Freiheitsbegriff an, welcher das Soziale, die gesellschaftlichen Bedingungen völlig negiert. Man findet kein Wort über die Gefahr des Virus, keine Bemerkung zur Notwendigkeit des Infektionsschutzes, keine Empathie gegenüber denen, die daran erkrankt oder gestorben sind.

Die Betonung der Freiheit erfüllt in diesem Fall den Zweck, sich nicht mit der Gesellschaft auseinandersetzen zu müssen und die Verantwortung von sich zu schieben, wie es Klaus Klamm in diesem Magazin bereits ausgeführt hat: «Sie wollen ihre Willkür partout als Freiheit verstanden wissen, weil sie selbst nichts verstehen wollen. Es ist aber keine Freiheit, andere ins Grab zu husten, sondern die Zerstörung der Grundlagen der Freiheit: Mitmenschen, Gesundheitssystem, Solidarität.» Bei Kleinbürger:innen und Rechten ist diese Haltung Kern der politischen Ideologie. Dass sie von gewissen anarchistischen Strömungen übernommen wird, ist zwar nichts Neues, aber doch immer wieder irritierend.

Ein emanzipatorischer Begriff der Freiheit versteht das Individuum als soziales Wesen, dass von anderen Individuen nicht getrennt, sondern unmittelbar mit ihnen verbunden ist. Selbstbestimmung ist nur in einem gesellschaftlichen Zusammenhang möglich, der die herrschende Atomisierung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft aufhebt. Der Kampf für die Freiheit ist also der Kampf für Solidarität im Sinne der gegenseitigen Hilfe, der kollektiven Selbstorganisation und des Zusammenhaltes der Unterdrückten im Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse.

Impfung ist keine Privatsache

Dieselbe Verwirrung – und damit sind die Autor:innen des Barrikade-Textes leider nicht alleine – zeigt sich auch in der Frage der Impfung. Die individualanarchistischen Autor:innen pochen auf die Freiheit, sich für oder gegen die Impfung zu entscheiden. Aber auch hier muss man fragen: Was soll das für eine Freiheit sein, bei der ein Mensch eine völlig uninformierte Entscheidung nach Bauchgefühl treffen kann (beziehungsweise muss), die sein Umfeld kritiklos hinzunehmen hat?

Die Krux bei der Impfung ist, dass die persönliche Entscheidung Konsequenzen für andere Menschen hat. Infektionskrankheiten zeichnen sich eben genau durch ihren sozialen Charakter aus. Sie sind schnell, leicht und flächendeckend übertragbar. Zu deren Eindämmung braucht es gegenseitige Rücksichtnahme, unter anderem in Form einer Impfung. Sie minimiert das Risiko von Ansteckung, Übertragung und schweren Verläufen. Je geringer die Verbreitung des Virus, desto geringer die Gefahr von neuartigen Mutationen. Insofern ist es völlig legitim, dass eine Debatte darüber stattfindet. Linke sollen gegenüber ihren Freund:innen, Mitbewohner:innen und Genoss:innen Rechenschaft über ihre Impfentscheidung ablegen. Das heisst, dass man innerhalb linker Zusammenhänge eine Entscheidung für oder gegen die Impfung rechtfertigt. Und auch wenn die Impfung kein Allheilmittel ist, spricht nach aktuellem Wissensstand alles dafür: Sie ist sicher, sie ist gratis, sie schützt einen selber und vor allem auch andere und die Nebenwirkungen sind im Vergleich zu einer Covid-Erkrankung vernachlässigbar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Forderung nach «Entscheidungsfreiheit» primär von denjenigen Personen kommt, die sich nicht impfen lassen und das auch nicht begründen wollen.

Die Impfskepsis ist selten rational begründet, sondern rührt meist von religiösen, esoterischen oder sonstigen antimodernistischen Vorstellungen her. Politische Impfkritik kommt historisch primär von rechts. Darum ist es auch kein Zufall, dass deutschsprachige Regionen die tiefste Impfquote Europas aufweisen. Eine emanzipatorische Linke sollte solchen Vorstellungen mit Aufklärung entgegnen und sie insbesondere da bekämpfen, wo sie sich politisch ausdrückt und die Gesundheit und Selbstbestimmung anderer gefährdet. Dass von Impfgegner:innen die Parole «my body, my choice» zu hören ist, ist also nicht nur zynisch, sondern verdreht die Verhältnisse komplett.

Eine linke Position sollte alle Leute dazu motivieren, sich impfen zu lassen und gleichzeitig einen Zugang zur Corona-Impfung für alle fordern. Das schliesst auch an Kampagnen für internationale Impfgerechtigkeit und Freigabe der Patente an, denn während hierzulande die Booster-Impfung langsam an Fahrt aufnimmt, warten weltweit Millionen von Menschen immer noch auf ihre erste Impfung. Das heisst natürlich auch, die Bedenken der Menschen ernst zu nehmen und in politische Forderungen einfliessen zu lassen. Statt Gratiskonzerte mit abgehalfterten Popsternchen auf dem Bundesplatz würde es sich etwa anbieten, bezahlte Freitage zu fordern, um sich impfen zu lassen und von allfälligen Nebenwirkungen erholen zu können. Auch die Wiedereinführung von Gratis-Tests sollte auf einer linken Agenda stehen, genauso wie die Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.

Eine solche Position schliesst nicht aus, Proletarisierte, die aus welchen Gründen auch immer nicht geimpft sind, gegen die Angriffe des Staates und der Bosse zu verteidigen, wie die bereits erwähnte Basisgewerkschaft SI Cobas angesichts der Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz in Italien betont: «Wir haben von Anfang an die Wichtigkeit von Impfungen hervorgehoben und stellen uns entschlossen gegen Impfverweigerer. Doch wenn sich auf den Arbeitsplätzen nichts ändert, hat die Impfung nur eine minimale Wirkung und wir können nicht akzeptieren, dass nicht geimpfte Leute keinen Lohn erhalten und sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern.»

Wissenschaftskritik muss materialistisch sein

Dieses Plädoyer für die Corona-Impfung soll nicht heissen, dass man der Pharmaindustrie, den staatlichen Zulassungsbehörden oder der medizinischen Forschung kritiklos vertrauen sollte. Wissenschaftliche Forschung und pharmazeutische Produktion erfolgen unter kapitalistischen Bedingungen. Sie orientiert sich an der Möglichkeit zur Profitmaximierung und nicht primär an den menschlichen Bedürfnissen. So weit, so banal.

Erkenntnis und Wissen können nicht von den Herrschafts- und Machtstrukturen abstrahiert werden. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen steigern Wissenschaft und Technik die dem Kapitalismus inhärenten Destruktivkräfte. Die moderne Wissenschaft ebnete nicht nur den Weg zur Industrialisierung und der fortschreitenden Beherrschung und Zerstörung der Natur, sondern auch für die barbarischen Kriege des 20. Jahrhunderts. Wissenschaft und Technik unterliegen der «instrumentellen Vernunft» – wie Horkheimer und Adorno sie nannten – das heisst sie sind zweckrational orientiert und zementieren die gegebenen Herrschaftsverhältnisse.

Einer kritischen Auseinandersetzung mit den Wissenschaften geht es nicht nur um die historische und strukturelle Einbettung und um die finanziellen und militärischen Interessen des Wissenschaftsbetriebs, sondern auch um die ideologische und disziplinarische Funktion der Wissenschaft. Viele einschneidende Massnahmen in verschiedenen Ländern, wären nicht so passiv hingenommen worden ohne den scheinbar objektiven Diskurs der Virolog:innen und Epidemolog:innen.

Dennoch ist es falsch, die Ablehnung der Vernunft mit dem Widerstand gegen die Herrschaftsverhältnisse zu verwechseln. Im Gegenteil wohnt der Vernunft auch das Potential der Kritik inne. Eine Kritik an den Wissenschaften, ihren Erkenntnissen und Resultaten muss sich auf ihren Diskurs beziehen. Falsch ist die Annahme, dass jegliche:r Wissenschaftler:in oder jede wissenschaftliche Arbeit oder Diskurs per se falsch oder nutzlos ist. Dasselbe lässt sich auch über die Pharmaindustrie sagen: Trotz berechtigter Kritik an ihrem Gebaren, muss man feststellen, dass sie Medikamente produziert, die für viele Menschen überlebensnotwendig sind oder das Leben massiv erleichtern.

Bereits früher haben wir die anarchistische Wissenschaftsfeindlichkeit kritisiert. Diese hat «mehr mit Verschwörungstheorien gemein als mit Bakunin. Dieser kritisierte zwar die unhinterfragte Autorität und Machtposition der Wissenschaft, gestand aber trotzdem ein, dass es Leute gibt, die in einem bestimmten Gebiet über mehr Wissen und Erfahrung verfügen als andere. Daraus folgt nicht, dass man sich unüberlegt der Expertise eines anderen zu unterwerfen hat, sondern, dass sich die eigene Position in der Auseinandersetzung mit Argumenten und verschiedenen Positionen entwickeln sollte. Eine Haltung, die davon ausgeht, dass alles, was nach institutionalisierter Autorität riecht, per se falsch ist, kann damit nicht begründet werden.»

Es ist unredlich, mit Kritik an Wissenschaft und medizinischer Forschung unter kapitalistischen Bedingungen einen quasi-religiösen Antimodernismus zu legitimieren. Ebenso falsch ist es, durch das Verharmlosen der Pandemie und ihren gesundheitlichen Konsequenzen und mit einem Verweis auf die «Natur des Menschen» dem Sozialdarwinismus das Wort zu reden. Genau dies geschieht jedoch, wenn etwa im Barrikade-Text geraunt wird, dass Menschen durch den Konsum von medizinischen Lösungen den Bezug zum eigenen Körper und zur Natur verlieren würden. Unsere «antiautoritären» Autor:innen sind hoffentlich auch dafür, dass alle Menschen ungeachtet ihrer körperlichen Verfassung ein angenehmes Leben führen können. Da gehört es eben oftmals dazu, dass sie ihrem Körper und der «Natur» immer mal wieder ein Schnippchen schlagen und nicht an jedem Infekt einfach sterben.

Eine emanzipatorische Position will kapitalistische Produktivkräfte, Technologien und Medizin nicht planlos und umfassend zerstören, sondern sie den kapitalistischen Zwängen entziehen und in den Dienst der Menschheit stellen. Natürlich gibt es auch Technologien und Produktivkräfte, die nicht mit einem emanzipatorischen Projekt kongruieren. Doch dort, wo sie das Leben und die (Nicht)-Arbeit der Menschen leichter machen, sind sie sicher begrüssenswert.

Warten auf Godot

Unter Linken war zu Beginn der Pandemie so etwas wie Euphorie zu spüren: Es schien möglich, dass die deutliche Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Widersprüche zu einer breiten emanzipatorischen Mobilisierung führen könnte. Daraus wurde bald Lethargie, nur um später der Ohnmacht und der Konfusion den Weg zu ebnen. Kritiklose und affirmative Haltung gegenüber dem Staat und realitätsverdrängender Nihilismus sind dabei zwei Seiten derselben Medaille.

Einige Insurrektionalist:innen scheinen Mühe zu haben, die gesundheitliche Dimension der Pandemie zu verstehen. Verbalradikalismus und religiös aufgeladene Bilder eines Schiffes, dass Richtung Freiheit gelenkt werden muss, die am Horizont als Erlösung erschient, sind mehr als bloss pathetisch – die Analyse dahinter ist regressiv und autoritär, weil das Leben von Menschen ungeniert herabgesetzt wird. Wie ernst soll eine Position genommen werden, die zwar vorgibt eine kritische Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Diskurs und dem Staat einzunehmen, aber keine Perspektive zu bieten hat ausser dem Rückzug auf ein abstraktes Individuum innerhalb einer falschen Freiheit, gekoppelt an die Relativierung oder gar Leugnung der Pandemie?

Global betrachtet ist die momentane Lage vielleicht nur der Auftakt zu widersprüchlichen Zeiten. Der Autoritarismus erscheint in Gestalt der Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte. Dadurch wird das Kapitalverhältnis zementiert. Deshalb darf der Autoritarismus nicht bloss auf den Staat reduziert werden, er zeigt sich auch im autoritären Charakter moderner Individuen, in der Pseudorebellion gegen die staatlichen Massnahmen und dem Zynismus einer atomisierten Freiheit. Es ist deshalb notwendig, an denjenigen Ansätzen anzuknüpfen, die die gesundheitliche Dimension der Pandemie ernst nehmen, ohne dabei die ökonomischen, repressiven, politischen und sozialen Verwerfungen gewissermassen als «pandemische Nebenwidersprüche» abzutun.

Es gilt eine kämpferische, solidarische Perspektive und eine Praxis der gegenseitige Hilfe zu entwickeln: Basisarbeit und Strukturen, die nicht nur an die Lebensrealität der Menschen anschliessen, sondern auch eine sichtbare linke und antiautoritäre Position auf die Strasse bringen. Wir werden in zukünftigen Kämpfen solche Strukturen dringend benötigen. Denn auch die postpandemischen Zeiten, werden voller Verwerfungen sein. Sollte so was wie eine Normalität die nächsten Jahre zurückkehren, wird sie von trügerischer Natur und kurzer Dauer sein.

Julian Freitag und M. Lautréamont
ajourmag

Ein Diskussionsbeitrag Corona und die (radikale) Linke Seit bald einem Jahr prägt Covid-19 all unsere Lebensbereiche und hat viel zu vielen Menschen weltweit das Leben kostet.

Momentan lassen die Herrschenden uns die Folgen einer durch den Kapitalismus mit hervorgerufenen Pandemie ausbaden. Dies zeigt sich ganz besonders brutal in diesem zweiten „Social Lockdown“ in Deutschland (dieser Text wurde vor dem „harten“ Lockdown geschrieben). Den Menschen ist es faktisch nur noch erlaubt zu konsumieren und zu arbeiten. Soziale Kontakte sind zwar nicht gänzlich verboten, aber nur stark eingeschränkt erlaubt, obwohl von jeglichem Kontakt abgeraten wird. In Ländern, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, ist es noch brutaler, denn da dürfen die Menschen nicht einmal ohne Erlaubnis nach draussen. Das Leben ist banalisiert auf seine kapitalistische Verwertbarkeit. „Gesundheitsmanagement“, „Public Health“ und „Gesundheitspolitik“ sind dabei die medizinischen Hilfswissenschaften, die im Kapitalismus der Pandemie diese Verwertbarkeit aufrechterhalten.

Seitdem Covid-19 im März zu einer offiziellen Notlage wurde, scheint sich der Diskurs auf zwei Positionen verengt zu haben. Entweder man „nimmt Corona ernst“, das heisst man folgt weitestgehend allen staatlichen Massnahmen, oder schränkt sogar noch weitergehend sein Leben ein, um damit nicht selbst verantwortlich zu sein die Pandemie voranzutreiben. Oder man „nimmt Corona nicht ernst“ und ist damit Corona-Leugnerin, unverantwortlich und Verschwörungsideologin. Doch weder heissen wir es gut, wenn Menschen nach (autoritären) Führerinnen rufen noch sollten wir es stillschweigend hinnehmen, wenn der Staat unser Leben bis in die letzten Ecken versucht zu kontrollieren, während die Menschen weiter fürs Kapital schuften dürfen. Als (radikale) Linke ist es unsere ureigenste Aufgabe eine dritte Position zu entwickeln, die sich jenseits der vorherrschenden Rationalitäten befindet: Jenseits von staatlicher „Moral“; neoliberaler Selbstverantwortung und dem Recht des Stärkeren und autoritären Antworten.

Auch in der Linken wird häufig nur ein für oder wider der Massnahmen diskutiert. Streitet man jedoch für die Massnahmen macht man sich mit dem Staat gemein. Dabei wissen wir, dass es dem Staat niemals um das individuelle Wohl der Menschen geht. Es geht ihm lediglich darum, das System am Laufen zu halten, dafür braucht es einen gesunden Bevölkerungskörper. Natürlich gibt es auch hier widerstreitende Interessen. So fokussieren einige eher auf die Verhinderung der Überlastung der Krankenhäuser, wieder andere auf die Aufrechterhaltung der Wirtschaft. Gemeinsam ist diesen Interessen jedoch, dass sie einen Status Quo (der einigermassen unter Kontrolle stehenden Pandemie) aufrechterhalten oder wiederherstellen wollen (Kapitalismus ohne Corona). Wir lehnen jedoch jeden Status Quo ab! Eine (radikale) Linke, die sich aktiv für die staatlichen Massnahmen ausspricht, kämpft für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus, lediglich ohne Covid-19.

Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen.

Alle staatlichen Massnahmen werden mit Infektionsschutz und der Notwendigkeit die Ausbreitung des Virus zu verhindern, begründet. Doch uns sollte klar sein, dass angeblich rationale Argumente, die naturwissenschaftlich und objektiv daherkommen, weiterhin bürgerliche Wissenschaft sind. Wie all unser Wissen, unsere Emotionen, unser Sein gesellschaftlich, Produkt von Menschen ist, und damit kritisch zu hinterfragen sind. Die Staatskassen seien leer, man könne dies und jenes nicht bezahlen, es könnten schliesslich nicht alle Geflüchteten kommen, Klimaschutz sei zu teuer, Griechenland hätte schlecht gewirtschaftet.

All dies sind und waren Argumente die wir niemals als Rechtfertigung für Entscheidungen gegen das Wohl der Menschen gelten lassen. Denn die Notwendigkeit eines guten Lebens für Alle lässt sich nicht rational und naturwissenschaftlich begründen, genau so wenig, wie die Ewigkeit des Kapitalismus. Als (radikale) Linke sollten wir nicht in solch menschenverachtende Argumentationsmuster verfallen, denn letztlich halten sie das Leben einer Person, die sich nicht infiziert für schützenswerter, als das einer Frau, die von häuslicher Gewalt betroffen ist, oder einer Person die über Suizid nachdenkt und nicht die Hilfe bekommt, die sie vielleicht braucht. Überlassen wir diese Logik den Herrschenden.

Unsere Logik ist die von Überleben & Leben. Das heisst nicht, dass man sich dem Maske tragen grundsätzlich verweigert oder Partys mit vielen Menschen feiert. Es heisst, dass man immer wieder anhand der eigenen linken und kollektiv entwickelten Massstäbe abwägt. Im Alltag heisst das: Wie wichtig ist der soziale Kontakt, wie geht es mir und meinem Gegenüber, welches Risiko bin ich bereit persönlich einzugehen. In unseren Kämpfen heisst dies: Wie wichtig ist unser Kampf für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse? Wenn momentan so vieles abgesagt oder in den digitalen Raum verschoben wird, signalisiert dies, dass wir unsere Kämpfe eigentlich für nicht relevant halten. Wenn dem so ist, dann haben wir ein ernsthaftes Problem und sollten darüber sprechen.

Im herrschenden Diskurs erscheint die Corona-Pandemie wie ein höheres Übel, das über uns gekommen ist und das es nun zu beherrschen gilt. Hierfür ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass das Corona-Virus eben genau dies nicht ist. So haben zahlreiche Studien und Forschungen der letzten Jahrzehnte bereits gezeigt, dass die kapitalistische Landwirtschaft und die Urbanisierung der Gesellschaften das Entstehen und die schnelle Verbreitung von Viren hervorruft und rasant befördert.

Doch auch jetzt herrscht im breiten Diskurs schon wieder das Prinzip TINA: Die Bevölkerung wird bereits auf kommende Pandemien eingeschworen, wenn es heisst, dass die Menschen sich eben an das Tragen von Masken gewöhnen müssten, oder das Home Office als das neue ständige Arbeiten besprochen wird. Ein in Frage stellen der Tatsache, dass wir nun in der ständigen und unabwendbaren Gefahr von Pandemien leben und dass all die Massnahmen gerechtfertigt sind, gibt es nicht, geschweige denn, dass die Frage nach Gründen und der Überwindung der Gründe und Zustände die uns in diese Situation gebracht haben, gestellt werden.

Doch auch die (radikale) Linke in Deutschland scheint sich nicht zu trauen all dies praktisch und hörbar in Frage zu stellen. Noch viel schlimmer: Es scheint, als haben wir noch nicht einmal begriffen, was die staatlichen Massnahmen mit uns als Genossinnen machen. Wir entfernen uns ganz materiell voneinander, wir sind eine Gefahr füreinander. Einfach all unsere Treffen ins digitale zu verschieben und unsere Räume zu schliessen bedeutet, dass wir der Meinung sind, dass wir uns als Körper gegenseitig nicht brauchen. Dabei sind es eben diese Körper, die uns in Aktionen gegen Polizeigewalt geschützt haben, mit denen wir auf Partys geschwitzt haben, in zu engen Räumen auf Plena fast aufeinander gesessen haben, die uns in schweren Zeiten getröstet haben.

In den sozialen Räumen fand politischer Austausch und Vernetzung statt. Wir erfuhren von Ideen, Initiativen und Debatten. Es existierte so etwas wie Kooperation. Heute erfahren wir von drei thematisch ähnlichen Demos am selben Wochenende durch Twitter, spektren übergreifende Diskussionen finden nur sporadisch statt und so etwas wie Enthusiasmus ist ein Fremdwort auf Big Blue Buttom (oder auch Zoom). All das verweist auf die alte Erkenntnis, dass das soziale/private, politisch ist: Eine fast vergessene Erkenntnis aus fernen Zeiten, in denen sich die Linke noch Analyse leisten konnte.

Doch selbst die oben erwähnten Veranstaltungen die zumindest die wirtschaftliche Seite der Corona-Politik adressierten waren so klein, dass der Eindruck entstehen muss, der radikalen Linken seien die autoritären Massnahmen egal, oder noch schlimmer, dass sie einverstanden ist mit dieser Politik.

Doch anstatt hierüber zu sprechen, geht alles weiter wie bisher, nur eben mit Maske und draussen oder digital. So kann man eben nicht behaupten, dass es 2020 keine linken Aktionen gegeben hätte. Von der BLM Demo, über die Aktionen im Danni bis zur Demo gegen die Liebig-Räumung, war alles dabei. Eine laute Kritik an den staatlichen Massnahmen, geschweige denn ein Aufbegehren gegen diese war jedoch kaum zu hören geschweige denn zu spüren. Man konnte bei all diesen Gelegenheiten den Eindruck gewinnen Corona habe es nie oder schon immer gegeben.

Die paar Veranstaltungen oder Aktionen die explizit die Politik der Regierung thematisierten, stellten die wirtschaftlichen Folgen in den Vordergrund. Doch das ständige Sich-empören über die angebliche Doppelmoral der aktuellen Politik verkennt, dass die ergriffenen Massnahmen in der Logik der Herrschenden äusserst kohärent sind. Malochen gehen und zu Hause bleiben. Einen anderen Lockdown wird es hier nicht geben! Doch selbst die oben erwähnten Veranstaltungen die zumindest die wirtschaftliche Seite der Corona-Politik adressierten waren so klein, dass der Eindruck entstehen muss, der radikalen Linken seien die autoritären Massnahmen egal, oder noch schlimmer, dass sie einverstanden ist mit dieser Politik.

Wir lassen uns vereinzeln und halten es für das einfachste, den staatlichen Massnahmen Folge zu leisten, anstatt gemeinsam zu überlegen, was für eine linke Gemeinschaft ein gangbarer Weg sein könnte. Ja, ein solcher Prozess ist anstrengend und erfordert Mut, denn es müssen Ängste ausgesprochen werden und in einem solchen Prozess würde deutlich werden, dass wir uns niemals 100% schützen können. Sicherheit existiert nur in der Ideologie von Herrschaft. Aber ein Kollektiv ist mehr als seine Einzelteile.

Es ist ein grosses Ganzes, das über die Einzelne hinausweist: Verantwortung für Ansteckung, durch eine gemeinsame Diskussion und vielleicht auch Entscheidung, auf das Kollektiv zu übertragen und damit jede Einzelne von der schweren Last der angeblichen „Schuld“, eine Freundin angesteckt zu haben zu entlasten, ist das, was zu gewinnen ist. Uns als Subjekte ernst zu nehmen oder Politik der 1. Person zu machen, heisst auch gemeinsam zu schauen, was diese Situation mit uns als Genossinnen macht, ganz zu schweigen vom Rest der Bevölkerung.

Die radikale Linke kämpft für ein würdiges Leben aller Menschen auf diesem Planeten. Doch ein würdiges Leben ist weit entfernt. Momentan mehr denn je. Die soziale Verwüstung in Form von Millionenarbeitslosigkeit, Hunger und Gewalt fegt wie ein Tsunami, fast ungesehen in Deutschland, über den Globus. Wir werden in unsere Wohnungen eingesperrt und in unseren sozialen Beziehungen bevormundet. Schlimmer noch: wir bevormunden uns gegenseitig.

So entscheiden Kinder, ihre Eltern nicht zu besuchen, weil sie sich für ein Risiko für sie halten, obwohl ein Besuch sehnlichst gewünscht wird. Man glaubt für andere entscheiden zu können, ob man sich trifft, anstatt sich als Subjekte ernst zu nehmen und zu fragen, ob die andere Person bereit ist, „das Risiko“ einzugehen. In anderen Ländern werden den Menschen die Ressourcen und das Wissen, um sich vor dem Virus zu schützen verweigert. Denn genug Ressourcen existieren im Kapitalismus nicht für alle, sondern hauptsächlich für uns. - Was ist ein Leben wert, wenn es nicht mehr mit anderen gemeinsam gelebt werden kann?

Damit ist das Leben auf das banale Überleben reduziert. So ist es begrüssenswert, wenn darauf hingewiesen wird, dass es für Menschen ohne Obdach kaum möglich ist zu Hause zu bleiben. Damit wird auf die soziale Ungleichheit in den Möglichkeiten sich vor einer Ansteckung zu schützen hingewiesen. Doch gleichzeitig wird Wohnen darauf reduziert sich vor anderen Menschen schützen zu können. Diesen Widersprüchen muss sich eine radikale Linke stellen. Worum es bei einem guten Leben für alle gehen muss, scheint in den Zeiten von Covid-19 aus dem Blick geraten zu sein.

Als radikale Linke müssen wir hiergegen aufbegehren und wie sollen wir dies tun, wenn wir uns aus dem öffentlichen Raum verabschieden und ihn den Rechten überlassen? Wenn wir für die Menschen nicht greifbar, nicht ansprechbar im materiellen Sinne sind? Also lasst uns nicht über das Für und Wider „der Massnahmen“ im medizinischen oder virologischen Sinne streiten. Lasst uns stattdessen analysieren, welchen Effekt sie auf die Gesellschaft haben, ob sie Errungenschaften linker Kämpfe einschränken und ob sie linken Prinzipien entgegenstehen und sie entsprechend kritisieren. Denn mit uns ist kein Staat zu machen!

Maria von M.

These zum Covid-1984

Wenn sich mir etwas als Fortschritt vorstellt, frage ich mich vor allem, ob es uns menschlicher oder weniger menschlich macht.

George Orwell

Die unmenschlichsten Aktionen sind heute die Aktionen ohne Menschen.

Günther Anders

I. An der Oberfläche versteckte Wahrheiten

«Wie konnten sie es nicht bemerken und all das akzeptieren?». Das werden sich die Leser der Geschichtsbücher und die Zuschauer der Filme fragen, die in einigen Jahrzehnten die vielen Lügen erzählen werden, die die Epidemie des Covid-19 begleitet und die Herrschaftsprojekte gerechtfertigt haben, die mit dem Vorwand der Epidemiebekämpfung verwirklicht wurden. Und diese posthumen Betrachter werden sich bequem auf die Seite der Tugend schlagen, wie wir wenn wir ein Buch über den Kampf gegen die Nazis lesen oder einen Film über den Aufstand gegen die Sklaverei schauen. Etwas ähnliches wie eine vertiefte und glaubwürdige Rekonstruktion über die Verbreitung und die Auswirkung der sog. „Spanischen Grippe“ im vergangenen Jahrhundert wurde etwa 70 Jahre nach den Geschehnissen veröffentlicht. Man könnte argumentieren, dass die Gründe für eine solche Verspätung mit der Spezifität einer Pandemie verbunden sind, die das ungeheuerliche Gemetzel des 1. Weltkrieges noch tragischer beendete; und auch mit dem Gewicht, das die eisernen Ketten der militärischen Zensur auf die Zeitgenossen und die folgenden Generationen ausübten (bekanntlich kommt die Definition Spanische Grippe von der Tatsache her, dass nur die Presse des neutralen Spaniens darüber frei berichten durfte). Aber sind wir sicher, dass das aktuelle Wespennest an Quellen, zusammen mit dem präventiven und bösartigen Diskreditieren, das jede nicht linientreue Analyse traf und trifft, von den zukünftigen Historikern nicht ebenfalls als ein Käfig aus Silizium betrachtet wird? Seit nur einem Jahr nach dem Beginn des Covid greift man zur Analyse der online veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel auf die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz zurück, dermassen masslos ist deren Flut. Was werden diese Historiker davon als genügend gesichert erklären? Wahrscheinlich werden sich die Besten unter ihnen spalten und – wie es schon bei historisch weit wichtigeren Vorkommnissen geschehen ist, wie etwa der Kolonisierung Amerikas oder dem Nazismus – sich von zwei Ansätzen ausgehend streiten: einer funktionalistisch und ein anderer intentionalistisch, mit weiteren Historikern, die in der Folge eine Synthese der beiden Positionen versuchen werden. Der funktionalistische Ansatz bevorzugt die Analyse der sozialen Dynamiken; der intentionalistische gewichtet eher die erklärten Werte und Programme der Eliten. War die Ausrottung der indianischen Bevölkerung ein vorsätzliches Projekt oder das Resultat einer Gesamtheit an Mitursachen (an denen die durch die Eroberer unabsichtliche Verbreitung von für die Indigenen tödlichen Krankheiten mindesten ebenso beteiligt war wie die von der katholischen Doktrin gelieferte Darstellung der Eingeborenen als Völker ohne Seele)? War die Vernichtung der Juden das Resultat einer totalen Mobilisierung von industriellen und bürokratischen Apparaten und Kräften oder die Verwirklichung eines von Anfang an klaren Parteiprogramms? Bekanntlich können die auch von denselben, an sich niemals erschöpfenden, historischen Quellen ausgehenden Interpretierungen sehr stark divergieren, weil sie niemals von der heuristischen, ethischen und politischen Subjektivität des Historikers zu trennen sind. Z. B. ein liberaler Historiker, der den Nazismus als monströse Klammer im Fortschritt der 20. Jahrhunderts ansieht, wird dazu neigen, die Gaskammern von einem antisemitischen Wahnsinn ausgehend zu erklären, anstatt als eine Lösung, die von einem technischen und bürokratischen Apparat in den stählernen Stürmen eines besonders grausamen inter-imperialistischen Krieges produziert wurde. Denn sonst wären die Angeklagten seines persönlichen Nürnbergs nicht bloss die faschistischen Parteileiter, sondern auch die Industrieführer und nicht wenige wissenschaftliche Autoritäten (und die Verantwortung für die Vernichtungsfabriken würde den Ozean überqueren und den IBM-Koloss voll treffen…). Andersherum würde er dazu neigen, alles erblassen zu lassen, was der englischen Kolonisierung Nordamerikas die volle Absicht zur Ausrottung zuschreibt. Kann ein Bewunderer der US-amerikanischen Demokratie, als Historiker, ihren genozidären Ursprung behaupten? Die revolutionäre Kritik hat sich die funktionalistischen Erklärungen der historischen Phänomene zu eigen gemacht. Und das nicht nur, weil die materialistische Analyse immer multifaktoriell ist (heuristischer Grund), sondern auch (ethisch-politischer Grund) weil die intentionalistischen Lesarten mehr oder weniger absichtlich in der Entlastung des sozialen Systems enden und aus dem Horror eine Ausnahme und nicht die Regel und so aus gewissen strukturell dynamischen Formen der Unterdrückung politische Pathologien machen. Unter Anarchisten und Marxisten und innerhalb dieser zwei Strömungen der proletarischen Bewegung gab es immerhin auch immer eine Auseinandersetzung darüber, was wirklich strukturell und was irgendwie Nebenprodukt sei (und weiter, welchen Autonomiegrad die derivativen Elemente hätten). Um es schematisch zu sagen, für die Anarchisten entspricht die Macht nicht dem Profit, und es ist eher das Kommando, das das Privileg produziert, als das Gegenteil. Es gibt historische Momente, in denen der Wille nach Macht und seine politische Intentionalität die Dynamik der kapitalistischen Akkumulation überbieten. Ein offenkundiges Beispiel ist gerade der Nazismus. Die Endlösung wird auch dann weiter verfolgt, als ihre Logistik der deutschen Kriegsmaschine immer mehr Ressourcen entzieht. Wieso? Wegen einer Art geraden Linie zwischen den Seiten des Mein Kampf und den Gaskammern? Nein, weil das das funktionelle Resultat der gesamten technisch-bürokratischen Maschine war, die aus dem Antisemitismus ihr Treibmittel gemacht hatte. Wenn man sich, umgekehrt, darauf beschränkt die Dynamiken der “unpersönlichen Kräfte des Kapitals” (die folglich keine autonome politische Intentionalität aufweisen) zu betrachten, so ist die Vernichtung von ausbeutbarer Arbeitskraft eine nicht funktionale Verschwendung, folglich schwer zu erklären. Auch die revolutionäre Kritik der Verschwörungstheorie hat mit Funktionalismus und Intentionalität zu tun. Lange wurde unter Verschwörungstheorie (oder eine polizeiliche Anschauung der Geschichte) jede Erklärung verstanden, die, da sie die Dynamik der politisch-sozialen Auseinandersetzungen nicht mit einberechnete, die Ursachen der historischen Geschehnisse auf mehr oder weniger versteckte Pläne einer Elite oder auf die okkulten Manöver einer Lobby oder von Polizeien und Geheimdiensten zurückführte. Die faschistische These der hebräisch-freimaurerischen Spitze, die die Welt regiert, oder die stalinistische, der nach die Gruppen des bewaffneten Kampfes in Italien von den abweichenden Apparaten des Staates ferngelenkt waren, gehören zu den bekanntesten Beispielen. In beiden Fällen war die Verschwörungstheorie eine Waffe gegen die Bewegungen. Kein Staatsmann oder kein Journalist hat denn auch jemals jene als Verschwörungstheoretiker definiert, die behaupteten die Brigate Rosse seien gesteuert, denn das unzulässige war genau die Existenz einer unregierbaren Klassen-auseinandersetzung, worin es die autonome Aktion der kämpfenden politischen Gruppen gab; jegliche hinterhältige Erklärung, die dieses “öffentliche Geheimnis” verdrängte, war dem Staat zweckmässig. Sogar die Vermutung, Teile des staatlichen Apparates seien an der Entführung Moros beteiligt… Besser eine waghalsige spy story als die nackte Tatsache einer Gruppe von Arbeitenden, die sich organisieren und den Chef der Regierungspartei holen. Die obsessive Wiederholung der Ersten kann einen blühenden Verlagsmarkt jahrelang füttern und katatonisch-depressive soziale Effekte bewirken, während die einfache Verkündung der Zweiten genügt, um etliche geheime Politik des Imperiums ins Wanken zu bringen und, überdies, die Gefahr birgt, in den Köpfen den Samen gewisser schlechter Gedanken zu verbreiten. Aber die revolutionäre Kritik der Verschwörungstheorie hat tiefere und weniger zufällige Wurzeln: als erste, dass das, was in Erscheinung tritt, mehr als genug ist um diese Welt zu verabscheuen und ihren Umsturz zu versuchen. “Verschwörungstheorie“ war lange Zeit ein Begriff, der vor allem von den antagonistischen Bewegungen gebraucht wurde um die wahre Kritik von ihrer reaktionären Parodie zu unterscheiden und um die Polizei auf ihre traurige und untergeordnete Funktion zurückzuführen, anstatt aus ihr eine Hauptakteurin zu machen: der Unterschied zwischen den historischen Erinnerungen der Kämpfe und den Papieren der Polizeipräsidien ist abgrundtief! Den sog. einfachen Leuten sagte dieses Adjektiv-Substantiv wenig oder nichts.

