Links.

Das Selbst „hat kein Wesen, sondern ist eine Abfolge von Werden, ein weiterführendes Projekt der Selbstgestaltung ohne klares Ende oder Ziel („telos“). Aus dieser Perspektive sollte Autonomie nicht als Status gesehen werden, den jemand erreicht, sondern vielmehr als Reihe agonistischer [= „kämpferischer“] Praktiken, hervorgebracht im Kontext von Zwängen und Begrenzungen, sowohl äußeren, als auch inneren“: Ungehorsam bedeutet demnach heute nicht nur bestimmte Gesetze zu übertreten sondern verlangt andere Lebensformen und Selbstwahrnehmungen.
Saul Newman

 

Graswurzelrevolution (Zeitschrift und Verlag)
http://www.graswurzel.net/

 

Direkte Aktion - anarchosyndikalistische Zeitung

 

Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen
https://fda-ifa.org/


 

FAU (Frei Arbeiter:innen Union – Anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderation)
https://fau.org/
die verschiedenen Ortsgruppen haben meist einen eigenen Webauftritt

 

Alles Verändern, ein anarchistischer aufruf / …

https://www.crimethinc.com/tce/deutsch

 

War Resisters' International

 

Postanarchismus

www.postanarchismus.net/

No Power For No One! Postanarchismus setzt sich mit poststrukturalistischen und postmodernen Theorien aus anarchistischer Perspektive auseinander.

 

espero

 

www.projektwerkstatt.de - die Enzyklopädie politischer Theorie...

Herzlich willkommen auf der wilden www.projektwerkstatt.de, einer schier unendlichen Quelle von Aktionstipps und -berichten, politischen Analysen und Debatten.

 


STERNECK.NET - Kultur und Veränderung - Culture and ...

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STERNECK.NET Cybertribe-Archiv Utopia

Anarchistische Bibliothek

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Paradox-A - Anarchistische Theorie & Perspektiven


medico international - Gesundheit, Soziales, Menschenrechte

https://www.medico.de
Eine andere Welt braucht eine andere Hilfe. medico international kämpft gemeinsam mit Partnern für gesellschaftliche Veränderung.

Elf Jahre Rojava - Revolution der Hoffnung

linksnet.de

 

Gai Dao

 

 

Untergrund-Blättle | Online Magazin

 
www.untergrund-blättle.ch

Artikel, Reportagen und Analysen aus dem politischen und kulturellen Untergrund. Rezensionen, Essays und linke ...

Gai Dao

 

Sind Sie Anarchist? Die Antwort könnte Sie überraschen!

Die Chancen stehen gut, dass Sie schon einmal etwas davon gehört haben, was Anarchisten sind und was sie angeblich glauben. Die Chancen stehen gut, dass fast alles, was Sie gehört haben, Blödsinn ist.

Viele Leute scheinen zu denken, dass Anarchisten Befürworter von Gewalt, Chaos und Zerstörung sind, dass sie gegen jede Form von Ordnung und Organisation sind, oder dass sie verrückte Nihilisten sind, die einfach alles in die Luft sprengen wollen. In Wirklichkeit könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Anarchisten sind einfach Leute, die glauben, dass Menschen in der Lage sind, sich vernünftig zu verhalten, ohne dass man sie dazu zwingen muss. Das ist wirklich ein sehr einfacher Gedanke. Aber es ist einer, den die Reichen und Mächtigen immer als extrem gefährlich empfunden haben.

In ihrer einfachsten Form beruhen die anarchistischen Überzeugungen auf zwei elementaren Annahmen. Die erste ist, dass Menschen unter normalen Umständen so vernünftig und anständig sind, wie es ihnen erlaubt ist, und dass sie sich selbst und ihre Gemeinschaften organisieren können, ohne dass ihnen gesagt werden muss, wie. Die zweite ist, dass MACHT KORRUMPIERT. Aber vor allem geht es beim Anarchismus darum, den Mut zu haben, die einfachen Prinzipien des allgemeinen Anstands, nach denen wir alle leben, zu nehmen und sie bis zu ihren logischen Schlussfolgerungen zu verfolgen. So seltsam das auch erscheinen mag, in den meisten wichtigen Punkten sind Sie wahrscheinlich schon ein Anarchist – Sie sind sich dessen nur nicht bewusst.

Beginnen wir mit ein paar Beispielen aus dem täglichen Leben.

Wenn Sie in einer Schlange stehen, um in einen überfüllten Bus einzusteigen, warten Sie dann, bis Sie an der Reihe sind, und versuchen nicht, sich an anderen vorbei zu drängeln, auch wenn keine Polizisten in der Nähe sind?

Wenn Sie mit “Ja” geantwortet haben, dann sind Sie es gewohnt, wie ein Anarchist zu handeln! Das grundlegendste anarchistische Prinzip ist die Selbstorganisation: die Annahme, dass Menschen nicht mit Strafverfolgung bedroht werden müssen, um zu sinnvollen Übereinkünften miteinander zu kommen oder sich mit Würde und Respekt begegnen zu können.

Jeder glaubt, dass er selbst in der Lage ist, sich vernünftig zu verhalten. Wenn sie denken, dass Gesetze und Polizei notwendig sind, dann nur, weil sie nicht glauben, dass die anderen Menschen es auch können. Aber wenn Sie darüber nachdenken, haben diese Leute Ihnen gegenüber nicht alle genau das gleiche Gefühl?

Anarchisten argumentieren, dass fast das gesamte anti-soziale Verhalten, das uns denken lässt, dass es notwendig ist, Armeen, Polizei, Gefängnisse und Regierungen zu haben, um unser Leben zu kontrollieren, tatsächlich durch die systematischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verursacht wird, die diese Armeen, Polizei, Gefängnisse und Regierungen ermöglichen.

Es ist ein wahrer Teufelskreis. Wenn die Menschen daran gewöhnt sind, so behandelt zu werden, als ob ihre Meinungen keine Rolle spielen, werden sie wahrscheinlich wütend und zynisch, sogar gewalttätig – was es natürlich den Machthabern leicht macht, zu sagen, dass ihre Ansichten keine Rolle spielen.

Sobald sie verstehen, dass ihre Meinung genauso wichtig ist wie die eines jeden anderen, neigen sie dazu, bemerkenswert verständnisvoll zu werden. Um es kurz zu machen: Anarchisten glauben, dass es größtenteils die Macht selbst und die Auswirkungen der Macht sind, die Menschen dumm und unverantwortlich werden lassen.

Sind Sie Mitglied eines Vereins, einer Sportmannschaft oder einer anderen freiwilligen Organisation, in der Entscheidungen nicht von einer Führungsperson diktiert werden, sondern auf der Basis einer allgemeinen Zustimmung erfolgen?

Falls Sie mit “Ja” geantwortet haben, dann gehören Sie zu einer Organisation, die nach anarchistischen Prinzipien arbeitet! Ein weiteres grundlegendes anarchistisches Prinzip ist die freiwillige Assoziation. Dies ist einfach eine Frage der Anwendung demokratischer Prinzipien auf das gewöhnliche Leben. Der einzige Unterschied ist, dass Anarchisten glauben, dass es möglich sein sollte, eine Gesellschaft zu haben, in der alles nach diesen Prinzipien organisiert werden könnte, wobei alle Gruppen auf der freien Zustimmung ihrer Mitglieder basieren, und dass daher alle von oben nach unten gerichteten militärischen Organisationsstile wie Armeen oder Bürokratien oder große Unternehmen, die auf Befehlsketten basieren, nicht mehr notwendig wären.

Vielleicht glauben Sie nicht, dass das möglich wäre. Vielleicht tun Sie es aber doch. Jedes Mal aber, wenn Sie eine Vereinbarung durch Konsens statt durch Drohungen erreichen, jedes Mal, wenn Sie eine freiwillige Vereinbarung mit einer anderen Person treffen, zu einer Übereinkunft kommen oder einen Kompromiss erreichen, indem Sie die besondere Situation oder die Bedürfnisse der anderen Person angemessen berücksichtigen, sind Sie ein Anarchist – auch wenn Sie sich dessen nicht bewusst sind.

Anarchismus ist einfach die Art und Weise, wie Menschen handeln, wenn sie frei sind, das zu tun, was sie wollen, und wenn sie mit anderen umgehen, die ebenso frei sind – und sich daher der Verantwortung gegenüber anderen bewusst sind, die das mit sich bringt. Dies führt zu einem weiteren entscheidenden Punkt: dass Menschen zwar vernünftig und rücksichtsvoll sein können, wenn sie es mit Gleichgestellten zu tun haben, dass man ihnen aber von Natur aus nicht vertrauen kann, wenn man ihnen Macht über andere gibt. Gibt man jemandem eine solche Macht, wird er sie fast ausnahmslos auf die eine oder andere Weise missbrauchen.

Glauben Sie, dass die meisten Politiker selbstsüchtige, egoistische Drecksäcke sind, die sich nicht wirklich um das öffentliche Interesse kümmern? Glauben Sie, dass wir in einem Wirtschaftssystem leben, das stupide und ungerecht ist?