II “Addà venì Garibaldi – Garibaldi muss kommen”

Die Armen und Ausgebeuteten haben im Verlauf der Geschichte versucht, sich die Welt mit den ihnen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln zu erklären (und sich Mut zu machen). Die Folklore war immer eines davon. Volksglaube, Balladen, Rituale, Sprichwörter, Legenden und Erzählungen waren die spontanen Formen einer Kultur von unten, oral, unbelesen und lange Zeit in der Schule nicht vorkommend. Diese Folklore vermengte nicht wenige Elemente der Wahrheit (als Selbstverständnis der eigenen Erfahrung) in einem fatalistischen und kontemplativen Rahmen (gleichzeitig Ausdruck der Unterordnung unter die Darstellungen der herrschenden Klasse und Kehrseite eines Lebens als Gefangene). Gramsci – für den ich, das sei ganz klar gesagt, keinerlei politische Sympathie empfinde – sagte in treffender Eingebung, dass die proletarische Kultur keine überhebliche und besserwisserische Haltung gegenüber der Volkskultur haben solle, sondern deren Elemente der Wahrheit aufzunehmen und von den fatalistischen Darstellungen zu befreien habe. Der Togliattismus war die Parodie dieser Anweisung: er hat die folkloristischen Mythen mit politischen Mythen ersetzt, und hier meint man mit Mythos das, was gleichzeitig Passivität und Hoffnung einflösst. Wieso hat Togliatti auf Anweisung Moskaus den Mitgliedern der Partisanenbanden den Namen Garibaldini auferlegt? Nicht nur um das patriotische Wesen des Widerstandes zu unterstreichen (als “Zweites Risorgimento”), sondern auch um einen der Volksfolklore eigenen Befreiungsmythos (“Addà venì Garibaldi!”) zu technisieren – würde Károly Kerényi sagen. In der Volksfolklore gibt es sowohl die Idee einer Welt, die von irgendeinem Fluch ungerecht und unveränderlich gemacht wurde, als auch die Idee einer magischen und schmerzhaften Formel, die sie plötzlich befreien kann und alle Schulden und Ungleichheiten auslöscht (das Jubiläum). Wenn es etwas gibt, das nicht der Folklore gehört – und ihr von aussen eingeflüstert wurde – so genau die Idee von Fortschritt, der Glaube an eine allmähliche Befreiung im Sinne einer geschichtlichen Gesetzmässigkeit der kumulativen Zeitlichkeit und der aufsteigenden Dynamik.

III. Geheimdienste

Ein in der Handhabung der Covid-19 Epidemie ohne weiteres nie da gewesenes Element ist der mediale Einsatz des Begriffs „Verschwörungstheorie“, der jeglicher These zugeschrieben wird, die die offiziellen Wahrheiten in Frage stellt. Ein derartiges Trommelfeuer – und dermassen international – kann kein Zufall sein, und entspricht sowohl funktionalen als auch intentionalen Gründen. Um ein Beispiel dieses verkehrten Gebrauches eines in der Vergangenheit meistens von Revolutionären gebrauchten Begriffes zu geben, genügt die Zitierung aus dem Bericht 2020 der italienischen Geheimdienste, wo das Wort erscheint um die Thesen sowohl der extremen Rechten als auch des Antagonismus zu definieren. Ein Geheimdienstler, der jemanden als Verschwörungstheoretiker bezeichnet, kann nicht voreilig als einfacher Zufall abgetan und auch nicht mit einem überhaupt nicht lustigen Witz verwechselt werden. So wie auch die Tatsache einer Erklärung würdig ist, dass die am meisten als Verschwörungstheorie bezichtigten Dinge die Ideen und die Aktionen gegen die 5G Antennen und die Positionierungen gegen die Massenimpfung waren. Vom Zusammenhang zwischen Waldrodung, industriellen Mastbetrieben und Artensprung der Viren konnte man am Anfang (dann immer weniger) auch im Radio reden hören, in Vertiefungen der unvermeidlichen Experten, deren Funktion gerade darin zu bestehen schien, die antikapitalistische Analyse auf allgemeiner Ebene scheinbar zu unterstützen, um sie dann in ihrer unmittelbaren Aktion abzutakeln. Jeglicher live Anruf, der an der Impfung Zweifel auch nur andeutete, oder die Nachricht einer angezündeten Telekommunikationsantenne rief, hingegen, aufgeregte Reaktionen oder die Abräumer-Etikette hervor: Verschwörungstheorie. Formulieren wir doch eine Hypothese über diese Parodie hoch zwei (der Verschwörungstheoretiker, als historischer Feind der revolutionären Bewegung, wird plötzlich zum Staatsfeind). Wahrscheinlich erwarteten die Regierungen, dass vor allem die Revolutionäre und Antagonisten den Sinn und die wirkliche Funktion ihrer “anti-Covid”-Massnahmen radikal in Frage stellen würden. In einer Mischung aus Intentionalität und erprobter Funktionalität mit dem Zwecke, gewisse Worte des Staates und gewisse Worte des Antagonismus (vor allem des am stärksten um die Gefährdung seines öffentlichen Images besorgten) auf eine gemeinsame Linie zu bringen, genügte es, den „Verschwörungstheoretiker“ als Feind der kollektiven Gesundheit und die Regierung als deren Garant (wenn noch so stümperhaft, unfähig und den Interessen der Confindustria – Arbeitsgeberverband – untergeordnet) darzustellen. Im Hintergrund, wie wir sehen werden, hat sich in all seiner Materialität ein ungelöster Knoten vieler Bewegungen des 20. Jahrhunderts verklumpt: die Frage des Staates. Wohin ist denn, unterdessen, der Glaube geraten, dass das, was sie uns im Fernsehen erzählen, alles Stuss ist? In die Volksfolklore, in die Formen, die sie in der digitalen Gesellschaft annimmt. Hat die „kritische Kultur“ – nach gramscianischer Annahme – die Elemente an Wahrheit beleuchtet und versucht, die fatalistisch-reaktionären zu zerpflücken? Nein. Um sich von der “Verschwörungstheorie”, den “fake news”, von der “Leugnung” fernzuhalten, hat sie absichtlich deren Gründe – so verwirrt, partiell, naiv und verseucht man auch will sie auch seien, aber auch verständliche und vernünftige – in einer Abwärtsdynamik ignoriert: wenn ich gestern nichts gegen den lockdown gesagt habe, was dann heute gegen die Ausgangssperre? Wenn ich nichts über die verweigerte Hauspflege gesagt habe, was dann über die Impfstoffe? So, während der Nebel sich verdichtete und der Käfig stärker wurde, ist jeder den Weg gegangen, auf dem er sich am sichersten fühlte: Antirepression für einige, Unterstützung der Arbeitskämpfe in der Logistik für andere, die Kämpfe gegen die Vernichtung der Umwelt für noch weitere. Richtige und notwendige Schlachten, wohlverstanden, aber irgendwie abseits des Terrains, auf dem der Staat und die Technokraten ihre Artillerie aufgestellt hatten.

IV. Giftgas

Die vorherrschenden Tendenzen in der proletarischen Bewegung des 20. Jahrhunderts – die nach dem Rücklauf der Kämpfe der 70. Jahre und dem Verschwinden der Sowjetunion nicht ganz weg sind, um hingegen larvale und gasförmige Formen anzunehmen – betrachteten den Staat entweder als neutrale politische Organisation oder als schlichtes Geschäftskomitee der Bourgeoisie. Im ersten Fall hätte der Eintritt der Arbeiterparteien in die Institutionen und die mit gewerkschaftlicher Macht erzwungenen Verbesserung der Bedingungen der Arbeitenden die Spielräume der Demokratie bis hin zum Sozialismus sukzessive vergrössert; im zweiten Fall hätte nur die gewaltsame Eroberung der politischen Macht einen antikapitalistischen Gebrauch des Staates erlaubt (als erster Schritt zu seiner Abschaffung). Der Stalinismus hat aus der ersten Vorstellung eine Taktik und aus der zweiten eine Strategie gemacht (oder, genauer, ein bestrickendes Versprechen zur Rechtfertigung der Allianz mit den „progressiveren“ Sektoren der Bourgeoisie). Mit der Zeit wurde die Taktik zur Strategie und der demokratisch-bürgerliche Staat zum unüberwindbaren Horizont. Die Interessen der armen Leute hätte man sichergestellt indem man der „privaten“ (und überdies „monopolistischen“) Kraft des Kapitals die „universelle“ Macht des Staates entgegengesetzt hätte. Die staatliche Planung der Wirtschaft und die öffentliche Finanzierung der Forschung waren also schon Vorposten des Sozialismus. Dieses Schema finden wir in den internationalen Mobilisierungen gegen die Globalisierung wieder: die neoliberale Politik besteht aus Entscheidungen von Institutionen, die nunmehr Geiseln der Multis (und des Finanzkapitals) und jeglicher “Souveränität” entleert sind. Muss man sich da wundern, wenn gewisse Sektoren des Volkes hinter der Handhabung der Covid-19 Epidemie die Regie von “Big Pharma” und in der Verfassung den einzigen Damm und auch die Legitimierung des eigenen “Widerstandes” sehen? Das Schema ist ähnlich: die wissenschaftliche Forschung ist den Interessen Weniger gebeugt, die universelle Aufgabe des Staates wird von Regierungen beeinträchtigt, die sich der grossen Finanz verkauft haben. Mehr oder weniger das, was jene behaupten, die sich, aber in einer viel weniger logischen und konsequenten Art und Weise, zum “Impfstoff Allgemeingut” bekennen: ein von “Big Pharma” entwickeltes und verkauftes Produkt – überdies von Kontrollorganen bewilligt, die es selbst finanziert – wird jemals ein “Allgemeingut” sein können? Nicht sehen, wie die Absichten der Pharmamultis (und des Digitalen) durch die Funktion der technologischen Entwicklung ermöglicht werden, bedingt eine enorme Vereinfachung (die das soziale System insgesamt entlastet und erneut den Staat anruft, die Richterschaft, eine neues Nürnberg…). Aber ist es vielleicht realistischer zu verlangen, dass dieselben Multis auf Patente verzichten und ihre Technologien an die armen Länder überführen? Und bezeugt das ein besseres Verständnis des Funktionierens des – privaten und staatlichen – industriellen Apparates der Technowissenschaften? Einige, sicher ein wenig einsichtiger was das Verhältnis zwischen Staat und Kapitalismus angeht, wünschen sich, dass die Massenimpfung von „proletarischen Komitees“ übernommen werden, da ja die bürgerlichen Institutionen sich nicht der Macht von “Big Pharma” entledigen können. Da haben aber die Stalinisten recht: für ein solches Unterfangen braucht es den Staat. Aber klarsichtiger als beide sind ohne weiteres die tausenden von Menschen – zum allergrössten Teil Frauen – die auf die Strasse gegangen sind und „wir sind keine Versuchskaninchen!“ geschrien haben. Die „folkloristische“ Idee, dass Bill Gates die Menschheit durch die Impfstoffe reduzieren will, ist sicherlich näher an der Wahrheit als die progressistische Illusion, die technowissenschaftliche Entwicklung sei nicht bloss neutral, sondern gar ein Emanzipationsfaktor…

Der grösste Teil der Krankheiten, der die Menschheit beutelt, erfordern sehr gering technologische Lösungen wie sauberes Wasser, genug Nahrung, anständige Löhne; alles Aspekte, die von der technologischen Entwicklung nicht gelöst, sondern verschlimmert werden, während sie alle mit ihren „baldigen, aber irgendwie immer um die Ecke liegenden“ Versprechen bezirzt. Bloss 2020 sind in Mosambik 500’000 Kinder an Hunger gestorben. Und was ist die Priorität für gewisse angebliche Internationalisten? Jener Bevölkerung GMO Impfstoffe bringen. Genau das, was die Eugeniker – sowie Sterilisierer armer Frauen – wollen, die den Impfstoff von AstraZeneca entwickelt haben… Nein, ihnen nicht bloss die Impfstoffe sondern auch die Technologien selbst bringen um sie autonom entwickeln und produzieren zu können. Bzw.: biotechnologische Forschungszentren einrichten – wo die in Künstlicher Intelligenz, in Bioinformatik, in Molekularbiologie und in Nanotechnologie hochspezialisierten Techniker einen neuen Jahrgang lokalen Personals ausbilden sollen, um denen in Nullkommanichts Hightech-Fabriken zu bauen, wo sie die Impfstoffe autonom produzieren können. Fabriken, klar doch, die an ein mächtiges digitales Netz angeschlossen sind. In diesem schönen Märchen – dessen Unterbewusstsein jenes des wohltätigen Imperialismus ist – würden solche Forschungszentren und Fabriken bei beendeter Impfung auf die Aufgaben verzichten, für die sie historisch geschaffen wurden: die Abhängigkeit (energetische, landwirtschaftliche, sanitäre, wirtschaftliche, soziale, politische) der lokalen Bevölkerung von einem zentralisierten und heteronomen Apparat zu vergrössern, dessen unersättlicher Rohstoffabbaumotor die Menschlichen auspresst, die Erde steril macht und Epidemien verursacht. Wäre es nicht viel praktischer, die Gelder der Impfstoffe für den Aufbau eines Netzes von kleinen Dorfambulatorien zu verwenden, um dort die Kranken rechtzeitig zu behandeln anstatt wahllos Millionen Personen zu impfen? Sicher wäre es das, aber der Zweck des Biotechmarktes ist ja gerade, die «prosaische Pflege- und Präventionsarbeit» obsolet und wenig profitabel zu machen.

V. Ungelöste Knoten

Cui prodest? Wem nützt es? Diese Frage ist so notwendig wie ungenügend; und die Antworten manchmal irreführend. Es ist nicht gesagt, dass jene, die die Folgen eines Geschehnisses ausnützen, es auch verursacht haben. Unter den vielen möglichen historischen Beispielen wählen wir zwei, die zur Geschichte der revolutionären Bewegung gehören: der Reichstagsbrand und die Bombe am Theater Diana. Die erste Geste – ausgeführt vom holländischen Rätekommunisten Marinus Van der Lubbe – lieferte den Nazis die Rechtfertigung für eine grausame Hetzjagd gegen alle Dissidenten. Lange – und heute noch in nicht wenigen fälschlicherweise als glaubwürdig betrachteten Geschichtsbüchern – wurde der Brand des deutschen Parlaments als Naziverschwörung betrachtet (cui prodest?, eben) und der Genosse Van der Lubbe als Provokateur. Eine – aus naheliegenden Gründen – vor allem von den Stalinisten behauptete These. Der Brandstifter wurde damals bloss von einigen anarchistischen Gruppen (zum Beispiel “L’Adunata dei Refrattari”), von den deutsch-holländischen Rätekommunisten und von einigen Zeitschriften der „italienischen“ kommunistischen Linken verteidigt (und auch unter den wenigen Kommunisten, die ihn verteidigten, fühlten sich einige jedenfalls befleissigt, die Geste politisch zu kritisieren…). Das von der “nazistischen Verschwörung” war eine dermassen durchdringlich getrommelte historische Verfälschung, dass wir sie sogar in einem der allerersten Flugblätter vorfinden, die “sofort” die staatliche und unternehmerische Matrix der Bombe des 12. Dezember 1969 ausmachten. Besagter Text, der einige Wochen nach dem Massenmord der Piazza Fontana von “einigen Freunden der Internationale” veröffentlicht wurde, hatte denn auch den Titel Brennt der Reichstag? (implizit: der italienische Staat ist der Täter dieser blutige Provokation und hat als dafür Verantwortliche auf die Anarchisten gezeigt, genauso wie die Nazis das deutsche Parlament angezündet und die Verantwortung den Kommunisten unterschoben haben). Dass die beiden Gesten – im Falle des Reichstags das Organ der passiv machenden Vertretung des “arbeitenden Volkes” anzugreifen, ein Organ, das die Überbleibsel an Aktion des “arbeitenden Volkes” sterilisierte und dessen staatliche Unterdrückung validierte, und im anderen Falle wahllos in den Haufen der Landwirte zuzuschlagen – diametral entgegengesetzte Anwendungsmodalitäten von Brand- und Sprengsätzen darstellten, hat nicht verhindert, dass sie unter demselben Begriff eingeordnet wurden: Verschwörung. Man beobachtet die Wirkung, man denkt nicht über die Dynamiken nach (das Ganze vom Vorurteil geprägt, dass nur die kollektive Aktion eine legitime Antwort auf Unterdrückung sein kann). Da die Geschichte das Ergebnis eines Gewirrs an Kräften (und Unwägbarkeiten) ist, kann manchmal auch die Analyse der Dynamiken irreführend sein. Als sie am 23. März 1921 die Presseartikel zum Massenmord des Diana lasen, dachten nicht wenige Genossen sofort an eine Provokation der Polizei. Nicht nur wegen der darauf folgenden grausamen Jagd auf den Subversiven (eben: cui prodest?), sondern gerade wegen der Dynamik der Tat an sich: sowohl die Wahl des Zieles – ein auch von normalen Leuten besuchtes Theater – als auch die Modalität des Attentates (eine Bombe mit grosser Sprengkraft). Erst einmal war es schwierig zu verstehen, dass es sich, hingegen, um die unvorhergesehene Wirkung der Aktion einiger jungen und bekannten Genossen handelte, «nicht um das Theater, sondern das darüber liegende Hotel zu treffen – das, nach Infos, die damals die Attentäter hatten, regelmässig als Treffpunkt von Benito Mussolini und dem Polizeipräsident von Mailand, Gasti, diente, beides Erzfeinde der Anarchisten und von denen besonders gehasst, und man dachte, dass gerade an jenem Abend Gasti in jenem Hotel sein sollte» (Giuseppe Mariani). Das alles um zu sagen, dass gerade die Revolutionäre sich hüten sollten, die Logik des cui prodest? mechanisch anzuwenden. Würden wir eine solche Logik auf den Notstand Covid-19 anwenden, wäre die Schlussfolgerung eindeutig: vom Notstand haben vor allem die Digital- und Pharmamultis profitiert, folglich haben die ihn geplant. Post hoc, ergo propter hoc («Nach dem, folglich wegen dem»). Genau so naiv wäre jedoch zu meinen, dass der beschleunigte Anschub zur Digitalisierung der Gesellschaft und ein Programm wie die Impfung auf planetarischer Skala bloss zwei funktionale Antworten auf ein völlig unerwartetes Geschehnis wären: nämlich die Verbreitung des Sars-CoV-2. Um sich von was funktional und was intentional ist eine etwas umsichtigere Vorstellung machen zu können, müssen wir verstehen, wo die zwei grundlegenden Tendenzen unserer Zeit liegen. Bzw. uns erneut mit zwei ungelösten Knoten beschäftigen: die technologische Frage und die Frage des Staates.

VI. Schmelzpunkte

Ich habe mich lange gefragt, auf welche Weise man das Verhältnis zwischen Technologie und kapitalistischer Entwicklung am präzisesten definieren könnte. Auf Grund des geschichtlichen Nachweises finde ich die beiden üblichen Vorstellungen zum Thema völlig falsch: eine entspricht sowohl der liberal-demokratischen als auch der marxistischen Vorstellung und besagt, die Technologie sei eine Gesamtheit an Mitteln zur Rationalisierung und zur Organisation in Bezug auf variable politisch-ökonomische Zwecke; und die andere betrachtet die Technik als autonomes Subjekt der Geschichte (die Geschichte eines Bruches zwischen dem Menschenwesen und seiner Prothese, worin der Unterschied zwischen einer Windmühle und einem AKW nur ein Stufenunterschied wäre). Bis jetzt habe ich zur Definition dieses Verhältnisses das zutreffendste Adjektiv in einem schönen Buch über den luddhistischen Aufstand gefunden: konsubstantiell. Wenn die Einzäunung der gemeinschaftlichen Ländereien und die Ausraubung der kolonialen Reichtümer die zwei Quellen der ursprünglichen Akkumulation des englischen Kapitalismus waren, so wurden die Grundlagen zur Entwicklung der Manufaktur und des Maschinentums von der Stärke des britischen Staates im Krieg zuerst gegen den spanischen Staat und dann gegen den französischen Staat geliefert: aus den Notwendigkeiten der Kriegsführung entstehen denn auch sowohl die Eisenbahn als auch die Ausbeutung der Kohlengruben. Die Elektrizität wurde zur Waffenproduktion entwickelt, bevor sie private Häuser erhellte, diente sie dazu, die Manufakturen auch in der Nacht zu betreiben. Dieses Verhältnis der gegenseitigen Verwicklung von militärischer Macht, Entwicklung der Industrie und Beschleunigung der Technik hat einen Sprung erzeugt: die Technologie, bzw. die Anwendung von immer spezialisierteren wissenschaftlichen Kenntnissen auf eine industrielle Produktion, die nach und nach alle gemeinschaftlichen und nicht zentralisierten Produktionsformen verdrängte. Die zwei Weltkriege waren in der Folge das Labor einer neuen Fusion: zwischen wissenschaftlicher Forschung, Militärapparat, industrieller Planung und Staatsbürokratie. Der zweite Weltkrieg hat der Verschmelzung nicht nur die Massen-kommunikationsmittel hinzugefügt; sondern, dank den gigantischen Rüstungs-, medizinischen und toxikologischen Experimenten auch das eingeläutet, was man als Technowissenschaft bezeichnen kann, und damit auch deren politisch-soziale Form: die Technokratie. So wie die totalisierende Logik des Profits ein Element ist, das in der feudalen Gesellschaft wächst und sich verselbstständigt, wird die technologische Entwicklung, als wirkende Kraft der kapitalistischen Akkumulation, immer mehr zum Motor der wirtschaftlichen Konkurrenz (sowie zur Fortführung der Politik mit anderen Mitteln). «Die politischen Regimes gehen vorüber, die Technokratie bleibt». Innerhalb der Konfrontation der Macht der Staaten – als direkte Akteure der industriellen Planung – der vierziger und fünfziger Jahre, werden die Paradigmen (Kybernetik) ausgearbeitet und die Forschungsprogramme lanciert (Informatik und Gentechnologie, neben dem Nuklearen), ohne die es weder die darauf folgende Finanzialisierung der Wirtschaft (mit den entsprechenden neoliberalen Politiken) noch den Eintritt in die menschlichen Körper als weiteres kapitalistisches Eroberungsterrain gegeben hätte. Diese Verschmelzungsprozesse von privat und staatlich – die jemand Technobürokratie genannt hat – wurden klarsichtig von den weniger von den Sirenen des Fortschritts und der angeblich „emanzipatorischen“ Entwicklung der Produktivkräfte verzauberten Geister begriffen: Simone Weil, George Orwell, Dwight Macdonald, Georges Henein… alle mehr oder weniger verspottet weil sie sich für die „sekundären“ Aspekte interessierten und die unpersönlichen Gesetzmässigkeiten des Kapitals vernachlässigten. Diese Analysen haben sowohl das innewohnend hierarchische und anti-egalitäre Wesen der Grossindustrie (egal wer die Produktionsmittel juristisch besitzt) als auch die omnivore Ausbreitung der staatlichen Bürokratie exakt beschrieben. Was immerhin als selbstverständlich galt, war, dass die industrielle Planung in der dem Kapital untergeordneten Wissenschaft ihren Kern hatte, und dass die logischste Artikulierung dieses Kerns das long range planning sei. Nur ist dieser Kern – dank den enormen staatlichen Finanzierungen – nicht nur völlig eins mit der Kommandoschaltzentrale geworden, um so das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck umzukehren; die “technologische Revolution” hat auch jegliche Planung, die in Bezug auf die Innovationen der angewandten Wissenschaft immer zu langsam und zu kostspielig ist, platzen lassen. Wahr bleibt, dass «das Umfeld, wo die Technik ihre Macht über die Gesellschaft erlangt, die Macht jener ist, die über die Gesellschaft selbst die wirtschaftlich stärksten sind» (M. Horkheimer, T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung). Mit folgendem grundlegenden Zusatz: «Die technokratische ist keine „Revolution“, sondern ein permanenter Putsch». Gerade weil die technische Rationalität der, «wenn man es so sagen kann, zwangsmässige Charakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft ist», trifft ihre Autonomisierung in der Dynamik dieser Entfremdung auf keinerlei Grenzen. Die technologische Entwicklung hat einen relativen Gegensatz (die Kämpfe der Lohnempfänger) und einen absoluten Gegensatz (dass die Menschenwesen und das Lebende nicht zur Maschine reduziert werden können): die Technokratie umschifft den ersten immer stärker und zielt direkt auf den anderen. So wie es die staatliche Repression der revolutionären Bewegung der Sechziger und Siebziger Jahre war, die die Einführung der Telematik in die Produktion ermöglichte und begleitete, so bereitet der aktuelle Angriff der Herrschenden und der Polizei auf den Widerstand der in den Logistiksektoren Arbeitenden die generelle Durchsetzung des “Modells Amazon” vor. Um den proletarischen Angriff der Sechziger und Siebziger Jahre zu liquidieren, haben Staat und Arbeitgeber (durch den gekreuzten Einsatz der Durchsetzungsmacht und des technologischen Sprunges) die „Verhandlungs“-Kraft einer Arbeiterklasse als Produkt eines bestimmten Produktionsmodells (Standortgebundenheit der Anlagen, Warenlagerungskosten, kapitalistischer Bedarf nach einer sehr zahlreichen und gering qualifizierten Arbeitskraft, die gerade deswegen zum „wissenschaftlichen“ Einsatz des Absentismus und der Sabotage fähig war) beseitigen müssen. In sehr reduziertem Verhältnis zielt auch die Digitalisierung der Logistik auf die Beseitigung ihres eigenen relativen Gegensatzes: die Blockaden und die Streikposten der Arbeitenden (genau jene Kampfformen, die der Staat mit seinen „Sicherheitsdekreten“ illegalisiert hat). Zu meinen, die technologische Entwicklung sei heute eine sekundäre Variante der Klassenauseinandersetzung, heisst auf einem anderen Planeten zu leben. Wenn etwelche besonders besser wissende Marxisten über unsere – typisch “kleinbürgerlichen“! –„Ängste“ über die laufende Techno-totalitäre Wende spotten und behaupten, der “technologische Dynamismus” (der eher angekündigt als real sei!) sei bloss das Symptom einer kurzatmigen kapitalistischen Aufwertung, beweisen sie voll und ganz ihren eigenen Realitätsverlust. Genauso wie die dementsprechende Ortung dessen unrealistisch ist, was der wahre Einsatz im Spiel wäre: der Kampf um eine generalisierte Verkürzung des Arbeitstages, als “Minimalprogramm”, das von den neuen Technologien ermöglicht würde. Wenn überhaupt, dann belegt die Geschichte, dass ein Kampf um die Verringerung der Arbeitslast jener ausdauernden Selbstorganisationskraft bedarf, der die Robotik und die Automatisierung jegliche Grundlage entziehen. Die heute und zukünftig noch stärker von der Digitalisierung verursachte Massenarbeitslosigkeit produziert eine immer gefügigere Lohnarbeiterschaft. Das Märchen, dass die technologische Entwicklung das Menschenwesen vom Mühsal befreien würde – wenn nicht automatisch, so wenigstens durch die Schubkraft des Klassenkonfliktes –, war schon immer ein technokratisches Märchen. Die lebendige Arbeit nimmt exponentiell zu – der materielle Apparat des Digitalen gründet auf der erzwungenen Aktivität von Millionen von Menschenwesen –, aber er ist technologisch dermassen verknüpft wie er, andersherum, sozial fragmentiert ist. Somit ist die Forderung eines kürzeren Arbeitstages eminent politisch (und prallt mit einer anderen politischen Option zusammen: mit dem gewährleisteten Mindesteinkommen). Wäre es wirklich unrealistischer, sofort die Schliessung der Produktionen zu fordern, die die Menschen und ihre Umwelt vernichten, bzw. gegen unseren Ausschluss aus der Welt zu protestieren?