Wenn Sie mit “Ja” geantwortet haben, dann stimmen Sie der anarchistischen Kritik an der heutigen Gesellschaft zu – zumindest in ihren Grundzügen. Anarchisten glauben, dass Macht korrumpiert und dass diejenigen, die ihr ganzes Leben damit verbringen, nach Macht zu streben, die letzten Menschen sind, die sie haben sollten.

Anarchisten glauben, dass unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem die Menschen lieber für egoistisches und skrupelloses Verhalten belohnt als dafür, dass sie anständige, fürsorgliche Menschen sind. Die meisten Menschen empfinden das so. Der einzige Unterschied ist, dass die Mehrheit der Menschen nicht glaubt, dass man irgendetwas dagegen tun kann oder jedenfalls – und das ist es, worauf die treuen Diener der Mächtigen immer am ehesten bestehen – irgendetwas, das die Dinge am Ende nicht noch schlimmer macht.

Aber was ist, wenn das nicht der Fall wäre?

Und besteht wirklich ein Grund, dies zu glauben? Wenn man sie tatsächlich testen kann, entpuppen sich die meisten der üblichen Vorhersagen darüber, was ohne Staaten oder Kapitalismus passieren würde, als völlig unwahr. Seit Tausenden von Jahren leben die Menschen ohne staatliche Strukturen. In vielen Teilen der Welt leben Menschen heute außerhalb der Kontrolle von Regierungen. Sie bringen sich aber nicht alle gegenseitig um. Meistens gehen sie einfach ihrem Leben nach, so wie es jeder andere auch tun würde.

Natürlich wäre all dies in einer komplexen, urbanen, technologischen Gesellschaft komplizierter: aber die Technologie kann all diese Probleme auch viel einfacher lösen. Tatsächlich haben wir noch nicht einmal angefangen, darüber nachzudenken, wie unser Leben aussehen könnte, wenn die Technologie wirklich auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmt wäre.

Wie viele Stunden müssten wir wirklich arbeiten, um eine funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten – das heißt, wenn wir all die nutzlosen und zerstörerischen Berufe wie Telefonverkäufer, Anwälte, Gefängniswärter, Finanzanalysten, PR-Experten, Bürokraten und Politiker loswerden und unsere besten wissenschaftlichen Köpfe von der Arbeit an Weltraumwaffen oder Börsensystemen abziehen und gefährliche oder lästige Aufgaben wie Kohleabbau oder das Putzen des Badezimmers mechanisieren und die verbleibende Arbeit unter allen gleichmäßig verteilen würden?

Fünf Stunden am Tag? Vier? Drei? Zwei? Niemand weiß es, weil niemand diese Art von Frage überhaupt stellt. Anarchisten denken, dass dies genau die Fragen sind, die wir stellen sollten.

Glauben Sie wirklich die Dinge, die Sie Ihren Kindern erzählen (oder die Ihre Eltern Ihnen erzählt haben)?

“Es spielt keine Rolle, wer angefangen hat.” “Zweimal falsch ergibt nicht einmal richtig.” “Räumt euren eigenen Dreck weg.” “Was du nicht willst das man dir tut …” “Sei nicht gemein zu anderen, nur weil sie anders sind.” Vielleicht sollten wir uns überlegen, ob wir unsere Kinder anlügen, wenn wir ihnen von RECHT und UNRECHT erzählen, oder ob wir bereit sind, unsere eigenen Anordnungen ernst zu nehmen. Denn wenn man diese moralischen Prinzipien zu ihren logischen Schlussfolgerungen bringt, kommt man zum Anarchismus.

Nehmen Sie das Prinzip, dass zweimaliges Unrecht kein Recht ergibt. Wenn man es wirklich ernst nehmen würde, würde das allein schon fast die gesamte Grundlage für Krieg und Strafjustiz wegreißen. Dasselbe gilt für das Teilen: Wir sagen den Kindern immer, dass sie lernen müssen zu teilen, auf die Bedürfnisse der anderen Rücksicht zu nehmen, sich gegenseitig zu helfen; dann gehen wir in die reale Welt, wo wir davon ausgehen, dass jeder von Natur aus egoistisch und konkurrenzorientiert ist. Aber ein Anarchist würde darauf hinweisen: Im Grunde ist es richtig, was wir unseren Kindern sagen.

So ziemlich jede große, lohnenswerte Errungenschaft in der Geschichte der Menschheit, jede Entdeckung oder Errungenschaft, die unser Leben verbessert hat, basierte auf KOOPERATION und gegenseitiger Hilfe; selbst jetzt geben die meisten von uns mehr von ihrem Geld für ihre Freunde und Familien aus als für sich selbst; obwohl es wahrscheinlich immer wettbewerbsorientierte Menschen auf der Welt geben wird, gibt es keinen Grund, warum die Gesellschaft auf der Ermutigung zu solchem Verhalten basieren muss, geschweige denn, die Menschen dazu zu bringen, um die grundlegenden Notwendigkeiten des Lebens zu konkurrieren. Das dient nur den Interessen der Leute an der Macht, die wollen, dass wir in Angst voreinander leben. Deshalb fordern Anarchisten eine Gesellschaft, die nicht nur auf freier Assoziation, sondern auf gegenseitiger Hilfe basiert.

Tatsache ist, dass die meisten Kinder mit dem tiefen Glauben an eine anarchistische Moral aufwachsen und dann allmählich erkennen müssen, dass die Welt der Erwachsenen nicht wirklich so funktioniert. Deshalb werden so viele rebellisch oder entfremdet, sogar selbstmordgefährdet als Jugendliche, und schließlich resigniert und verbittert als Erwachsene; ihr einziger Trost ist oft die Fähigkeit, eigene Kinder großzuziehen und ihnen vorzugaukeln, dass die Welt gerecht ist. Aber was wäre, wenn wir wirklich damit beginnen würden, eine Welt aufzubauen, die zumindest auf Prinzipien der Gerechtigkeit gegründet ist? Wäre das nicht das größte Geschenk an die eigenen Kinder, das man machen könnte?

Glauben Sie, dass Menschen grundsätzlich korrupt und böse sind, oder dass bestimmte Gruppen von Menschen (Frauen, People of Color, einfache Leute, die nicht reich oder hochgebildet sind) minderwertige Wesen sind, die dazu bestimmt sind, von ihren Vorgesetzten geführt zu werden?

Wenn Sie mit “Ja” geantwortet haben, dann sieht es so aus, als wären Sie doch kein Anarchist. Aber wenn Sie mit “Nein” geantwortet haben, dann stehen die Chancen gut, dass Sie bereits 90 % der anarchistischen Prinzipien unterschreiben und wahrscheinlich Ihr Leben weitgehend in Übereinstimmung mit den Prinzipien gestalten.

Jedes Mal, wenn Sie einen anderen Menschen mit Rücksicht und Respekt behandeln, sind Sie ein Anarchist. Jedes Mal, wenn Sie Ihre Differenzen mit anderen ausräumen, indem Sie zu einem vernünftigen Kompromiss kommen und sich anhören, was jeder zu sagen hat, anstatt eine Person für alle anderen entscheiden zu lassen, sind Sie ein Anarchist. Jedes Mal, wenn Sie die Möglichkeit haben, jemanden zu zwingen, etwas zu tun, aber sich stattdessen entscheiden, an seinen Sinn für Vernunft oder Gerechtigkeit zu appellieren, sind Sie ein Anarchist. Das Gleiche gilt für jeden Zeitpunkt, an dem Sie etwas mit einem Freund teilen oder entscheiden, wer den Abwasch macht oder überhaupt irgendetwas mit Blick auf Fairness tun.

Nun könnte man einwenden, dass all das ja schön und gut ist, um in kleinen Gruppen miteinander auszukommen, aber eine Stadt oder ein Land zu verwalten, ist eine ganz andere Sache. Und natürlich ist da etwas dran. Selbst wenn man die Gesellschaft dezentralisiert und so viel Macht wie möglich in die Hände kleiner Gemeinschaften legt, wird es immer noch viele Dinge geben, die koordiniert werden müssen, vom Betrieb der Eisenbahn bis zur Entscheidung über die Richtung der medizinischen Forschung.

Aber nur weil etwas kompliziert ist, heißt das nicht, dass es keinen Weg gibt, es demokratisch zu tun. Es würde nur kompliziert sein. Tatsächlich haben Anarchisten alle möglichen verschiedenen IDEEN und VISIONEN  darüber, wie eine komplexe Gesellschaft sich selbst verwalten könnte. Sie zu erklären, würde jedoch den Rahmen eines kleinen einführenden Textes wie diesem bei Weitem sprengen. Es genügt zu sagen, dass erstens eine Menge Leute viel Zeit damit verbracht haben, MODELLE dafür zu entwickeln, wie eine wirklich demokratische, gesunde Gesellschaft funktionieren könnte; und zweitens, und das ist genauso wichtig, behauptet kein Anarchist, einen perfekten Entwurf zu haben. Das Letzte, was wir wollen, ist, der Gesellschaft vorgefertigte Modelle aufzuerlegen.