VII. Blitzkrieg

In der Geschichte werden die Wirkungen ihrerseits nicht selten zu Ursachen. Die Finanzialisierung der Wirtschaft – unmöglich ohne Informatik, Künstliche Intelligenz, Data Science und die gigantischen Apparate, auf denen sie gründen – wirkt sich ebenfalls auf die technoindustrielle Entwicklung aus. Eine Binsenwahrheit. «Die Entscheidungen scheinen automatisch der “black box” eines „objektiven“ Rechnungsmechanismus zu entspringen». Die technologische Lösung neigt somit zur Abschaffung jeglicher ethischen Einschätzung und politischen Aktion. Kehren wir ein Moment zum Verhältnis zwischen permanenter Innovation und industrieller Planung zurück. Die Atomindustrie – Ergebnis des Machtkrieges unter den Staaten und des kolossalen wissenschaftlichen Finanzierungsprogramms, das sie ermöglicht hat – ist das riesigste Beispiel von staatlicher Planung einer zentralisierten, militarisierten und vor allem ortsfesten Einrichtung. Auf diese staatliche Produktion pfropfen sich sowohl weitere stationäre Infrastrukturen auf – wie die Hochgeschwindigkeitslinien – als auch die high tech Labore, die andauernd Formen und Weisen der Warenproduktion, des Abbaus und der Bearbeitung der Rohstoffe, der urbanen Ordnungen, der Kontrolle des Territoriums, die Formen und Weisen der Kriegsführung umkrempeln. Dasselbe kann von den Tiefseekabeln gesagt werden, deren Legung und Verteidigung selbst Gegenstand geopolitischer und militärischer Auseinandersetzung ist. Wenn, ohne einen radikalen Umsturz der Gesellschaft, man eher sicher sein kann, dass es in einigen Jahrzehnten immer noch Atomkraftwerke, Bahnlinien und Tiefseekabel wie wir sie heute kennen geben wird, haben wir nicht die geringste Ahnung – ausser mit etwelchen Übungen in kritischer Futurologie – wie wohl das Brot oder die Autos produziert werden, und auch nicht davon, wie man Einzahlungen tätigen oder die Körper pflegen wird. Diese totalitäre Beschleunigung ist genau das, was permanenter technologischer Putsch genannt wurde. Wenn das Imperativ der Verbreitung und das Imperativ der Tiefe den technowissenschaftlichen Apparat dazu drängen, jeden Fetzen menschlicher Erfahrung zu erobern um ihn in Daten zu verwandeln, ist es einfach lächerlich darüber zu streiten, ob eine Politik neoliberal oder neukeynesianisch ist. Erstens weil klar ist, dass die Digitalisierung – mit ihrem blutsaugerischen Apparat der Intelligenz der Maschinen – die Flucht nach vorne der Finanz (mit den entsprechenden materiellen Auswirkungen: Eröffnung und Schliessung just in time der Führungs- Logistik- und Produktionszentralen) bloss beschleunigen kann; zweitens, weil die staatliche Planung derselben Logik folgt und ebenfalls die technologische Verwaltung der Territorien und der Bevölkerungen anstrebt. Um sich dessen gewahr zu werden, genügt die Lektüre der Weissbücher der Armee als planende Institution schlechthin. Da die high tech Innovation – von den Drohnen bis zu den Killer-Robots, vom digitalen Schlachtfeld bis zu den genetisch gesteigerten Körper der Soldaten – die Verteidigungsinstitutionen und Forschungszentren schon miteinander verschmolzen hat, wurde der militärischen Bürokratie – die so ortsgebunden wie ein AKW ist – die politische Führung der Programme immer stärker entzogen und den inter-universitären Departementen anvertraut, die ihrerseits den Bedürfnissen der 4.0 Industrie immer stärker verbunden sind. Was die Feinde des Neoliberalismus auch sagen mögen, die high tech Wirtschaft ist eine resolut dirigistische Wirtschaft. Die medialen Verbreiter des technokratischen Wortes haben auf den Notstand Covid-19 gewartet um es begeistert zu verkünden: der Staat ist zurück. (Um zu verstehen, dass er niemals von dannen ging, hätte die Verfolgung des konstanten Wachstums der sog. Staatsverschuldung, um von anderem gar nicht zu reden, genügt). Nicht zufällig haben die verschiedenen auf der Lohnliste stehenden Soziologen und Wirtschaftler als Präzedenzfall des aktuellen staatlichen Eingriffes in die industrielle Finanzierung die kriegerische Organisationsanstrengung der USA im Zweiten Weltkrieg zitiert. Was ansteht ist genau das, eine Kriegswirtschaft. Aber bedeutet das vielleicht auch eine Rückkehr der Planung? Sozialdemokraten und Stalinisten hoffen darauf und drängen die „Bewegungen“ zum Kampf um den staatlichen Planungen etwas Sozialismus beizufügen. Die etwas kritischeren Marxisten entlarven den ideologischen Betrug, weil es für einen New Deal kein Geld gibt, da der Kapitalismus nicht in einer Phase der Expansion sondern der Krise steckt. In Wirklichkeit ist die “Rückkehr des Staates” überhaupt nicht die Rückkehr zum industriellen long range planning: es ist die Beseitigung manu militari aller Behinderungen auf dem Weg zum permanenten technologischen Putsch, bzw. zur Diktatur der Maschinen, der Experten und der Militärs. Wie jemand gut zusammengefasst hat, was beschleunigt vorbereitet wird, ist die Epoche der Fehler und des Unglücks. Ja, die “technologische Revolution”, die alle alten Produktionsweisen gleichmässig verdrängt, ist ein Mythos. Die Technologie hat den Gang eines Blitzkriegs. Dieser Blitzkrieg wird nicht nur unaufhörlich von der übergreifenden Arbeit der Forschungszentren, der Industrie, der Massenmedien und der öffentlichen Institutionen (mit der unauffälligen Präsenz der Militärs) vorbereitet, sondern beeinflusst auch entscheidend alle wirtschaftlichen und sozialen Bereiche. Wenn im globalen Markt die Waren mit der höchsten Aufwertungsrate jene sind, die mehr Daten und mehr wissenschaftliche Entwicklung beinhalten, so müssen die anderen – die weniger oder überhaupt nicht high tech sind – die unbezahlte Arbeit verstärken um den Konkurrenzkrieg zu überstehen: nur so bleibt das Menschenwesen allgemein vorteilhafter als das technologische Investment. Das Beispiel des chinesischen Staates ist emblematisch. Die smart cities und die Zwangsarbeitslager sind zwei kommunizierende Gefässe derselben Technokratie. Sagt es doch den in jeder Fortbewegung aufgezeichneten Chinesen, dass die Digitalisierung der Welt ein Mythos ist, weil Milliarden anti-Covid Masken tagtäglich eigentlich wie im 19. Jahrhundert produziert werden!

VIII. Gramm und Tonnen

Wenn man totalitär sagt, meint man vor allem polizeilich. Das ist ein irreführender Reduktionismus. Eine totalitäre Wirtschaft ist eine Wirtschaft, die keinerlei menschliche Erfahrung ihrem Zugriff entgehen lässt. Auf die Polizei verzichten – oder besser, aus der Polizei die hindernisfreie Organisation der Stadt zu machen, die citizen science – ist die Utopie der Technokraten. Aber gerade weil die Technologisierung der Welt so versteckte wie masslose menschliche und ökologische Kosten hat, ist das, was sie produziert, eine differenzierte Apokalypse. Für einige die Auszehrung in den Coltanminen und den Mangel an Wasser und Nahrung; für andere die Telearbeit und das Risiko der Fettleibigkeit. Für Millionen Frauen im Süden der Welt die verkappten Programme der Zwangssterilisation; für tausende Frauen des Nordens der Welt der Zugang zur medizinisch betreuten Fortpflanzung. Für die Arbeiter, die die Smartphones zusammenbauen, das Arbeitslager und die Maschinenpistolen im Rücken; für die Mitglieder der upper-class der Videoanruf mit dem eigenen genetischen Berater vom Rande des Schwimmbeckens aus. Was aber ein totalitäres System am stärksten charakterisiert, ist das Verschwinden der Kriterien zur Bewertung der Tatsachen (und zur Unterscheidung zwischen den Tatsachen und ihrer Manipulation), die Liquidierung der Fähigkeit, die eigene Erfahrung auszuwerten, die Obsoleszenz der Fähigkeit, mit den Sinnen und dem Intellekt jenes “solide Rätsel” des Produktes der eigenen sozialen Aktivität zu erfassen. Die Leser von 1984 werden sich sehr wohl an die Seiten erinnern, die Orwell den Verkündungen des Grossen Bruders über die Schokoladenrationen widmet. Dank der permanenten Auslöschung der Vergangenheit wird die Verkündung der Zunahme der Ration, die in Wirklichkeit eine Verringerung gegenüber der vor einer Wochen verkündeten Ration ist, von den Parteimitgliedern mit hysterischen Begeisterungsstürmen empfangen. Unmöglich für die Dissidenten, das Gegenteil zu beweisen, da die Daten nach und nach aus den Archiven gelöscht werden. 1984 ist kein “dystopischer Roman”. Um zu beweisen, dass in der Sowjetunion (angeblich Sowjet) das Problem der Arbeitslosigkeit dank den staatlichen Wirtschaftsplänen gelöst worden sei, liess Stalin die Arbeitslosengelder abschaffen. Die Abschaffung der Arbeitslosengelder war doch der objektive Beweis, dass es keine Arbeitslosigkeit mehr gab! Im Zeitalter des Internets kann man vielleicht keine Archive mehr löschen, aber es ist, ausser die Nachforschungen mit entsprechenden Algorithmen zu orientieren, sehr einfach die Konsultationen der Archive gründlich zu vermiesen. Wie viele haben angesichts der triumphalistischen Verkündungen, die Sars-CoV-2 Ansteckungen und Toten seien dank den Impfungen zurückgegangen, Lust darauf, die entsprechenden Daten derselben Periode vor einem Jahr zu verifizieren? Überdies, da auch die Geimpften sich anstecken können – in welchem Masse und mit welchen Konsequenzen sehen wir dann wahrscheinlich im Herbst und Winter, wenn die Zirkulation des Virus zunehmen wird –, hat die WHO in der Zwischenzeit die Instrumente zur Feststellung der „Fälle“ modifiziert und einen maximalen Schwellenwert für die Vermehrungszyklen für die PCR Tests festgelegt, und darüber hinaus ein Kriterium der doppelten Verifizierung für die Verfügung der Positivität eingeführt. Kurz, man schafft also nicht das Arbeitslosengeld ab um die Arbeitslosen verschwinden zu lassen, aber man erklärt einen Teil davon als glückliche Beschäftigte. Wenn dann, angesichts der offensichtlichen Misserfolge ihrer Lösungen, die technokratische Maschine dem Dissens Terrain abgeben müsste, wird ihr Blitzkrieg gegen die Natur schon eine weitere Bedrohung zur Schmierung ihrer Getriebe gefunden haben: es ist sehr unsicher, dass die in der Massentierhaltung der halben Welt (auch Italien) laufende breite und industrielle Massenschlächterei des Geflügels den Sprung des Vogelgrippevirus auf den Menschen aufhalten kann… Es ist eine so unmenschliche wie unverwirklichbare Utopie, aus einer immer stärker krank machenden Welt «eine perfekt hygienisierte Wüste zu machen». Gibt es etwas undurchsichtigeres als diese “black box”, die die Entscheidungen von den Algorithmen ausgehend, die von der Intelligenz der Maschinen erarbeitet werden, orientiert? Gibt es etwas, das einen vollständigeren moralischen Amorphismus verursacht als jener, zu dem die Tyrannei der Effizienz erzieht? In einem Artikel mit dem aussagekräftigen Titel Man sucht einen Menschen ohne praktischen Sinn sagte der exzentrische Konservative G. K. Chesterton, dass die technologischen Lösungen sinnvoll sein können wenn etwas nicht funktioniert; wenn nichts mehr funktioniert, schrieb er, muss nicht ein Techniker sondern ein Theoretiker her, und noch besser wenn «ergraut und gedankenverloren». Die Effizienz an sich ist ein trügerisches Kriterium. «Wenn ein Mensch ermordet wurde, war der Mord effizient. Eine tropische Sonne ist so wirksam um die Menschen faul zu machen, wie ein brutaler Abteilungschef des Lancashire um sie energisch zu machen». Und weiter: «Die Effizienz ist bedeutungslos, so wie die “starken Männer”, der “Wille” und Superman unbedeutend sind. Sie ist unbedeutend, weil sie sich nur für schon vollbrachte Taten interessiert. Sie verfügt über keinerlei Philosophie für das, was noch nicht geschehen ist; sie besitzt, folglich, keinerlei Entscheidungsfreiheit». Dies haben Millionen Menschen während der Handhabung der Covid-19 Epidemie erfahren. Die Techno-bürokratischen Hierarchien (die sog. Experten) haben, eher als eine «epistemologische Dunkelheit», nicht nur eine regelrechte «kognitive Paralyse» verursacht, «eine furchterregende Situation, die daran erinnert, was in den absichtlich konstruierten Umständen zur Ent-menschlichung der Subjekte durch die Spaltung der Worte von den Dingen, der Sprache und der Welt geschieht,» (Stefania Consigliere und Cristina Zavaroni, Ammalarsi di paura – An Angst erkranken); sondern haben auch dazu beigetragen, eine Überfülle an „starken Männern“ zu produzieren (Gouverneure, die dazu bereit waren, die Studenten, die sich zur Hochschulabschlussfeier „zusammengerottet“ hatten, mit dem Flammenwerfer zu verbrennen, oder Ministerberater, die die Impfung obligatorisch machen und alle via Gesetz bestrafen wollen, die sie kritisieren…). Wer sagt, dass die Tatsache, dass der Staat und die Regionen sich in gestreuter Ordnung bewegt haben, der Beweis einer Abwesenheit von Führungszentren im Notstand sei, hat wenig über die spiral- und kaskadenartigen Effekte reflektiert, von denen das technokratische Kommando in der Geschichte schon immer gekennzeichnet war: im Namen einer übergeordneten Sache oder der gebieterischen Notwendigkeit der Effizienz über die Freiheit tausender Menschen zu verfügen, steigert den Wetteifer zwischen nationalen und lokalen Führern im Wettlauf der Entscheidungsfreudigkeit. Das Gefühl zu den wenigen zu gehören, die von der Wissenschaft – oder von der Politik, die im Namen der Wissenschaft handelt – zu Erwachsenen erklärt wurden, führt unweigerlich zur Verachtung und Infantilisierung aller anderen. Das hatte Nietzsche gut begriffen: die Mechanisierung der Untermenschen findet ihre geschichtliche Vollendung und moralische Rechtfertigung im Übermenschen. Die Medienkommunikation, sobald weltweit den Weg der kriegerischen Rhetorik eingeschlagen wurde, hat die Linie des von der Kommandoschaltzentrale Angeordneten eifrig übernommen. Und das nicht nur wegen den erhaltenen Finanzierungen und dem auf sie ausgeübten Druck, sondern auch wegen einer sich selbst nährenden Nachahmungsmacht: wie fühlt er sich wichtig, und sogar den so wie er selbst moralisch doch so mittelmässigen Mitbürgern überlegen, wenn er, der unbekannte und provinzielle Schreiberling sie zur Einhaltung der Regierungsdekrete aufruft! In der totalen Mobilisierung, wenn man alles tun muss was die Autorität sagt um Verantwortlichkeit zu zeigen, fühlt sich auch der Denunziant als Agent des Guten. Vor einer genügend schreckenerregenden Gefahr verursacht die «Totalisierung des öffentlichen Diskurses» in der Gesellschaft zwei kombinierte Effekte: einerseits eine Verstärkung der nationalen Volkseinheit, die den Einzelnen dazu drängt, sich nicht mehr als unbedeutendes «Gramm» sondern als «der millionste Teil einer Tonne» zu fühlen (E. I. Zamjátin, Wir); andererseits ein paralysierendes Gefühl der individuellen Machtlosigkeit: es gibt nichts, aber auch gar nichts, was du angesichts des Covid-19 tun könntest, du kannst weder etwas verstehen noch deine Immunkräfte stärken und wenn die Symptome auftreten, kannst du dich umso weniger noch behandeln. (In den täglichen Chroniken der Angst gibt es nie einen „Experten“, der einen minimalen medizinischen Hinweis geben würde ausser «zieht die Maske an, haltet die Distanz ein und wascht euch die Hände», eine Leier, die ein Postbote ebenso gut hätte wiederholen können oder, nach Lenins Verheissung, eine Köchin.)