Die Wahrheit ist, dass wir uns wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte der Probleme vorstellen können, die auftauchen werden, wenn wir versuchen, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen; dennoch sind wir zuversichtlich, dass solche Probleme, weil der menschliche Erfindungsreichtum das ist, was er ist, immer gelöst werden können, solange es im Geiste unserer Grundprinzipien geschieht – die in letzter Instanz einfach die Prinzipien des grundlegenden menschlichen Anstands sind.


Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von DAVID GRAEBER erschien 2006 im Original unter dem Titel “Are You An Anarchist? The Answer May Surprise You!” auf der Webseite nymaa.org, einem Projekt, das von der Arbeitsgruppe “Technologie” der New York Metro Alliance of Anarchists entwickelt wurde. Das Essay wurde von The Anarchist Library archiviert, von Neue Debatte übernommen und übersetzt. Eine gekürzte deutsche Übersetzung ist im Archiv der Anarchistischen Bibliothek verfügbar.

Revolution ist mehr als ein Wort: 23 Thesen zum Anarchismus

Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat der Anarchismus einen starken Aufschwung erlebt. In einem breit rezipierten Artikel, den David Graeber und Andrej Grubačić im Jahr 2004 schrieben, wurde er gar als „die revolutionäre Bewegung des 21. Jahrhunderts“ präsentiert; und in einem 2016 erschienenen und auf zahlreichen Interviews basierenden Buch zu Occupy Wall Street (Translating Anarchy) meint der Autor Mark Bray, dass anarchistische Ideen die wichtigste ideologische Grundlage der Bewegung gewesen seien. Anarchistische Projekte (Zeitschriften, Buchmessen, Bezugsgruppen) haben sich in den letzten zwanzig Jahren enorm vermehrt. All das sind gute Neuigkeiten.

 

Gleichzeitig dehnt der Neoliberalismus seine Herrschaft beinahe ungehindert aus, die Gräben zwischen Reich und Arm vertiefen sich täglich, es werden Kriege geführt, die Überwachungsapparate haben Orwellsche Niveaus überschritten und nichts scheint fähig, die ökologische Zerstörung der Welt, wie wir sie kennen, aufzuhalten. Wenn die gegenwärtige Ordnung in irgendeinem ernstzunehmenden Maße herausgefordert wird, dann von religiösen Fundamentalistinnen, Neofaschistinnen oder, im besten Fall, von linken Bewegungen, die sich um charismatische Anführer und populistische Parteien scharen. Selbst wenn gerne auf anarchistische Aspekte in Massenprotesten verwiesen wird – von Kairos Tahrir-Platz bis zu den Straßen von Ferguson, Missouri –, ist es fragwürdig, ob selbst-identifizierte Anarchist*innen dort eine bedeutende Rolle spielten. Kurz, trotz des erwähnten Aufschwungs des Anarchismus scheint die Bewegung auf der großen politischen Bühne so marginalisiert zu sein wie eh und je. Angesichts dessen soll hier der Versuch unternommen werden, über die gegenwärtige Rolle des Anarchismus bzw. seine Stärken und Schwächen zu reflektieren.

 

Der Text wurde kurz und prägnant gehalten, was Verallgemeinerungen unausweichlich macht. Er basiert auf Erfahrungen in West- und Mitteleuropa. Die Leser*innen mögen entscheiden, wie sehr diese mit ihren eigenen übereinstimmen bzw. wie relevant sie für die Szenen sind, in denen sie sich bewegen.

 

Was ist Anarchismus?

 

In postmodernen Zeiten haben Definitionen oft einen schlechten Ruf, da sie unsere Gedanken angeblich in Käfige sperren. Das ist falsch. Es ist offensichtlich, dass Definitionen nur Werkzeuge der Kommunikation sind und keinen Anspruch darauf erheben können, das Wesen bestimmter Phänomene einzufangen. Eine nützliche Definition muss bestimmte Kriterien berücksichtigen: den Ursprung des Begriffs und etymologische Aspekte, seinen Gebrauch und Bedeutungswandel sowie die terminologische Kohärenz des jeweiligen Sprachsystems. Die folgende Arbeitsdefinition des Anarchismus ist in diesem Sinne zu verstehen.

 

Der Anarchismus ist zunächst der Versuch, eine egalitäre Gesellschaft zu etablieren, die die freie Entwicklung ihrer Mitglieder ermöglicht. Der Egalitarismus ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass diese Möglichkeit Allen zukommt und nicht nur ein paar Auserwählten. Die freie Entwicklung wird eingeschränkt von der freien Entwicklung anderer. Deutliche Grenzen lassen sich hier nicht ziehen (wo endet die Freiheit der einen und wo beginnt die der anderen?), doch können sie verhandelt werden.

 

Soweit unterscheidet sich die angebotene Definition des Anarchismus kaum vom marxistischen Ideal des Kommunismus. Der Unterschied liegt in ihrem zweiten Teil, nämlich dem Glauben, dass die Verwirklichung einer egalitären Gesellschaft, die die freie Entwicklung der Einzelnen ermöglicht, davon abhängt, dass politische Akteur*innen die wesentlichen Werte einer solchen Gesellschaft unmittelbar in die Tat umsetzen: in der Gestaltung ihres Alltagslebens, ihrer Organisationsformen und ihres politischen Kampfes. Dies wird heute oft als „präfigurative“ Politik bezeichnet und impliziert, dass keine Diktatur des Proletariats und keine wohlwollenden Avantgarden den Weg zu einer befreiten Gesellschaft ebnen können, sondern nur die Menschen selbst. Die Menschen selbst müssen auch die Strukturen entwickeln, die notwendig sind, um eine solche Gesellschaft erhalten und verteidigen zu können. Selbstverwaltung, gegenseitige Hilfe, horizontale Organisation und der Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung sind Kernprinzipien des Anarchismus.

 

Der Ursprung des Anarchismus als selbst-definierte politische Bewegung findet sich in der sozialen Frage des europäischen 19. Jahrhunderts. In der Internationalen Arbeiterassoziation (besser bekannt als die Erste Internationale) waren Anarchist*innen gemeinsam mit jenen politischen Kräften organisiert, die sich später zur Sozialdemokratie bzw. zum Leninismus entwickelten. 1 Wir halten diesen Ursprung für wichtig und sehen den Anarchismus als Teil der linken Tradition. Wir verwehren uns dagegen, ihn als „Philosophie“, „Ethik“, „Prinzip“ oder „Lebenshaltung“ zu begreifen, anstatt als politische Bewegung. Eine existenzielle Einstellung ist eine Sache; sich für politische Veränderung einzusetzen eine andere. Fehlt Letzteres wird der Anarchismus leicht zu einer edlen oder schicken Idee, die mehr mit Religion oder Hipstertum zu tun hat als mit politischen Ambitionen. Gleichzeitig ist der Anarchismus mehr als antiautoritärer Klassenkampf. Er schließt Aktivitäten mit ein, die vom Aufbauen Sozialer Zentren über das Abbauen von Geschlechternormen bis hin zum Entwerfen alternativer Verkehrskonzepte reichen. Die präfigurative Dimension des Anarchismus beinhaltete immer Themen, die nicht in enge Definitionen der Linken passen: Ernährung, Sexualität, Spiritualität und Fragen persönlicher Ethik im Allgemeinen.

 

Der Anarchismus und die Linke: Sozialdemokratie und Leninismus

 

Wird der Anarchismus als historischer Teil der Linken betrachtet, ist das Verhältnis zur Sozialdemokratie bzw. zum Leninismus zu klären. Dabei gilt es zunächst zu bedenken, dass das Ziel einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft ursprünglich allen Strömungen gemeinsam war.

 

Bei einer Kategorisierung der drei Strömungen ist – vor allem im englischsprachigen Raum – oft von links (Sozialdemokratie), linksradikal (Leninismus) und ultralinks (Anarchismus) die Rede. Dies ist irreführend. Wir sollten eher an ein Dreieck denken, in dem jede Strömung gleich weit von der anderen entfernt ist. Während der Anarchismus und der Leninismus eine revolutionäre Orientierung teilen und der Leninismus und die Sozialdemokratie marxistische Wurzeln, lehnen der Anarchismus und die Sozialdemokratie die Diktatur des Proletariats ab. Der Anarchismus steht der Sozialdemokratie genauso nahe wie dem Leninismus usw.

 

Die Hauptkritikpunkte, die von marxistischen Ideologen (sozialdemokratischen wie leninistischen) gegen den Anarchismus angeführt werden, sind: a) der Anarchismus ist naiv, d.h., er hat ein idealisiertes Verständnis menschlicher Natur und sozialer Organisation; b) der Anarchismus ist unberechenbar, d.h., seine politischen Aktionen sind orientierungs- und verantwortungslos, was im schlimmsten Fall die Machtübernahme reaktionärer Kräfte ermöglicht; c) der Anarchismus ist kleinbürgerlich, d.h., er ist so auf individuelle Freiheit konzentriert, dass er das Prinzip sozialer Gerechtigkeit vernachlässigt.

 

Einiges an dieser Kritik ist zulässig, aber sie trifft nur bestimmte Tendenzen des Anarchismus. Im Allgemeinen war das anarchistische Verständnis der menschlichen Natur tatsächlich um vieles nuancierter als das anderer linker Strömungen (z.B. was die Psychologie der Macht betrifft). Wenn es um politische Aktionen geht, mögen Anarchist*innen manchmal orientierungs- und verantwortungslos handeln, doch die meisten ihrer Aktionen sind gut durchdacht und ausgearbeitet. Und während es individualistische Einschläge gibt, haben sie nie die Bewegung als ganze charakterisiert. Wichtiger für uns ist vielleicht, dass der Anarchismus – unabhängig von seinen tatsächlichen oder angeblichen Schwächen – den marxistischen Strömungen gegenüber einige Vorteile besitzt:

 

• Der Anarchismus hat eine stärkere Kritik der Autorität formuliert. Was auch immer man über die angebliche Einfältigkeit anarchistischer Theorie sagen will, Michail Bakunin hat 1871 in Gott und der Staat das Schicksal der späteren Sowjetunion auf zwei Seiten zusammengefasst. Er sah voraus, dass die Machtübernahme einer revolutionären Partei zu einer neuen herrschenden Klasse führen würde, die die Befreiung der Massen verhindert und ihren eigenen Untergang vorbereitet. Heute sprechen prominente Marxistinnen wie John Holloway, Slavoj Žižek oder Alain Badiou von der Notwendigkeit eines Kommunismus ohne Staat und Partei, so als wäre das eine neue Erfindung. Anarchistinnen haben das immer schon gesagt.

 

• Anarchistinnen haben stärkeres Augenmerk auf die kulturellen Aspekte der Machtausübung gelegt. Der Marxismus konzentrierte sich letzten Endes auf die ökonomischen Verhältnisse bzw. die ökonomische Basis, die den kulturellen Überbau determiniert. Trotz verbaler Zugeständnisse an die „Dynamik“ und „Dialektik“ dieser Beziehung, ließen Marxistinnen kulturellen Kämpfen selten die Aufmerksamkeit zukommen, die diese von Anarchist*innen erhielten.

 

• Nicht nur die kulturellen Aspekte der Herrschaft wurden von Anarchistinnen stets betont, sondern auch die Komplexität der Herrschaft. Nur wenige Tendenzen des Anarchismus haben die marxistische Neigung geteilt, vermeintlich nicht-proletarische Kämpfe zu Nebenschauplätzen zu degradieren. Anarchistinnen formulierten etwa eine deutlichere Kritik des Patriarchats und des Nationalismus. In einer Zeit, in der Begriffe wie „multiple oppression“ oder „Intersektionalität“ hoch im Kurs stehen, kann der Anarchismus hier guten Gewissens eine Vorreiterrolle in Anspruch nehmen.

 

• Während die meisten klassischen Anarchist*innen – wie ihre marxistischen Gegenspieler – von der Notwendigkeit wissenschaftlichen Fortschritts in der Errichtung einer befreiten Gesellschaft überzeugt waren, wird der Anarchismus weder von einem deterministischen Geschichtsverständnis noch von eurozentrischem Rationalismus geprägt. Er warnte früh vor quasi-elitären wissenschaftlichen Klassen und begrüßte Utopien, anstatt sie als dumme Hirngespinste abzutun. Angesichts eines heute stark angeschlagenen historischen Materialismus sammelt der Anarchismus auch hier Pluspunkte.

 

• Zumindest einige prominente Anarchist*innen, unter ihnen Leo Tolstoi oder Gustav Landauer, betonten die Notwendigkeit einer „spirituellen Revolution“ – nicht als esoterischen Schabernack, sondern um darauf hinzuweisen, dass sich die Welt nicht verändern wird, wenn sich die Menschen nicht verändern. Eine spirituelle Dimension macht linke Politik reicher, nicht ärmer.

 

• Die anarchistische Skepsis dem historischen Materialismus gegenüber hat Anarchistinnen von marxistischer Seite oft den Vorwurf des „Voluntarismus“ eingebracht, d.h., Anarchistinnen wurden angeklagt, revolutionäre Prozesse vom Willen der Menschen (voluntas) abhängig zu machen. Marxistinnen bestanden darauf, dass das individuelle Be- wusstsein und damit das Vermögen zu politischer Aktion von den ökonomischen Realitäten bestimmt wird. Es sind die Anarchistinnen, die recht haben. Es kommt zu sozialer Veränderung, wenn Menschen soziale Veränderung wollen.

 

• In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Vertrauen in die Wunder der Technologie in der Arbeit einiger Anarchistinnen (zum Beispiel jener Murray Bookchins, Paul Feyerabends oder der sogenannten – und mit vielerlei Problemen behafteten – Anarcho-Primitivistinnen) in einer Weise in Frage gestellt, wie wir sie bei marxistischen Theoretikerinnen nicht finden. In Zeiten, in denen die brisante Rolle der Technologie in den sozialen und ökologischen Krisen, die wir erleben, immer offensichtlicher wird, ist Anarchistinnen dies positiv anzurechnen.

 

• Die Anarchistin ist die permanente Kritikerin. Aufgrund ihrer starken Skepsis sowohl totalitären Ideologien als auch Persönlichkeitskulten gegenüber sind Anarchist*innen seit jeher geschwind, wenn es um die Entblößung von Ungereimtheiten in politischen Bewegungen geht. Auch wenn dies problematische Dimensionen hat – vom schlichten Lästig-Sein bis hin zum Verhindern kollektiver Organisierung –, ist es ein ungemein wertvoller Mechanismus, um Machtverhältnisse vor Erstarrung und Dogmatismus zu bewahren.

 

• Die „präfigurative“ Politik des Anarchismus verleiht ihm eine stark praktische Dimension, die Änderungen in unserem Alltagsleben in einer Weise motiviert, die andere politische Ideologien kaum erreichen.

 

• Der Fokus des Anarchismus auf Vielfältigkeit bedingt auch vielfältige politische Ausdrucksformen. Was Kreativität und Innovation betrifft, zeigt sich der Anarchismus um einiges cleverer als die marxistische Linke.

 

Anarchismus und Revolution

 

Die größte Schwäche des Anarchismus ist das Fehlen eines überzeugenden Revolutionskonzepts, wenn wir Revolution als radikale Umverteilung von Macht und Reichtum verstehen. Angesichts der revolutionären Ansprüche des Anarchismus ist dies bemerkenswert. Sich von „reformistischen“, „liberalen“ oder „gemäßigten“ Kreisen zu distanzieren, ist ein wesentlicher Bestandteil anarchistischer Identität.

 

Keine anarchistische Gesellschaft nennenswerter Größe wurde je außerhalb kriegerischer Umstände etabliert. Keine von ihnen hielt sich länger als ein paar Jahre. Anarchistinnen geben dafür gerne der Ruchlosigkeit kapitalistischer Lakaien und marxistischer Hinterhältigkeit die Schuld. Zwar sind diese Anklagen nicht aus der Luft gegriffen, doch als Erklärung für das bescheidene revolutionäre Fazit des Anarchismus reichen sie nicht aus. Ein wichtiger Faktor ist, dass Anarchistinnen sich – aus guten und ehrenwerten Gründen – weigern, eine Rolle einzunehmen, die die meisten Revolutionen verlangen. Die oft zitierten Worte Friedrich Engels‘ treffen diesen Punkt: „Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt.“ Anarchist*innen haben auf dieses Dilemma keine hinreichenden Antworten. Versuche wurden gemacht, doch sind sie wenig befriedigend. Die wichtigsten lassen sich wie folgt zusammenfassen:

 

a) Das Setzen auf einen „Ausstieg“, der seine stärkste theoretische Fundierung in den Siedlungstheorien Gustav Landauers fand. Landauer gemäß sollte eine anarchistische Gesellschaft mithilfe autonomer ländlicher Gemeinschaften und Kooperativen von der Basis her aufgebaut werden; mit Frontalangriffen ließe sich der Staat nicht beseitigen. Die Idee ist wunderschön, doch radikale Kommunen sind in den letzten 150 Jahren gekommen und gegangen, ohne Staat und Kapital viel Kummer zu bereiten. Sobald sie den Herrschenden lästig werden, werden sie zerstört oder in den kapitalistischen Markt integriert; die Kommerzialisierung „alternativer Kultur“ in den vergangenen Jahrzehnten ist dafür nur ein schlagendes Beispiel.