IX. Männer auf der Brücke

Nehmen wir den Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza – Nationaler Plan zur Wiederaufnahme und Resilienz –, der von der Regierung Draghi verabschiedet wurde. Wenn wir das von ihm verfolgte Gesellschaftsprojekt verstehen wollen – nicht nur weil es uns nahe betrifft ein grundlegendes Ding, sondern auch weil es die Tendenzen der Epoche, in der wir leben, bestens erklärt – müssen wir unnütze und irreführende Interpretationsschemas an den Nagel hängen. Der PNRR – der sich in den umfassenderen Next Generation EU einfügt, der seinerseits die vergrösserte Version des europäischen Plans Horizon 2020 ist – ist ein explizites Beispiel eines technokratischen Programms. Ist die Technokratie klassistisch und anti-ökologisch? Ohne weiteres – und in höchstem Masse. Aber nicht alle klassistischen und anti-ökologischen Politiken – die die gesamte Geschichte des Kapitalismus begleitet haben – sind gleichfalls technokratisch. Die Technokratie ist heute die politische Organisation der konvergenten Technologien: Informatik, Gentechnik, Nanotechnologien und Neurotechnologien. Von den 50 Milliarden Euro unter dem Posten “energetischer und digitaler Übergang” sind gar 25 nicht rückerstattungspflichtige Finanzierungen für die Industrie. “Öffentliche Gelder an die Unternehmer: die Fortführung der neoliberalen Rezepte” sagt und sagt sich der Linksmilitante. Eine völlig falsche Auslegung. Nicht nur weil eine solche Behauptung nichts darüber sagt, wohin diese Finanzierungen gehen – Robotik, Automatisierung, Quanteninformatik, Künstliche Intelligenz, data science usw. –, sondern weil sie die Tatsache vernachlässigt, dass die Finanzierungen zur Restrukturierung der öffentlichen Verwaltung, des Gesundheitswesens, der Hochschulen und der Universität in dieselbe Richtung gehen. Darauf aufmerksam machen, dass die Industrie (und die Landwirtschaft) 4.0 die Herrschenden mit “unserem Geld” machen, ist sicher kein Blödsinn. Blöde ist hingegen zu denken, dass die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich zur Beurteilung eines staatlichen Programms relevant sei. “Unser Geld”, ja, aber um uns aus der Welt auszustossen. Wie geschrieben wurde, die Masslosigkeit der Technokraten wächst mit ihren Mitteln. Je mehr sie dürfen, desto mehr wollen sie. Es braucht keine “Verschwörungen”. «Es genügt, die Brücke zu überqueren nachdem man sie erreicht hat». Der PNRR systematisiert – mit dem Vorwand, aus dem Notstand zu kommen – all das, was vom Notstand beschleunigt wurde. Es genügt zu beobachten, mit welchem Optimismus die wissenschaftlichen Publizisten (ein Beruf mit schöner Zukunft, angesichts der Tatsache, dass plötzlich entsprechende Hochschulabschlusskurse und post universitäre Master wie Giftpilze aus dem Boden geschossen sind) verkünden, die Covid-19 Epidemie habe die kulturellen Barrieren, die uns von der Welt auf Distanz trennten, gesprengt. Klar, es gibt noch «Taliban der körperlichen Erfahrung», aber die Politik der vollendeten Tatsachen (auch der verbrannten Erde genannt) wird sich schon um sie kümmern: entweder Techno-Bürger oder illegal. Die Lektion mal gelernt, wie sehr die Technologie uns das Leben in der Verbannung verbessert hat, wieso sie nicht auf alles anwenden? «Es wäre nicht das Ende der Welt – versichert uns der Professor Derrick De Kerchove –, bloss das Ende unserer illusorischen und angenehmen Autonomie». Eine Lappalie, in der Kosten-Nutzen Rechnung. Wie hätten wir es nur geschafft, während der Einsperrung, ohne Internet, ohne Telearbeit, Teleschule, Telemedizin, psychologische Teleberatungen, Teleeinkäufe, Künstliche Intelligenz, Genomforschung, Bio- und Nanotechnologien? Tja, wie hätten wir es geschafft?

X. Treibjagd

Vor mehr als einem Jahrhundert schrieb der französische Arzt René Leriche: «die Gesundheit ist ein Leben im Schweigen der Organe» während die Krankheit «das ist, was die Menschen daran hindert, ihrem üblichen Leben und ihren üblichen Beschäftigungen nachzugehen und, vor allem, was sie Leiden macht». Vor etwa 15 Jahren unterstrich ein Soziologe die Tendenz der Konzepte wie “Risikoprofil” und “Empfindlichkeit” Richtung «molekulare Genauigkeit», womit man dank der Entwicklung der Gentechnik Millionen von «Vorpatienten» schuf, die mit «Protokrankheiten» behaftet und «asymptomatisch krank» sind. Und dieser Soziologe schloss mit der Frage: «Welches moralische Urteil würde man über jene sprechen, die sich entscheiden würden im „Schweigen der Organe“ zu leben?».

Die Quarantäne ist eine Praxis, die historisch sowohl der Entwicklung des Kapitalismus als auch dem Entstehen des modernen Staates vorangeht. Vor Ansteckungsherden so zu handeln, dass diese sich nicht ausbreiten, war eine Massnahme, die auch in Zeiten als sinnvoll betrachtet wurde, wo die Medizin sich nicht der Benennung Wissenschaft rühmte, sondern sehr schlichter als Kunst angesehen war (wie die Malerei, die Skulptur, die Musik oder die Architektur). Eine Kunst, die, genau wie heute die Wissenschaft, den herrschenden Vorstellungen unterworfen war. Es gab nicht viele Ärzte, die es wagten ihre eigenen Kongregationen herauszufordern; darunter Hippokrates und Paracelsus, der erste indem er behauptete, die Epilepsie sei keine Krankheit göttlichen Ursprungs, der zweite, dass die Pest nicht von den Juden verbreitet werde; während in jüngerer Zeit an jene erinnert werden muss, die beizeiten die Schädlichkeit von Asbest, radioaktiver Strahlung und GVO in der Landwirtschaft erkannt und angezeigt haben. Und auch diese Weisen und Mutigen gab es nicht scharenweise. Bekanntlich wurde die Pest nicht mit besonderen medizinischen Behandlungen besiegt, sondern durch die Verbesserung der hygienischen Bedingungen. Gleichfalls, ohne dem industriellen Krieg gegen die Natur und dem Lebendigen ein Ende zu bereiten, ist das «pandemische Jahrhundert» weder die Prophezeiung eines Unglücks noch ein sanitärer Alarm, sondern “Kollateralschaden” und gleichzeitig eine Chance für eine weitere Flucht nach vorne der Technokratie. Im Ansteckungsfall wurden in prä-genomischen Zeiten die Kranken von den Gesunden Isoliert. Da es weder die Sequenzierung der Viren noch die Molekulartests gab, gab es auch keine „Fälle”, keine “Positiven”, keine “Asymptomatischen”. In der auf der sozialen Ebene gelebten und nicht auf molekularer Skala diagnostizierten Erfahrung gab es das Schweigen der Organe oder das Leiden und der Tod. Was hat, hingegen, diese wundersame technologische Zivilisation angesichts einer Epidemie getan, die weder Pest noch Ebola ist? Hat sie mit den dank den eigenen Innovationen perfektionierten Instrumenten sofort auf die Stimme der Organe gehört? Nein. Sie hat Millionen Individuen – die zum grössten Teil «im Schweigen der Organe» lebten – als potentiell Angesteckte behandelt, die Angesteckten als schon krank, die Kranken als schon fast Tote, die nur eine heroische Kriegsmedizin imstande wäre, einem unglücklichen Schicksal zu entreissen. Nicht nur. Sie hat in den RSA (Residenze Sanitarie Assistenziali – Pflegeheime) die Kranken nicht von den Gesunden getrennt, und auch in den Spitalzugängen hat sie die Covidkranken nicht von den Patienten mit anderen Pathologien getrennt; sie hat auf Teufel komm raus den sehr nüchternen und wenig innovativen Eingriff der Territorialmedizin entmutigt, hat zeitlich begrenzte Einsperrungen und Ausgangssperren erneuert – auch nachdem das Virus schon ein Jahr im Umlauf war und Millionen Personen angesteckt hatte – und weiter zugelassen, dass die Kranken im Spital landeten und an Sauerstoff angeschlossen wurden. Panik, unvorbereitet sein, das Gewicht der neoliberalen Politik? Auch das, sicher. Aber in geringerem Masse. Der Apparat hat das getan, wofür er programmiert wurde: die Innovation nicht an die Gesundheit anwenden, sondern aus der Krankheit eine Möglichkeit machen, die Innovation zu steigern. Dank der Gentechnik wurde eine erste Variante des Virus (die von Wuhan) sequenziert. Auf jene Sequenzierung wurden schon einige Monate danach – dank der Künstlichen Intelligenz, der Bioinformatik, der Molekularbiologie und der Nanotechnologie – Impfstoffe entwickelt. Da sie sowohl nicht daran interessiert war zu verstehen, wie das Virus um sich greift (über die Atemwege oder durch Darminfektion: nicht einmal das weiss man) als auch nicht wie man die natürliche Antwort des Organismus unterstützen kann, hat sie auf Massenskala das kybernetische Paradigma angewendet, um das herum sie sich entwickelt hat: das Individuum ist auf die Informationen reduzierbar, die seine Zellen mit der Umgebung austauschen. Die Empfindlichkeit auf die Krankheit – unabhängig vom Alter, vom psychophysischen Zustand, usw. – hat die Masseneinsperrung in Erwartung des ebenso Massenmittels gerechtfertigt, (das abgesehen von den schon von den Subjekten entwickelten natürlichen Antikörpern angewendet werden muss). Warum? Wegen den gigantischen Profiten der Pharmaindustrie, ohne weiteres. Aber auch wegen der Überzeugung, dass die dank den Nanotechnologien in den Körper eingeführten “genetischen Informationen” leistungsstärker sind als die spontane Antwort des Körpers. Aber auch weil die Geno-Industrie aus „Körperjägern“ besteht (die Genetisten wurden in der “Washington Post” im Jahr 2000 als The body hunters definiert), die kaum glauben konnten, dass sie ihre Treibjagd nun auf den gesamten Planeten ausweiten konnten. Aber auch weil die Massenimpfung – sehr viel mehr als die Hauspflege ohne Klamauk, ohne Generäle und ohne Helden – dem Staat erlauben, sich als Heilsbringer und Garant der öffentlichen Gesundheit zu präsentieren; bzw. die eigene Macht zu vergrössern und sie der Gesellschaft überzustülpen, zuerst als polizeiliche Massnahme und dann als programmatische Ausweitung zur “Normalität” dessen, was er im „Notstand“ experimentiert hat.

Die Krankheit «ist das, was die Menschen daran hindert, ihrem üblichen Leben und ihren üblichen Beschäftigungen nachzugehen», schrieb obg. Leriche, und passt diese Definition etwa nicht perfekt zur Art und Weise, wie der Staat die Epidemie verwaltet hat? Was die zusätzlichen Leiden angeht, was soll man von den Alten sagen, die man sterben liess, ohne sie nicht einmal von ihren Lieben verabschieden zu lassen? Was soll man von der Unmöglichkeit sagen, die Trauer teilen und bewältigen zu können? Was über die zusätzliche häusliche Gewalt gegen die Frauen? Was zu den Selbstmorden? Und von den vielen Jugendlichen und Jungen, die sich immer noch nicht ohne Panik vorstellen können, ausser Haus zu gehen? Nur eine Zivilisation, die den Körper vom Geist trennt, und das Individuum von seinen Beziehungen, kann denken, dass die Isolierung und die völlige Überschüttung mit Angst nicht dazu beitragen würden, die Immunabwehr der Menschenwesen zu schwächen, und so Krankheiten zu verursachen («die Vorstellung und die Arten und Weisen von Gesundheit sind variabel und hängen direkt von der Kosmovision ab, in der sie ihren Platz finden»). In der sich im Aufbau befindenden Welt der genetischen Diagnosen, der voraussagenden Screenings und der einnehmbaren Nanosensoren um damit die “Protokrankheiten” aus der Ferne zu kontrollieren, «was für ein moralisches Urteil würde man über jene sprechen, die sich entscheiden würden, im „Schweigen der Organe“ zu leben?». Wir können schon antworten wenn wir an diejenigen denken, die – in voller Pandemie! – eher den Symptomen vertraut haben als den Tampons oder an jene, die die Impfstoffe der biotechnologischen Bastelei ablehnen. Unverantwortliche, Verschwörungstheoretiker, Leugner, Taliban der körperlichen Erfahrung, Anti-nationale, Deserteure vor dem Feinde in der Stunde der Gefahr.

XI. Avantgarde-Unmenschliche

Die von den (artistischen, politischen, wissenschaftlichen) Avantgarden lancierten Manifeste verkündeten generell deren programmatische Zwecke. Wer den Anspruch stellt, den Zeitgeist seiner Zeit zu interpretieren und den zukünftigen vorauszusagen, bejubelt fast immer die historische Bewegung, die seine eigene Existenz als Avantgarde produziert hat, und die historischen Gesetzmässigkeiten, die seine Rolle rechtfertigen. Progressismus und Futurologie integrieren einander sehr gut. (Die Tatsache, dass die Anarchisten sich als agierende Minderheit und nicht als Avantgarde begriffen haben, ist eine alles anders als zufällige ethische und „politische“ Geste; die Aufforderung Benjamins, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit durch die revolutionäre Aktion zu rehabilitieren anstatt zuversichtlich auf eine strahlende Zukunft zu warten, ist eine alles anders als zufällige ethische und „politische“ Geste; überhaupt kein Zufall, dass ein Poet wie Iosif Brodskij – vom „sowjetischen“ Regime, unter dem «man nie wusste, was die Vergangenheit uns bescheren könnte», wegen „sozialem Parasitismus“ eingekerkert – schreiben konnte: «Die Zukunft, in ihrer Gesamtheit, ist Lüge».) Auch die historische Entwicklung der Technowissenschaften hat die zu ihr passende Avantgarde: die transhumanistische Bewegung. Die Transhumanisten behaupten auf programmatische Weise das, was der technologische Apparat stumm verwirklicht. Als Avantgarde beansprucht der Transhumanesimus für sich die Rolle, alle Hindernisse zu überwinden, die das bewusst zu vollbringen verhindern, was die Menschheit – selbstverständlich die westliche, die für die gesamte Menschheit massgebend ist – bis jetzt meistens unbewusst verfolgt hat. Hat sie nicht schon immer die Materie und die eigene Umwelt verändert? Hat ihre Religion ihr nicht etwa den Fluch zu leben als Frucht der Schuld dargestellt: “du wirst das Brot im Schweisse deines Angesichts essen” und “unter Schmerzen wirst du Kinder gebären”? Haben ihre hervorragendsten Philosophen ihr nicht etwa die Lehre erteilt, dass der Körper das Grab der Seele ist? Versuchte sie nicht schon immer, die Angst vor dem Tode mit dem Versprechen des Paradieses zu besiegen? Na bitte: dank den technologischen Entwicklungen können diese Fluche besiegt und jene Versprechen endlich verwirklicht werden. Die Lebensprozesse können im Labor neu kombiniert werden. Die allgemeine Automatisierung kann die körperliche Mühe der Arbeit abschaffen. Die Reproduktion kann künstlich werden. Leistungen und Wahrnehmungen können gesteigert werden. Die Gliedmassen und das Gehirn können mit den Maschinen hybridisiert werden. Der Tod kann besiegt werden. Die Mittel für dieses gesamtheitliche Programm sind schon da: die gesteigerte Wirklichkeit, die Gentechnik, die Neurotechnologien, die Nanotechnologien, die synthetische Biologie. Um angemessen zu funktionieren, müssen sie aber grenzenlos implementiert und vor allem in einem intelligenten Planeten miteinander verbunden sein.