 

b) Ein „radikaler Reformismus“, dessen Befürworter*innen von einer „Revolution in Schritten“ sprechen oder von einer Revolution als „Prozess“ im Gegensatz zu einer Revolution als „Bruch“. Was sich hinter diesen Formeln verbirgt, ist selten mehr als klassischer Reformismus, aufgepäppelt mit ein bisschen radikaler Rhetorik. Der Ansatz sollte uns hier nicht weiter beschäftigen.

 

c) Eine Begeisterung für den „Aufstand“, die Revolution nicht in struktureller Veränderung, sondern in Momenten unmittelbarer Ermächtigung sieht. An Aufständen ist nichts falsch. Sie offenbaren soziale Widersprüche, kehren Machtverhältnisse um (wenn auch nur temporär), inspirieren und tun vieles mehr. Aber sie ändern selten etwas an den grundlegenden Machtstrukturen, und wenn sie dies tun und zum Schaffen eines Machtvakuums beitragen, kann dieses leicht von reaktionären Kräften ausgenutzt werden, wenn emanzipatorische Gegenstrukturen fehlen. Aufstände sind wichtige Teile von Revolutionen, sie jedoch mit der Revolution gleichzusetzen, bedeutet, aus einem Bully ein ganzes Eishockeyspiel zu machen.

 

d) Das Vertreten eines „Kollapsismus“, der jeden Versuch, die gegenwärtige Ordnung zu verändern, als sinnlos betrachtet, da nur katastrophische Ereignisse deren Ende bringen können und werden. Anarchistischer Aktivismus besteht demnach darin, sich auf die Katastrophe vorzubereiten, um die kollabierenden Machtstrukturen (die „Zivilisation“) mit kleinen und unabhängigen anarchistischen Gemeinschaften zu ersetzen. Das Hauptproblem dieses Szenarios ist die Abwesenheit eines jeden Mechanismus außer des Rechts des Stärkeren, um die in dieser Zukunftsvision unvermeidlich auftretenden sozialen Konflikte zu bewältigen. Kurz, aus Kollapsismus wird schnell Sozialdarwinismus. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist, bleibt die Annahme eines Kollapses eine fragwürdige Basis für politischen Aktivismus. Schließlich ist es – gelinde gesagt – waghalsig, Änderungen des herrschenden Systems mit dem Verweis auf dessen ohnehin bevorstehenden Zusammenbruch für bedeutungslos zu erklären. Was, wenn das herrschende System nicht zusammenbricht? Defätismus zu einer Tugend zu verklären, hilft uns nicht.

 

Die Tatsache, dass der Anarchismus kein überzeugendes Revolutionskonzept anzubieten hat, diskreditiert ihn nicht. Tatsächlich hat sich der Anarchismus historisch als weit einflussreicher erwiesen, als es selbst viele Anarchistinnen annehmen. Der Anarchismus war immer ein wichtiger Motor sozialer Veränderung. Der Acht-Stunden-Tag, Meinungs- und Pressefreiheit, Antimilitarismus, Abtreibungsrechte, Kritik der Heteronormativität, antiautoritäre Pädagogik, Veganismus und vieles mehr: Irgendwann einmal waren es – gemeinsam mit anderen Außenseiterinnen und komischen Vögeln – vor allem Anarchist*innen, die diese Kämpfe vorantrieben. Doch haben sie sich nicht als revolutionär erwiesen, sondern wurden zum größten Teil in die Entwicklung des kapitalistischen Nationalstaats integriert.

 

Anarchist*innen müssen ehrlich sein. Entweder geben sie zu, Reformismus mit radikalem Touch zu betreiben (daran ist nicht unbedingt etwas falsch, wenn es zugestanden wird), oder sie arbeiten daran, tatsächlich eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln. Radikales Herumprotzen und das Aburteilen „reformistischer“/ „liberaler“/ „gemäßigter“ Politik ist peinlich, wenn die eigene Politik nicht revolutionärer als die von NGOs, Kirchengruppen oder Wohlfahrtsorganisationen ist.

 

Die Demonstration moralischer Überlegenheit überschattet oft die politische Arbeit. Das grundlegende Problem scheint zu sein, dass sich zwei Motivationen oft überlappen, wenn Menschen in anarchistischen Kreisen aktiv werden: Die eine ist es, die Welt verändern zu wollen; die andere, besser als der Durchschnittsmensch zu sein. Letzteres führt leicht zu Selbstmarginalisierung, da jedes Gefühl moralischer Überlegenheit impliziert, einer auserwählten Gruppe anzugehören und nicht der Masse. Wenn dieses Gefühl dominant wird, wird die eigene Identität wichtiger als politische Aktion und das Aufzeigen persönlicher Defizite anderer wichtiger als politische Veränderung.

 

Bedauerlicherweise treffen die härtesten moralischen Anklagen oft Menschen in den eigenen Kreise statt die wirklichen Bösewichte, frei nach der beklagenswerten Logik: „Wenn wir unseren Feindinnen nichts anhaben können, nehmen wir uns unsere Freundinnen vor.“ Das Herabsehen auf Outsider und der gleichzeitige Konkurrenzkampf mit Insidern um moralische Alphapositionen ist eine Kombination, die einer Bewegung mit revolutionärem Anspruch unwürdig ist.

 

Die anarchistische Bewegung ist eine Subkultur. Subkulturen sind großartig. Sie geben Menschen ein Zuhause (eines, das Leben retten kann), sie helfen der Aufbewahrung aktivistischen Wissens, sie erlauben Experimente und vieles mehr. Aber Dissens ist nicht Revolution. Wenn die Politik auf die Subkultur reduziert wird, wird revolutionäre Rhetorik leer und abstrakt. Leute hassen dieses und scheißen auf jenes – aber dann?

 

Der Standardmodus (die Standardstimmung) vieler anarchistischer Kreise reicht von griesgrämig bis rotzig. Manchmal sind die angeblichen Mikrokosmen einer befreiten Welt weniger einladend als so ziemlich jeder andere Ort: dunkel, dreckig und bevölkert von Menschen, die Unfreundlichkeit mit Rebellion verwechseln. Sich wie ein Arsch zu benehmen, macht niemanden zu einer revolutionären Person, nur zu einem Arsch. Penetrantes Gemotze kennzeichnet leider auch interne Debatten. Die Kommentarspalten auf manchen anarchistischen Online-Foren gehören zu den sichersten Mitteln, Menschen auf ewig vom Anarchismus fernzuhalten. Ein emanzipatorischer Umgang mit Meinungsverschiedenheiten ist von Offenheit und Selbstkritik geprägt, nicht von anonymem Gegröle.

 

Trotz des theoretischen Hochhaltens von Individualität und Mannigfaltigkeit sind anarchistische Szenen von einer enormen Konformität geprägt. Jedes durchschnittliche Innenstadtcafé bringt eine größere Vielfalt an Menschen zusammen als die meisten anarchistischen Treffpunkte. Dafür gibt es historische Gründe, aber das Resultat ist schlicht, dass die anarchistische Kultur – Sprache, soziale Codes, Äußeres – ungemein homogen ist. Doch wie anarchistisch sind Milieus, in denen Menschen sich nicht willkommen fühlen aufgrund der Kleidung, die sie tragen, der Nahrung, die sie verzehren, oder der Musik, die sie hören?

 

Es gibt in anarchistischen Kreisen einen wichtigen Unterschied zwischen Aktivistinnen, die gegen Ungerechtigkeit kämpfen, und Aktivistinnen, die unmittelbar von Ungerechtigkeit betroffen sind. Alle müssen zusammenarbeiten, um tatsächlich etwas verändern zu können, aber die unterschiedlichen Motivationen sind in Betracht zu ziehen. Während Menschen, die einem missionarischen Ruf folgen, gerne zu Ideologisierungen neigen, sind von Ungerechtigkeit betroffene Menschen oft pragmatischer. Wird dieser Unterschied negiert, driften Menschen leicht auseinander. Im schlimmsten Fall bleiben nur die Ideologinnen zurück und abstrakte Debatten über persönliche Identität und akzeptable Sprache werden zum Hauptschauplatz einer vermeintlich radikalen Politik, die tatsächlich jede Verbindung zur gesellschaftlichen Basis verloren hat. In diesem Kontext wird radikale Politik zu einer primär intellektuellen Übung, die kaum etwas über die Qualität ihrer Protagonistinnen als engagierte und zuverlässige Genoss*innen aussagt.

 

Die Ideen von freien bzw. sicheren Räumen werden oft durcheinandergebracht. Sichere Räume, d.h., Räume, in denen Menschen auf Unterstützung und Fürsorge zählen können, sind in der Welt, in der wir leben, notwendig. Aber es sind Räume, die einen spezifischen Zweck erfüllen. Es sind nicht die freien Räume, die wir zu verwirklichen versuchen, d.h., Räume, in denen Menschen unterschiedliche Ansichten artikulieren, diskutieren und Differenzen gemeinsam lösen können. Was Menschen auf lange Sicht sicher macht, ist die kollektive Fähigkeit, Grenzen auszuhandeln. Absolute Sicherheit ist unmöglich. Missverständnisse, Irritationen und Sensibilitäten sind Teil des sozialen Lebens und verschwinden selbst in der anarchistischsten aller Gesellschaften nicht.