Wieso gleichen die Massnahmen, mit denen die Sars-Cov-2 Epidemie in Angriff genommen wurde und die Programme, mit denen der Neuanfang verkündet wird, in bedrohlicher Art und Weise dem, was sich der Transhumanesimus vornimmt? Eine Antwort darauf kann man in der Konferenz – Titel: Nanotechnologie für das Menschenwesen – von Roberto Cingolani 2014 in der Università degli Studi von Mailand finden (auch im Internet). Was er heute als Minister des „ökologischen Übergangs“ zu finanzieren und zu organisieren beschäftigt ist, sind genau jene Forschungsprogramme, die er dermassen inspiriert förderte, als er Leiter des Istituto Italiano di Tecnologia war. Die Konferenz, ein 35 minütiges Kommentar zu einem Videospot von Microsoft, das in den Stadien projiziert wird, erklärt wasserklar, dass die (transhumane) Zukunft der ineinander greifenden Entwicklung der Informatik und der Bio-Nano-Neurotechnologien gehört. Der Zuhörerschaft jenes technowissenschaftlichen Kaffeekränzchens verschweigt der zukünftige Minister nicht, dass der Weg zum vollständigen Verbund Mensch-Maschine noch lange ist, aber er erinnert auch daran, dass «der Appetit mit dem Essen kommt». Die nazistische Biopolitik war im 20. Jh. Avantgarde in der Aufstellung der Theorien über die “Rassische Degeneration”, die von der angelsächsischen eugenischen Bewegung des 19. Jh. ausgearbeitet wurden und die, ihrerseits, ihre Wurzeln in der Praxis auf dem Felde des britischen Kolonialismus hatten. Ohne den Machtkrieg zwischen Staaten wären gewisse Experimente nie aus den Labors heraus gekommen (weder aus jenen Berlins noch aus jenen von Los Alamos). Mit seiner sehr bekannten Technik der Übertreibung, um das “sovraliminare”, bzw. etwas, dessen Effekte so masslos sind, dass sie von den Sinnen und der Vorstellungskraft gar nicht mehr wahrgenommen werden können, fassbar zu machen, definierte Günther Anders das technologische System als «national-sozialistische Gemeinschaft der Apparate». Er meinte damit, dass die Apparate in ihren umfassend kombinierten Effekten begriffen werden müssen, aber auch, dass, wenn wir auf das Geräusch achten, «das von den stählernen Lippen der Maschinen» kommt, wir denselben Slogan hören können wie jener der Braunhemden («… und morgen die ganze Welt!»). Welcher Tatsache ist es zu verdanken, dass der Transhumanesimus – dessen erstes Manifest 1983 von Natascha Vita-More lanciert wird, im selben Jahr, in dem es zur ersten Speicherung von informatischen Daten kommt – aufgehört hat eine Übung in anti-humanistischer Futurologie zu sein, um zum regelrechten Direktionszentrum zu werden? Schon wieder dank dem Machtkrieg zwischen den Staaten. Nach dem 11 September 2001 wird dann auch die Fusion zwischen den start ups der Silicon Valley – die von den brillantesten aus der MIT hervorgekommenen Nerds geschaffen wurden –, der CIA und den Forschungsdepartementen des Pentagons realisiert. Der erste Sprung nach vorne – finanziell und folglich als Infrastruktur (intelligentere Maschinen weil mit mehr Daten gefüttert, leistungsstärkere Server usw.) – machen die Gründer von Google, indem sie Keyhole, eine von der CIA kontrollierte Gesellschaft, übernehmen um sie in Google Earth zu verwandeln. Gesteigerte Wirklichkeit, 5G, Internet der Dinge, Drohnen, Gesichtserkennung, Intrusions-Software, Quantenkryptographie, die ersten m-RNA Impfstoffe… sind alles Wunderwerke, die aus der Zusammenarbeit zwischen Digitalgesellschaften, den Bio- und Nanotechlaboren und dem militärisch-industriellen Komplex entstanden sind. Dasselbe gilt für das Projekt Humangenom, für deCode in Island, UmanGenomics in Schweden, UKBiobank in Grossbritannien oder CeleraDiagnostics in den USA. “Marktsozialismus” anstatt “Liberal-Demokratie”, nichts anderes ist auch der in China stattgefundene Fusionsprozess. Als, schon im April des vergangenen Jahres, etwelche Professoren des MIT – ein Institut, das ein regelrechter Inkubator für Transhumanisten ist – prophezeiten, dass es keinerlei “Post-Pandemie” geben würde und wir uns an die digitalen Passierscheine gewöhnen müssten um Zugang zu gewissen Lokalen oder Dienstleistungen zu haben, was taten sie denn anderes als uns zu informieren, womit ihre Kollegen des Labors nebenan beschäftigt waren! Dasselbe gilt für die „Prophezeiungen“ von Bill Gates, die Projekte von Amazon oder die Ankündigungen von IBM. «Wenn der Transhumanesimus ohne Behinderungen voranschreitet, dann weil die Technokratie sie unter den Farben der wirtschaftlichen Rationalität verkauft» (und, könnten wir anfügen, der medizinischen Hoffnung). «Das transhumanistische Projekt ist der andere Name des Wachstum».

XII. Das grosse Arsenal

Als 2003 der Neokonservative George Bush Jr. und der Neolabourist Tony Blair dem Irak unter dem Vorwand der Massenvernichtungsmassen des Regimes von Saddam Hussein den Krieg erklärten, und die “Koalition der Willigen” mit der Unterstützung der westlichen Medien an den Bombardements der Operation Enduring Freedom teilnahm, sprach die Oppositionsbewegung auf den Strassen und Plätzen von einer Lüge, um die wirklichen Ziele des Krieges zu verdecken, und von einer auf internationaler Ebene geplanten Medienstrategie. Es war für alle eine sinnvolle und materialistische Erklärung. Niemand sprach von “Verschwörung” und kein Kriegsgegner wurde mit “Verschwörungstheoretiker” beschimpft. Dasselbe geschah vor einigen Monaten mit dem Aufstand der Palästinenser gegen die Apartheidpolitik Israels. Dass alle Massenmedien die Bombardierung Gazas als Antwort auf die Raketen von Hamas darstellten – Bombardements, wovon, wenn überhaupt, deren Verhältnismässigkeit oder nicht diskutiert werden könnte – und dass die Massenkundgebungen in Solidarität mit dem palästinensischen Kampf in der halben Welt weitgehend verschwiegen wurden, ist sicher nicht als “Verschwörung” wahrgenommen worden, und als “Verschwörungstheoretiker” wurde auch nicht definiert, wer eine sehr klare politisch-mediale Strategie angeprangert hat. Niemand hat an eine Art obskuren Führungsbunker gedacht, der Regierungen, Politiker und Journalisten auf seine Lohnliste setzt, sondern an eine Konvergenz von Interessen. Wenn man sagt, dass die Art und Weise der Verwaltung der Epidemie Covid-19 durch fast alle Regierungen nicht nur funktionalen Elementen, sondern auch einer sehr klaren Strategie entspreche, wieso dann behaupten es sei, in diesem Fall, eine “Verschwörungstheorie”? Das Programm einige Milliarden Menschen zu impfen – ein Programm, das die Inokulierung in massiven Dosen der Idee impliziert, dass es die einzige Lösung sei um den “Krieg gegen das Virus zu gewinnen“ – kommt von derselben Konvergenz von Mächten, die zur Rechtfertigung der Bombardements den “Krieg gegen den Terrorismus” lanciert haben. Bomben oder Impfstoffe, es handelt sich um zwei Züge aus derselben Kommandoschaltzentrale. Die Erklärung Jo Bidens am kürzlich stattgefundenen G7 hätte klarer nicht sein können: «Wir sind das grösste Arsenal, das uns erlauben wird, die weltweite Schlacht gegen das Virus zu gewinnen». Eine Schlacht, in der die kurzsichtige Konkurrenz unter den verschiedenen Pharmamultis und die geopolitische Auseinandersetzung unter den Staaten allerdings dazu neigen, deren Wert zu beeinträchtigen. Dazu haben die Redakteure des “The Economist” folgendes geschrieben: «Stellt euch ein Investment vor, das einen Gewinn von 17.900% in vier Jahren fruchten könnte. Nicht nur, das auch noch mit einer absolut zugänglichen Geldanlage. Wer wohl auf der Erden hätte sich eine solche Chance entgehen lassen? Die Antwort sind, anscheinend, die Leader der Gruppe der Sieben (G7), ein Klub reicher Demokratien, der diese Woche sein jährliches Spitzentreffen in Grossbritannien abgehalten hat. Da es ihnen nicht gelingt, schnell genug zu handeln um die Welt gegen Covid-19 zu inokulieren, verpassen sie das Geschäft des Jahrhunderts». In der Zeit seit 2003 bis heute, hat es der Feind, offensichtlich, «weder verschlafen noch gespielt». Die Mechanisierung der Entscheidungsmacht – informatische Datensammlung, Ausarbeitung der Algorithmen und automatisierte Ausführung der Befehle – bedingt eine unausweichliche Reduktion der Anzahl Entscheidungsträger. «Die Wissenschaft befiehlt es uns» heisst hauptsächlich das. Die Tatsache ist dermassen notorisch, dass sogar fahlen Bürokraten der EU gelungen ist, es niederzuschreiben: «Die Entwicklung der Robotik kann als Folge haben, dass sich das Reichtum und die Macht in signifikanter Weise in den Händen einer Minderheit konzentrieren» (Resolution des EU-Parlaments zur Robotik, 16. Februar 2017). Gewisse Namen – zuoberst die Bill & Melinda Gates Foundation – oder gewisse Entitäten – Big Pharma – scheinen dann im Umlauf zu sein um absichtlich Elemente der Wahrheit zu vermischen und gleichzeitig eine okkulte private Regie hinter dem Notstand zu suggerieren. Die These eines Gates als grosser Führer – die zweifellos Bresche schlägt – wird von denselben Regierungschefs als “verschwörungstheoretisches Delirium” bezeichnet, die den Gründer von Microsoft dann als externen Berater des G20 für Gesundheit und Impfstoffe einladen… Von Gates reden kann eine optimale Art und Weise sein, um die Erkennung der kleinen und konkreten Vernichter des Menschlichen zu umgehen, die in den universitären Departementen mit der Künstlichen Intelligenz oder in den rigoros mit öffentlichen Geldern finanzierten bio- und nano-technologischen Labors am Werkeln sind. Wenn man Lust hat, die imposante The Palgrave Encyclopedia of Imperialism and Anti-Imperialism zu konsultieren, kann man sehen, dass die Kritik des «Imperialismus der Gesundheit und der Impfstoffe» – vor allem durch die LARC, die “Verhütungsmittel” mit langsamer Ausschüttung, deren Zweck die jahrelange Verhinderung der Schwangerschaft für arme Frauen ist –, der von der Bill & Melinda Gates Foundation praktiziert wird, schon vor vielen Jahren sowohl von akademischen als auch von militanten Intellektuellen und Historikern angebracht wurde. Dieselbe Vandana Shiva hat sicher nicht auf das Covid-19 gewartet um den “wohltätigen” Imperialismus anzuprangern, dessen Ziel ist, aus unseren Körpern die neuen Kolonien für die digitale und pharmazeutische Industrie zu machen. Und doch genügt es Bill Gates zu sagen und der Linksmilitante – mit dabei auch einige Compas – runzelt die Stirn, wenn dann nicht gar der brillante Theoretiker mit seinem Sarkasmus über die Pläne Satanas einfährt… Wenn das kein Kommunikationskrieg ist! Nun, die erklärte Anstrengung des Chefs von Microsoft in neo-malthusischem Sinne ist unbestreitbar (und schau welch ein Zufall, die überflüssigen Wesen auf diesem Planeten sind farbig, wie auch die zu sterilisierenden Frauen farbig sind…); unbestreitbar ist seine Finanzierung aller Unternehmen, die mit der Entwicklung der Impfstoffe letzter Generation beschäftigt sind; unbestreitbar ist sein Programm ID2020 mit dem Zweck, jedem Menschenwesen eine digitale Identität durch die sogenannten Quanten-Tatoos zuzuordnen; unbestreitbar seine Projekte, Körperaktivitäten in patentierbares Eigentum zu verwandeln; unbestreitbar wie sehr seine “Prophezeiungen” – die in Wirklichkeit Baustellen sind – den von den NATO-Staaten getroffenen “anti-Covid”-Massnahmen überraschend ähnlich sind. Das sind Wahrheiten im Sinne Orwells (2+2=4), was die Technokraten des Westens und des Ostens auch dazu sagen mögen. Wann werden diese partiellen Wahrheiten zu totalen Lügen? Wenn man die Intentionalität einiger Machtzentren von der Funktionalität – für alle Mächte – der technologischen Flucht nach vorne voneinander trennt. Wenn die Staaten als Schachfiguren der Technokratie betrachtet werden, während sie schon sowohl deren historische Inkubatoren als auch die politischen und militärischen Organisatoren sind. Wer das Internet der Dinge verwaltet, regiert die Menschen. Wer die Menschen regiert, verwaltet das Internet der Dinge.