 

Die Überzeugung, dass allen alles erlaubt sein soll, wird oft mit der Vorstellung verwechselt, dass alle alles können. Das Vermitteln von Wissen und Fähigkeiten durch erfahrene Aktivist*innen ist daher meist verpönt. Dies führt dazu, dass wir immer wieder in die gleichen Fallen tappen und das Rad jedes Mal neu erfinden müssen.

 

Es gibt einen Mangel an Visionen und strategischer Orientierung in der anarchistischen Bewegung. Die organisatorischen Strukturen befinden sich in einer Krise. Unverbindliche Bezugsgruppen, Spontanität und Diversität sind weit verbreitet, doch in vielerlei Hinsicht problematisch. Die einzigen langfristigen Gemeinschaften, die sie zulassen, bestehen aus einer Handvoll von Freund*innen, was eine unzureichende Basis für die Organisierung ist, die breite soziale Veränderung erfordert. Die Hauptantwort auf dieses Problem innerhalb der anarchistischen Bewegung, der Plattformismus, unterschätzt leider die Wichtigkeit individueller Verantwortung, was zu einer Vermischung von Formalität und Effizienz führt (dazu mehr im Schlusskapitel).

 

Was ist zu tun?

 

Die anarchistische Subkultur ist vielerorts gut etabliert. Sie kann sich auf eine solide Infrastruktur stützen und über einen ständigen Fluss an neuen Mitgliedern freuen (auch wenn diese oft nicht lange bleiben). Sie reproduziert sich problemlos selbst, bietet Menschen, die die Kultur des „Mainstreams“, des „Bürgertums“ oder der „Spießer“ ablehnen, ein identitäres Zuhause und hat all die Vorteile, die Subkulturen allgemein haben (siehe oben). Der Anarchismus produziert außerdem einflussreiche Ideen, inspirierende Formen sozialen Zusammenlebens und eine lebendige Protestkultur. All das ergibt ein spannendes politisches Spielfeld und bestätigt die Bedeutung des Anarchismus im Alltagsleben. Wenn uns also der Mangel an revolutionärer Perspektive nicht stört, gibt es nicht viel Grund zur Beunruhigung. Die anarchistische Subkultur ist von den oben genannten Problemen nicht bedroht. Wenn wir aber der Ansicht sind, dass das Aufgeben einer revolutionären Perspektive ein zu großes Opfer ist (und wenn wir anarchistische Genoss*innen mit starken revolutionären Überzeugungen nicht an den orthodoxen Marxismus verlieren wollen), dann müssen wir die Entwicklung einer solchen Perspektive zumindest möglich machen. Hier sind ein paar Vorschläge:

 