XIII. Kleine Neuigkeiten

Ein Kapitel für sich – das wir hier nur andeuten können – ist jenes zur revolutionären Theorie in Zeiten des Notstandes. Wer radikale “ethisch-politische” Interpretationsraster hatte, hat darin die kleine Neuigkeit der sozialen Einsperrung von Milliarden Menschen ohne grosse Mühe eingefügt. Im Grunde hat die Sars-CoV-2 Epidemie die Krise der kapitalistischen Produktionsweise und ihre anti-ökologische Wechselwirkung mit der Natur bloss verschärft; die technokratische Verwaltung ist bloss ein Epiphänomen (wird als eine Entität bezeichnet, die kausal verursacht wird, aber selbst keine oder nur eine unbedeutende Wirkung auf das System hat. d.Üb.) des Krieges des Kapitals gegen die Lohnempfänger und das Ökosystem… Für viele “einfache Leute”, die keine vorgefassten theoretischen Filter haben, war diese Erfahrung hingegen ein Schock – und nicht nur wegen den mit dem wirtschaftlichen Überleben verbundenen Sorgen. Nicht alle haben die durch die „harte Notwendigkeit“ auferlegten Massnahmen widerstandslos introjiziert (fremde Anschauungen, Ideale usw. in die eigenen einbeziehen). Für tausende Menschen war es ein Test für „Faschismus“, eine „sanitäre Diktatur“, dass der Staat ihnen verbot ausser Haus zu gehen und ihre Freunde und Verwandten zu treffen, dass er sie dazu zwang, normale alltägliche Gesten bürokratisch zu rechtfertigen oder über Notstandsdekrete bestimmte, wie viele zusammen essen konnten und welche Häuser man betreten durfte. Dass der Gebrauch von Kategorien davon abhängt, wie sehr diese Personen der politisch-medialen Propaganda ausgesetzt sind oder sich eher an den “Gegen-Erzählungen” im Netz orientieren, ist eigentlich klar. Sowie auch klar ist, dass der Reaktionsmodus auf eine nie dagewesene Lage von verschiedenen Faktoren abhängt: Klassenzugehörigkeit, verfügbare kulturelle Instrumente, frühere Protesterfahrungen, Beziehungsnetz usw. Was wir feststellen können ist, dass sich den Regierungsmassnahmen vor allem Menschen mit mittlerem Bildungsstand und Linke am überzeugendsten angepasst haben. Wahrscheinlich weil empfänglicher gegenüber den institutionellen Aufrufen zum Verantwortungssinn und dem eingehämmerten Argument “tun wir es für die Schwächeren”. Aber auch wegen der introjizierten Vorstellung, der Staat sei Ausdruck des Allgemeininteresses oder jedenfalls die einzige Kraft – so sehr von den wirtschaftlichen Interessen auch geschwächt und behindert –, die imstande ist, es zu erzwingen. Die Angst – zu erkranken oder eine Busse zu bekommen – erklärt nur zum Teil das, was geschehen ist, denn Divergenzen und Konflikte blieben nicht einmal den Szenen erspart, die an den Kampf und an die Repression gewöhnt sind. Die mit der Einsperrung begonnene Spaltung hat sich längs mehr oder weniger denselben Linien mit der Impfung noch vergrössert. Für jemanden war die Spur schon gezogen. Viele Familien – oft mittelständische und mittlerer Bildung, die achtsam auf die Ernährung der Kinder und für die alternative Medizin, umweltfreundlich, mit Bezug auf gewaltlose Modelle usw. sind – verlangten vom Staat grundsätzlich bloss, sich nicht in die Erziehung und Gesundheitspflege einzumischen. Das “Gesetz Lorenzin”, das 2017 die Impfpflicht im Auftrag von Glaxo eingeführt hat, war für sie eine Art Schnellkurs in Staatsdoktrin gewesen. Sie haben entweder vor der Logik der vollendeten Tatsache (bzw. der Macht) kapituliert oder alternative Schulen ins Leben gerufen, und am Rande ihrer nunmehr integrierten Zeitgenossen ihre Bindungen gestärkt. Der Covid-19 Notstand hat diese Gräben vertieft. Die Verweigerung der Didaktik auf Distanz hat einen weiteren Grund zum Protest und zur Bildung von Mikrogemeinschaften geliefert. Das Paradoxon ist, dass diese Personen, die ziemlich über die Impfstoffe, die GVO, die verweigerte Hauspflege, die gesundheitlichen Auswirkungen des 5G informiert sind, die antagonistischen Szenen allzu sehr auf Linie mit der herrschenden Medizin finden, und betrachten jene, die sich nicht gegen die Einsperrung und die neue Impfpflicht aufgestellt haben, als Hörige des “sanitären Faschismus”. Gerade weil die Massnahmen der Regierung jene «apokalyptische Vorstellung, die schon seit Jahrzehnten im sozialen Unterbewusstsein liegt» – das Gefühl von etwas Dräuendem ist die Art und Weise, wie die Körper auf das laufende ökologische Desaster reagieren –, für sich ausgenützt hat, hat die Erfahrung dieser anderthalb Jahren als ideologische Wasserscheide funktioniert. Tausende Proletarier und Arme rebellieren gegen eine Welt, in der es für sie keinen Platz hat. Andere, Privilegiertere und in ihren Ansprüchen bis anhin moderat, wollen nicht länger auf dem ihnen auf der Welt zugewiesenen Platz bleiben. Ein Teil der revolutionären Theorie, die ideell auf das Desaster vorbereitet war, hat als Beruhigungsmittel (die strukturellen Ursachen der Epidemie, die Krise des Kapitals… alles wie erwartet) anstatt als Initialzünder des gekränkten und verminderten Lebens agiert. Über ein Ding haben die Technokraten recht: Morgen fängt man nicht von vorne an.

XIV. Ökologische Massnahmen

Nehmen wir auf unsere Art und Weise die treffende Eingebung Chestertons wieder auf. Wenn “nichts funktioniert”, nützt das Inventar der wirksamsten Lösungen nichts. Was nützt, ist die Definition selbst der Probleme zu ändern. Was dient ist die Utopie. So haben angesichts des Notstandes Gruppen und Bewegungen begonnen, ihre Programme zu verkünden, die vorher im Hintergrund der unmittelbaren Kämpfe gelassen wurden. Und hier ist die entscheidende Frage aufgekommen: die Frage des Staates. Da der Kapitalismus seine die Umwelt offen vernichtende Route niemals ändern wird, was tun? Die Macht des Staates einsetzen um jene Förderungswut aufzuhalten, die der energetische und „ökologische“ Übergang bloss verschlimmern kann. Auf diesen programmatischen Punkt konvergieren jene, die für den Rückgang sind und die Stalinisten und die Leninisten, sobald die Umstände sie dazu zwingen, Klartext zu reden. Während die weniger Radikalen sich vormachen, dass der staatlichen Planung eine „gutkommunistische“ Richtung von Unten einzuflössen möglich wäre – und hier trennen sich die Schulen: muss die Entwicklung angehalten oder nationalisiert werden? –, setzen die kohärentesten auf einen «ökologischen Leninismus». Nur wenn der Staat gänzlich seines kapitalistischen Wesens entkleidet ist, kann die Macht des Staates den privaten Profit aufhalten und wirklich ökologische Pläne erzwingen. Lassen wir mal die Kleinigkeit der revolutionären Eroberung der politischen Macht beiseite (proletarische Bewaffnung, Aufstand, Verbindung zwischen den revolutionären Bewegungen in den verschiedenen Ländern usw.); sehen wir auch davon ab, uns vorzustellen welche Massnahmen diese Revolutionäre getroffen hätten, wenn sie während der aktuellen Epidemie an der Macht gewesen wären… und gehen zum Kern der Frage. Wer die Macht will, will die Mittel der Macht. Die technologische Maschine – Zentralisierung des Wissens, hierarchische und funktionale Trennung der Rollen, Wirksamkeit als Wert an sich, Konkurrenz in der Suche nach den wirksamsten Lösungen usw. – entwickelt man weil das die Zwangskraft der Regierenden über die Gesellschaft vergrössert. Diese Kraft, wie die Geschichte des 20. Jh. grosszügig illustriert, beutet die Menschlichen im selben Masse aus, in dem sie die Natur ausraubt, und vice versa. Da nützt es wenig, sich zu Antikolonialisten zu erklären und, weil es Mode ist, etwelche indigene Aufstände zu begrüssen, wenn man im eigenen Geiste die Geschichte des Kolonialismus nicht demontiert. Die indigenen Gemeinschaften, die in einem Verhältnis des Gleichgewichts mit ihrer Umgebung leben, waren und sind Gemeinschaften ohne Staat. So wie das Märchen des zeitlich beschränkten und transitorischen Gebrauchs der politischen Macht sich noch nie verwirklicht hat, würde eine Revolution, die in ihrem eigenen Verlauf die Ursachen des ökologischen Desasters nicht zerstört, dem Staat sowohl die Mittel um den revolutionären Elan zu brechen als auch die Hebel einer Förderungsmaschine anvertrauen, die notwendig ist, um die neue soziale Trennung zwischen Anführern und Ausführenden zu gewährleisten. Ergebnis: eine grün angemalte Technokratie. Die Vernichtung des Staates ist die ökologische Massnahme, die alle anderen möglich macht.

XV. Prinzipiell

Wahrscheinlich hängt die theoretische Unzulänglichkeit im Verständnis der laufenden historischen Transformation – worin die Notstand genannte Beschleunigung angesiedelt ist – sowohl von veralteten Interpretationsschemas als auch von einem Rest an Gläubigkeiten ab, die durch das theoretische Bewusstsein alleine nicht zu überwinden sind. Wir wissen – wenn wir die Aktion des Staates im Verlauf der Geschichte oder der aktuellen Kriegs- und neokolonialen Herrschaftsszenarien beobachten – dass für seine (heute technokratische) Machtpolitik keinerlei ethische, politische oder juristische Grenzen existieren. Und doch scheinen uns gewisse Schlussfolgerungen übertrieben zu sein. Möglich, dass unmittelbar so viele wirtschaftliche Interessen geopfert wurden, um die Bedingungen für den Grossen Übergang aufzutischen? Ist es möglich, dass man so viele Menschen sterben liess um die öffentliche Überzeugung durchzusetzen, Covid-19 sei unheilbar und damit die „Wiedereröffnungen“, die „Wiederaufnahme“ und das „Zurück zur Normalität“ von der biotechnologischen Massenimpfung abhängig? Die Praktiken der sozialen Technik und der Ausrottung, die von den Staaten im Verlaufe des 20. Jh. getätigt wurden (Durchschnitt der Ermordeten: 30’000 Personen am Tag), haben vielleicht nicht schon zur Genüge geantwortet: «Ja, es ist möglich»? Und die Mittel, über die sie verfügen, haben sich bloss vermehrt und radikalisiert. Wenn in den achtziger Jahren eine Gruppe wie die Rote Zora – als Ausdruck einer breiteren revolutionären und feministischen radikalen Bewegung – unter anderem die Wissenschaftszentren und Gentechlabore angriff, dann weil sie in jenen Forschern und Instituten die Fortführung der nazistischen Eugenik sahen. Wo nicht nur eine biografische (unter den Führungskräften befanden sich hervorragende Figuren der national-sozialistischen wissenschaftlichen Programme) sondern auch eine planmässige Kontinuität festzustellen war. Um die Kontinuität in den Projekten zu begreifen, war der Antifaschismus jedoch eine stumpfe Waffe. Über die Geschichte hinaus, musste man auch auf die geographischen Dynamiken der Herrschaft schauen. Nur so konnte man die Verbindung zwischen den in der Landwirtschaft angewendeten Biotechnologien und der auf die Menschenwesen angewendeten Gentechnik, zwischen der Zwangssterilisierung der armen Frauen in Porto Rico, Brasilien oder in Afrika und der medizinisch betreuten Fortpflanzung für die Frauen in den Ländern mit fortgeschrittenem Kapitalismus, zwischen dem Imperialismus der Bomben und dem Imperialismus der Impfstoffe begreifen. Die Überzeugung, dass diese unmenschlichen Programme sehr real waren, hing nicht bloss von der gesammelten Dokumentation ab, sondern auch von der Tatsache, dass die Mengeles und das Programm Aktion T4 als wissenschaftlich-staatliche Beispiele noch frisch in Erinnerung waren. Der Angriff und die Sabotage gegen eine Gentechnik, die nunmehr im Namen des demokratischen Wohlstandes und der Gesundheit der Bevölkerungen voranschritt, war ein konkreter Widerstand gegen die neuen sich in Vorbereitung befindenden Schrecken und gleichzeitig eine ethische Positionierung gegen die Befehle, die schon ausgeführt wurden: bzw. ein Akt des Bruches mit den Grossvätern und Grossmüttern, den Väter und den Müttern, die kollaboriert oder alles stillschweigend zugelassen hatten. Die Botschaft dieser Spreng- und Brandsätze war auch: Nie Wieder. Wieso scheint uns, heute, die Dokumentierung zur Tatsache, dass die Chefs der wichtigsten Informatikmultis bekennende und aktive Transhumanisten sind, nicht viel mehr als ein Stichwort im Eintrag Profit zu sein? Wieso scheint uns die Nachricht, dass der Chefentwickler des Impfstoffes von Oxford-AstraZeneca ein bekannter Eugeniker und Förderer der Sterilisierung der Frauen Afrikas ist, dubios oder übertrieben zu sein? Sicherlich weil uns die Infoflut, die im Netz zirkuliert, nicht nur passiver sondern auch misstrauischer gemacht hat. Aber vor allem wegen dem relativen Komfort, in dem wir grossgezogen wurden, als Betäubungsmittel gegen jegliches geschichtliche Bewusstsein. Wegen ihrer direkten Erfahrung weniger narkotisiert, hier die extremen Worte, die 1980 zwei nicht besonders extremistische Historiker zu schreiben gewagt haben: «Innerhalb gewisser Grenzen, die durch Abschätzungen politischen oder militärischen Charakters gezogen werden, kann der moderne Staat mit jenen, die seiner Kontrolle unterstellt sind, alles tun, was er will. Es gibt keine ethisch-moralische Grenze, die der Staat, wenn er es tun will, nicht überschreiten darf, weil über dem Staat keinerlei ethisch-moralische Macht existiert. Auf der ethischen und moralischen Ebene entspricht die Lage des Individuums im modernen Staat, prinzipiell, in etwa jener der in Auschwitz Internierten» (George M. Krent, Leon Rappoport, The Holocaust and the Crisis of Human Behavior).

XVI. Loslassen

«Die Medizin bildet einen der eindeutigsten Angriffsmomente auf den menschlichen Körper. Das Kapital äussert sich durch seine Doktoren und Wissenschafter, Armee an der echten Endlösungsfront im Krieg, den das Kapital gegen das Lebewesen führt. Eine Krankheit, die wirklich terminal ist. Noch einmal, und wir werden nicht aufhören es zu flüstern und zu rufen, stehen wir vor einem entweder oder: entweder mit dem Menschen, oder mit dem Kapital. Entweder mit dem Menschen, oder mit der Medizin». So schrieben vor dreissig Jahren in Verfluchte und mörderische Medizin Simone Peruzzi und mein Freund Riccardo d’Este. Kriegsmedizin ist nicht nur eine kriegerische Metapher, womit man die soziale Militarisierung und die Ernennung eines NATO-Generals als Sonderkommissär für den Notstand gerechtfertigt hat, sondern auch die Beschreibung einer effektiven Realität. Die Metaphern für die Darstellung der Körper und der Krankheiten sind seit jeher ein wichtiger sozialer Indikator. Sie sagen uns nicht, was den lebendigen Körpern konkret geschieht, informieren uns aber bestens über die Veränderungen der Produktionsweisen und der wissenschaftlichen Paradigmen. Im Rahmen einiger Konstanten – die Viruskrankheit als Feind, die Körper als Trutzburgen unter Belagerung, das Immunsystem als polizeiliches Kontroll- und Repressionsorgan – innerhalb einer Kosmovision, die das Menschenwesen von der Natur trennt, den Mann von der Frau, den Erwachsenen vom Kind, den Körper vom Geist, gehen die herrschenden Darstellungen mit der Zeit und schichten sich auf. Die Vorstellung des Körpers als Maschine und seiner Organen als Ventile, Kolben, Pumpen usw. kennzeichnet das Aufkommen des industriellen Kapitalismus. Die Idee, dass die Organe Ersatzteile sind, begleitet sowohl den Fordismus als auch die Geburt der Transplantationswissenschaft. Zu was wird der Körper in der digitalen Gesellschaft, wenn nicht zum Informationsfluss? Das fordistische Paradigma geht im informatischen nicht unter: es radikalisiert sich. Entnehmbar, auswechsel- und neu zusammensetzbar sind heute die Gewebe, die Flüssigkeiten, die Moleküle, die Gene, die Zellen. Und da die gesamte Wirklichkeit ein Informationsfluss ist, kann das Lebendige nicht bloss neu zusammengesetzt (Biotechnologien), sondern auch durch Brücken (Nanotechnologie) miteinander verbunden (digitale Therapien) werden. Das Ziel – das schon 2004 durch die medizintechnische Sensorik vom Projekt Ubimon des Imperial College von London verfolgt wird – ist schnell gesagt: «die universale Überwachung für den sanitären Beistand in der Gemeinschaft». Maschinen-Körper in einer Maschinen-Gesellschaft. Oder, falls man organischere Metaphern vorzieht: periodisch zu impfende Hühner damit sie in einer Aufzucht-Welt überleben und produzieren können.

Hier das anti-programmatischste aller Programme: anstatt das x-te Grosse Werk zu vollbringen (politisch, wirtschaftlich, technologisch, medizinisch), loslassen. Uns selbst, unsere Artgenossen, die Tiere, die Pflanzen, die Erde. Die Ziele der Macht sabotieren um nicht unter ihren Mitteln zu zerbrechen. Die Zerstörung des Menschlichen zerstören, indem ihre Avantgarden aufgehalten und ihre Diener entlarvt werden.

Planet Erde, Anfangs Juni 2021

Anmerkung

Jenseits der im Text genannten Bezüge, stammen die Ansätze und Zitate für die Niederschreibung dieser These aus den folgenden Büchern:

  • Nikolas Rose, La politica della vita. Biomedicina, potere e soggettività nel XXI secolo, Einaudi, Torino, 2008 (Die Politik des Lebens. Biomedizin, Macht und Subjektivität im XXI Jahrhundert)

  • Pièces et main d’œuvre, Manifeste des chimpanzés du futur. Contre le transhumanisme, Service compris, Paris, 2017 (Manifest des Schimpansen der Zukunft. Gegen den Transhumanismus, Bedienung miteinbegriffen)

  • Adam Greenfield, Tecnologie radicali. Il progetto della vita quotidiana, Einaudi, Torino, 2017 (Radikale Technologien. Das Projekt des täglichen Lebens)