  1. Anarchist*innen müssen deutlich vermitteln, was sie wollen, und ehrlich erläutern, wozu sie in der Lage sind.
  2. Der Wille, die Gesellschaft zu verändern, muss wichtiger sein als das Zurschaustellen vermeintlich ultimativer Radikalität.
  3. Anarchist*innen müssen eine Sprache sprechen, die auch Menschen verstehen können, die nicht Teil einer initiierten Szene sind. Sprache verändert sich und problematische Begriffe sind zu hinterfragen, aber anarchistische Diskussionen müssen Menschen engagieren, anstatt sie zu entfremden.
  4. Wir brauchen Visionen. Es mag für viele Anarchistinnen zu einer Mantra geworden sein, dass Visionen rigide Masterpläne sind, die Menschen vorschreiben, was sie tun sollen, aber das ist billig. Anarchistische Visionen skizzieren schlicht, was für eine Gesellschaft sich Anarchistinnen vorstellen. Ohne derartige Skizzen wird sich niemand außerhalb anarchistischer Kreise je dafür interessieren, was Anarchist*innen zu sagen haben. Dauernd „präfigurativ“ zu sein, reicht nicht. Irgendwann ist es Zeit zu figurieren.
  5. Auch strategisches Denken wird oft als erbarmungslose Handlungsvorschrift karikiert. Doch Strategien zu entwickeln, bedeutet einfach, sich Gedanken darüber zu machen, wie das, was wir erreichen wollen, auch erreicht werden kann. Wer das aufgibt, gibt revolutionäre Arbeit auf.
  6. Es gibt keinen Widerspruch zwischen dem Aufbau autonomer Strukturen und Interventionen in der herrschende Ordnung. Dies ist ein Scheinkonflikt, der unnötig und unproduktiv ist. Dasselbe gilt für den angeblichen Konflikt zwischen persönlicher Praxis („Lifestyle“) und kollektiver Organisierung. Das eine stärkt das andere.
  7. Wir brauchen neue Werte. Solange wir all das, was heute produziert wird, haben wollen, werden wir weder das politische noch das ökonomische System auf eine Größe reduzieren können, die ökologisch wie sozial nachhaltig ist.
  8. Technologiekritik muss Teil einer jeden revolutionären Bewegung sein. Technologie macht Menschen von Systemen abhängig, über die sie keine Kontrolle haben und verlangt eine Komplexität an sozialer Organisation, die auf einer Graswurzelebene nicht aufrechtzuerhalten ist. Wir müssen die Kernkraft und andere angebliche technologische Wohltaten, die die Erde und die Menschheit in Geiselhaft nehmen, zurückweisen. Ebenso sind „Rationalismus“, „Wissenschaftlichkeit“ sowie die Idee, dass materieller „Fortschritt“ für eine bessere Welt unabdingbar ist, kritisch zu hinterfragen. Wir müssen uns auf überschaubare Gemeinschaften als die Basis anarchistischer Gesellschaft konzentrieren.
  9. Werden Anarchist*innen gefragt, warum sie sich mehr auf manche Kämpfe konzentrieren als auf andere, hören wir oft, dass „alle Kämpfe wichtig“ seien. Aber das ist keine Antwort auf die Frage. Es geht nicht darum, ob alle Kämpfe wichtig sind (natürlich sind sie das), sondern warum wir manche wichtiger nehmen als andere. Einerseits spielen subjektive Faktoren eine Rolle: Wir konzentrieren uns auf Kämpfe, die uns persönlich am nächsten stehen oder in denen wir uns am kompetentesten fühlen. Aber wenn es um revolutionäre Politik geht, müssen auch jene Kämpfe identifiziert werden, die tatsächlich revolutionäre Perspektive haben. Moralische Dringlichkeit ist dabei nicht zwangsläufig das entscheidende Kriterium. Wenige Kämpfe sind an sich revolutionär; die meisten erhalten ihre revolutionäre Perspektive aus ihrer Verbindung mit revolutionärer Politik.
  10. Die Wertschätzung der Vielfalt ist seit jeher eine Stärke des Anarchismus. Dies darf jedoch nicht dazu führen, kritische Analyse außen vor zu lassen. Jeder Unsinn kann mit einem Verweis auf die „Notwendigkeit der Vielfalt“ gerechtfertigt werden, so als wäre Vielfalt ein Persilschein dafür, immer genau das tun zu können, was man gerade tun will. Doch beispielsweise sind nicht alle Taktiken zu jeder Zeit gleich nützlich, sondern sie müssen unseren Möglichkeiten und der gegebenen Situation gemäß gewählt werden: „Was wollen wir? Mit wem arbeiten wir zusammen? Was ist realistisch möglich? Was sind unsere Mittel?“ Vielfalt ist gut, wenn sie für Offenheit, Flexibilität und Handlungsspielraum steht. Wird sie aber als Wert an sich verherrlicht, kann vermeintlich linksradikale Politik schnell wie neoliberales Shopping aussehen: Du wählst das, wonach dir gerade der Sinn steht.
  11. Offenes Diskutieren ist für ein fruchtbares intellektuelles Milieu und für Befreiungsprozesse unumgänglich. Wenn Genoss*innen Sachen sagen oder tun, die andere provozieren, beleidigen oder kränken, sind sie in einen Diskussionsprozess einzubeziehen und nicht zu unliebsamen Personen zu erklären.
  12. Labels sind ein No-Go für viele Anarchistinnen. „Es ist nicht wichtig, als was du dich bezeichnest, es ist wichtig, was du tust.“ Das macht auf den ersten Blick Sinn. Doch ein Label ist nur ein Wort, Wörter sind Werkzeuge der Kommunikation und in Kommunikationsprozessen sind wir auf Abkürzungen angewiesen.
    Unserer Politik ein Label zu verleihen, vermittelt anderen – Freund
    innen wie Feind*innen – wofür wir stehen. So werden Gemeinschaft und Solidarität geformt. Ohne den „Kommunismus“ hätte es keine „kommunistische Gefahr“ gegeben. Es ist wichtig, dass Menschen, die in sozialen Bewegungen zusammenkommen, gemeinsame Namen tragen.
  13. Wir müssen Organisationen aufbauen, die anarchistisch sind – und dies offen – und gleichzeitig tragende Rollen in breiten sozialen Bewegungen und Organisationen spielen können (Gewerkschaften, Mietervereinigungen, Konsumentengruppen, Sportverbänden usw.). Anarchistische Organisationen müssen Netzwerke zur Diskussion, gemeinsamen Aktion und gegenseitiger Hilfe zur Verfügung stellen. Während dies einen bestimmten Grad an Formalität verlangt, ist Formalität nicht mit Effizienz zu verwechseln. Effizienz beruht auf individuellen Voraussetzungen, das heißt, Verantwortung, Verlässlichkeit und Gewissenhaftigkeit. Deshalb ist der Plattformismus keine Antwort auf die Krise anarchistischer Organisierung. Es bedarf Organisationsformen, die anpassungsfähiger sind.
  14. Die Bedeutung individueller Voraussetzungen darf nicht unterschätzt werden. Wenn wir uns dagegen verwehren, dass hierarchische Strukturen notwendig sind, um gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, müssen wir beweisen, dass diese auch ohne hierarchische Strukturen befriedigt werden können. Die anarchistische Realität ist weit davon entfernt. Viele Anarchist*innen tun Dinge nur, wenn ihnen „danach ist“; viele haben alle möglichen Ansichten, was andere tun sollen, ohne je selbst etwas zu tun; viele sind unzuverlässig und unverantwortlich, lieben es aber, diejenigen, die sie darauf hinweisen, als „autoritär“ abzustempeln; und viele nutzen Treffen lieber für egozentrisches Geplapper als für konstruktive Entscheidungsfindung. Solange solche Neigungen vorherrschen, gibt es keine Hoffnung für den Anarchismus, je zu einer revolutionären Bewegung zu werden.
  15. Es braucht eine neue Synthese des Anarchismus. Menschen mit unterschiedlichen Schwerpunkten – dem Arbeitsplatz, dem Patriarchat, dem Militarismus usw. – müssen zusammenarbeiten, gemeinsame Prinzipien definieren und sich auf eine Strategie einigen, in der sich verschiedene Taktiken in der bestmöglichen Weise koordinieren lassen. Ein exklusiver Anspruch auf anarchistische Repräsentation schadet allen, den betreffenden Gruppen mit eingeschlossen.
  16. Anarchistinnen müssen sich die Grenzen anarchistischer Politik eingestehen. Je nach den Absichten eines bestimmten Kampfes kann ein sozialdemokratischer oder leninistischer Zugang angemessener sein. Den Wohlfahrtsstaat zu verteidigen, ist ein reformistisches Anliegen, und wenn Anarchistinnen dieses als wertvoll erachten, mögen sie als außerparlamentarische Unterstützung für sozialdemokratische Anstrengungen am effektivsten sein. Ebenso ist es verständlich, wenn für indische Bäuerinnen ein „langwieriger Volkskrieg“ – und damit der Leninismus in seiner maoistischen Variante – als vielversprechendste Antwort auf die staatliche Repression erscheint, der sie sich ausgesetzt sehen. Wenn Anarchistinnen diese Bäuerinnen unterstützen wollen, müssen sie ideologische Zugeständnisse machen. Die Linke ist vom Sektierertum zu befreien und Anarchistinnen müssen dazu ihren Beitrag leisten.
  17. Viele Anarchistinnen assoziieren Kader ausschließlich mit leninistischer Politik. Das ist unglücklich. Letztlich ist ein Kader nur eine Person, die politische Arbeit priorisiert, und es gibt einen Unterschied zwischen Aktivistinnen, die dies tun (bzw. tun können), und solchen, für das nicht gilt. Kader verdienen keine Privilegien, aber ihre Erfahrungen und ihr Engagement sind anzuerkennen – nicht ihnen zuliebe, sondern der Bewegung. Kader müssen sich auch auf revolutionäre Situationen vorbereiten, was historisch gesehen eine der größten Schwächen des Anarchismus war.
  18. Starrsinnig Diskussionen über Führungsrollen zu vermeiden, schadet der anarchistischen Bewegung. Führungspersönlichkeiten gibt es in jeder sozialen Gruppe, ob sie als solche benannt werden oder nicht. Aber nur wenn dieser Tatsache Rechnung getragen wird, lassen sich die autoritären und manipulativen Aspekte eines fehlenden Machtgleichgewichts eindämmen. Ansonsten äußert sich dieses auf jene undurchschaubaren und unkontrollierbaren Weisen, die für viele anarchistische Gruppen charakteristisch sind.
  19. Wir müssen uns der Ursprünge des Anarchismus bewusst sein. Der Anarchismus hat kein Monopol, was antiautoritäres Denken betrifft. Antiautoritäres Denken lässt sich in allen Kulturen und zu allen Zeiten finden. Aber als selbst-identifizierte politische Bewegung ist der Anarchismus ein Produkt der soziopolitischen Bedingungen des europäischen 19. Jahrhunderts. Dies hat kulturelle Implikationen, die den Anarchismus bis heute kennzeichnen und verhindern, dass er sich so weit ausdehnt, wie es den meisten Anarchistinnen lieb wäre. Es nutzt nichts, zu behaupten, dass alle antiautoritären Strömungen im Kerne „anarchistisch“ seien. Im schlimmsten Fall kann dies zu quasi-kolonialer Vereinnahmung führen, denn wenn Menschen für ihre Politik den Namen „Anarchismus“ nicht verwenden wollen, haben sie Gründe dafür. Wichtiger für Anarchistinnen ist es, mit ihren Handlungen zu beweisen, dass sie vertrauenswürdige Partner*innen in einem globalen Kampf um Befreiung sind.
  20. Sogenannte „Verbündetenpolitik“ (ally politics) kann Anarchist*innen als richtungsweisendes Prinzip dienen, wenn sie in Kämpfe eingebunden sind, die von anderen getragen werden. Aber das Konzept ist richtig zu verstehen. Bedingungslos Ja und Amen zu allem zu sagen, was andere verlangen, ist Selbstaufgabe und hat nicht das Geringste mit Radikalität zu tun. Außerdem gibt es niemals Individuen oder Gruppen, die alleine eine Gemeinschaft repräsentieren, weswegen es unmöglich ist, die Verantwortung für unsere eigenen Entscheidungen an andere zu übertragen; wir müssen für die Entscheidungen, die wir treffen, selbst einstehen. Es mag notwendig sein, in bestimmten Kämpfen die Führungsrolle anderer anzuerkennen, aber wir müssen zu diesen ein solidarisch-kritisches Verhältnis einnehmen. Nur so lässt sich der Kampf gemeinsam weiterbringen.
  21. Es bedarf ernsthafter Diskussionen über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten bewaffneten Kampfes. Keine einfachen Romantisierungen von Aufständen oder Kriminalität, sondern eine Untersuchung der herrschenden Machtstrukturen und der Frage, wie diesen militant begegnet werden kann, was in den meisten Fällen zugespitzter sozialer Konflikte notwendig sein wird. Außerdem: Wenn wir es mit der Revolution wirklich ernst meinen, können wir die Polizei und die Armee nicht zum ewigen Feind machen. Praktisch alle Revolutionen waren darauf angewiesen, sich die Unterstützung durch Teile der Polizei und Armee zu sichern. Zudem schwinden die militärischen Möglichkeiten eines Guerillakrieges in Zeiten von High-Tech-Kriegen drastisch. Dies ist eine Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, wie unangenehm sie auch sein mag.
  22. Wir müssen unseren leichtfertigen Umgang mit ökonomischer Kompensation (kurz: dem Bezahlen für Arbeit) revidieren. DIY-Kultur ist großartig, wenn es um das Erhalten von Unabhängigkeit, das Stärken von Kreativität und das Trainieren von Einfallsreichtum geht. Sobald die Grenze zur Selbstausbeutung überschritten wird, bleiben jedoch fast ausschließlich Menschen aus der Mittelklasse (meist männlich, meist weiß) übrig.
  23. Die Revolution um der Revolution willen zu verfolgen, ist sinnlos. Das Einzige, was die Revolution rechtfertigt, ist es, das Leben der Menschen besser zu machen. Dies muss in allem zum Ausdruck kommen, was Revolutionär*innen tun.

 

AAP

 

(Mai 2016; dt. Übersetzung Juni 2016)

 


[1] Wir wollten Fußnoten in diesem Text vermeiden, aber eine kurze Erklärung unserer Anwendung der Begriffe „Sozialdemokratie“, „Leninismus“ und „Marxismus“ schien unvermeidlich. Während der Anarchismus sich früh von marxistischen Strömungen abspaltete (der Ausschluss von Michail Bakunin und James Guillaume vom Kongress der Ersten Internationalen in Den Haag 1872 gilt vielen als Schlüsselmoment), kam es erst mit der Russischen Revolution 1917 zur Trennung zwischen reformistischen Sozialdemokratinnen und revolutionären Leninistinnen. Beide Strömungen wurden damals noch als marxistisch betrachtet und sahen sich selbst der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft verpflichtet. In der sozialdemokratischen Bewegung verblasste diese Ausrichtung bald inmitten parlamentarischer Realitäten, und in den 1930er Jahren war sie aus praktisch allen sozialdemokratischen Parteiprogrammen verschwunden. Die sich heute sozialdemokratisch nennenden Parteien haben fast ausnahmslos den Kontakt mit den Ursprüngen der Bewegung verloren und verfolgen eine neoliberale Politik mit einem Hauch an Wohlfahrtsstaatlichkeit. Wenn wir in diesem Text von „Sozialdemokratie“ sprechen, meinen wir nicht diese Parteien, sondern eine Tradition genuin-marxistischer Politik im Rahmen des Parlamentarismus. Manche, wenn auch beileibe nicht alle, der heutigen Linksparteien setzen diese Tradition fort.


Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag “Revolution ist mehr als ein Wort: 23 Thesen zum Anarchismus” erschien erstmals auf der Webseite des Publikationsprojekts Alpine Anarchist Productions (www.alpineanarchist.org) und wurde unter anderem von dem Blog endofroad gespiegelt. AAP wurde im Jahr 2000 gegründet. Anfänglich wurden Beiträge rund um die Thematik der herrschaftsfreien Gesellschaft als Broschüren auf Papier veröffentlicht bevor sich APP etwa 2007 auf das Online-Publishing konzentrierte. Der Schwerpunkt der Publikationen liegt auf der Darstellung anarchistischer Konzepte und solidarischer Ansätze abseits von Unterdrückung.

Herrschaftsfreie Gesellschaft als Ideal: Ein Gespräch über den Anarchismus

Gunther Sosna: Bernd, die wenigsten Menschen können sich vorstellen, was eine herrschaftsfreie Gesellschaft sein soll. Deshalb möchte ich unser Gespräch mit einer vielleicht überraschenden Frage einleiten. Ist Pippi Langstrumpf eine typische Anarchistin?

Dr. Bernd Drücke von der Zeitung Graswurzelrevolution. (Foto: Privat)
Dr. Bernd Drücke. (Foto: Privat)

Bernd Drücke: Pippi Langstrumpf entspricht in vielerlei Hinsicht tatsächlich der Idealvorstellung, die auch viele Anarchistinnen und Anarchisten von Anarchistinnen haben. Sie ist freiheitsliebend, rebellisch, antiautoritär, nonkonformistisch, feministisch und sozial kompetent. Sie ist schlagfertig, humorvoll und entspricht so ganz und gar nicht dem konservativen Bild, wie ein Mädchen zu sein hat. Sie will nicht herrschen und sich nicht beherrschen lassen. Das sind anarchistische Eigenschaften. Kein Wunder also, dass Pippi Langstrumpf auch in der anarchistischen Szene bis heute populär ist.

Dabei gibt es aber auch Schattenseiten, die ich nicht ausklammern möchte. Astrid Lindgren hat das Kinderbuch 1944 in Schweden geschrieben und war ihrer Zeit damit weit voraus. Lindgren war aber auch ein Kind ihrer Zeit und nicht frei von Rassismen und kolonialistischen Klischeevorstellungen. Die finden sich auch in ihren Büchern.

Ein Beispiel dafür ist, wenn sich schwarze Kinder Pippi bei einem Besuch in Afrika vor die Füße werfen. Diese Darstellung ist nicht anarchistisch, sondern entspricht dem rassistischen Klischee vom unterwürfigen „Neger“. Auch rassistische Begriffe wie „Neger“ und „Zigeuner“ finden sich in Lindgrens Büchern. Ich finde es gut, dass die neuen Versionen der Pippi-Kinderbücher heute sprachlich überarbeitet sind und aus dem „Negerkönig“ ein „Südseekönig“ wurde.

Mir fiel Pippi Langstrumpf ein, weil sie durch ihre unglaubliche Kraft die Welt gestalten kann, wie sie will und leicht Herrschaft über andere ausüben könnte, es aber nicht tut, sondern in ihrem Verhalten rücksichtsvoll und sozial ist. Sind das Eigenschaften, die Anarchisten grundsätzlich auszeichnen?

Ja, das sind Eigenschaften, die Anarchistinnen und Anarchisten auszeichnen sollten. Als Anarchist bist du aber nicht automatisch ein besserer Mensch. Die Geschichte zeigt ja, dass sich auch (ehemalige) Anarchisten zu üblen Despoten entwickeln können. Der russische Anarchist Michail Bakunin hat das vor 160 Jahren schon gut auf den Punkt gebracht:

„Wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß. Wir Anarchistinnen und Anarchisten wollen die Selbstorganisation einer Gesellschaft, die auf Gewalt- und Machtpositionen verzichtet.“

Der Begriff Anarchismus wird auffallend häufig mit Chaos und Gewalt verknüpft. Im Zusammenhang mit den Krawallen im Hamburger Schanzenviertel bei G-20 betitelte zum Beispiel die taz einen Beitrag mit der Headline „Der Abend der Anarchie“. Ich wüsste jetzt aber keine Schlagzeile in den überregionalen Medien, die anarchistische Vorzüge wie Basisdemokratie, Dialog auf Augenhöhe oder die Beteiligung aller Menschen an Entscheidungsprozessen auf den Schild heben. Wie ist historisch diese negative Sicht auf den Anarchismus begründet?

Mikhail Bakunin (Foto: Félix Nadar, Gemeinfrei)
Mikhail Bakunin (1814 – 1876) gilt als Begründer des anarchistischen Kollektivismus. (Foto: Félix Nadar, Gemeinfrei)

Diese Diffamierung des Anarchiebegriffs als Chaos und Terror hat leider eine lange Tradition. Der Begriff Anarchie beziehungsweise an-archia (ohne Herrschaft) stammt aus der griechischen Antike und hat eine über 2000 Jahre alte Geschichte des Wandels hinter sich. Der Begriff „Anarchist“ stammt aus der Zeit der Französischen Revolution und war bis 1840 ein reiner Schmähbegriff. Die meisten Menschen waren damals gottesfürchtige Menschen. Sie konnten oder wollten sich nicht vorstellen, dass Herrschaftsfreiheit ein erstrebenswerter Zustand sei. Immanuel Kant definierte Anarchie zwar schon im 18. Jahrhundert treffend als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“. Das war allerdings auch für diesen berühmten Philosophen ein Zustand, den er ablehnte.

Die anarchistische Bewegung entstand erst ab 1840. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Spaltung der Ersten Internationale in einen autoritär-marxistischen Flügel um Marx und Engels und einen libertär-sozialistischen beziehungsweise antiautoritär-anarchistischen Flügel um Michail Bakunin. Wenn wir uns ansehen, was Bakunin damals schrieb, dann können wir das mit Blick auf die spätere Entwicklung in den „realsozialistischen Ländern“ teilweise als geradezu prophetisch bezeichnen.

Er charakterisierte die Ideen von Marx in den 1860er Jahren als autoritär. Bakunin stellte die These auf, dass, wenn eine marxistische Partei der Arbeiterklasse an die Macht käme, es am Ende genau so schlimm wäre, wie die Herrschaft der Klasse der Kapitalisten, gegen die sie gekämpft hatten. Im Jahre 1872 gipfelte der Konflikt in der Ersten Internationale mit einem endgültigen Bruch zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen.

Der Anarchismus, der einen freiheitlichen Sozialismus zum Ziel hat, wurde sowohl in den kapitalistischen Ländern als auch in den „realsozialistischen“ Diktaturen bekämpft und in den Massenmedien diffamiert. Daran hat sich leider bis heute kaum etwas geändert, wie ja nicht nur die Berichterstattung zum G-20-Gipfel zeigt.

Herrschaft kann ja nur derjenige ausüben, der über die nötigen Mittel der Macht verfügt, um sich über den Willen anderer Menschen hinwegzusetzen oder wenn Menschen die Verantwortung für das eigene Sein auf ihn übertragen. Aber genau das passiert permanent und überall. Am Arbeitsplatz entscheidet der Chef über den Mitarbeiter, in der Schule der Lehrer über die Schüler, Politiker entscheiden über das Wohl oder Übel der Bevölkerung und selbst im Supermarkt bist du als Mensch nicht frei, weil der Geldbeutel dein Einkaufsverhalten beherrscht. Unter welchen sozialen Voraussetzungen ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft möglich?

Ich denke, dass alle Menschen ein anarchistisches Potenzial in sich haben, das es zu wecken gilt. Die sozialen Voraussetzungen für eine herrschaftsfreie Gesellschaft erscheinen den meisten Menschen als rein utopisch. Tatsächlich gab es aber auch schon egalitäre Gesellschaften, die wir als anarchisch oder „früh-anarchistisch“ einstufen können. Dazu sei hier zum Beispiel das Buch „Herrschaftsfreie Institutionen“ von Rüdiger Haude und Thomas Wagner empfohlen, das voraussichtlich 2018 im Verlag Graswurzelrevolution neu erscheint.

Der bekannteste und bisher wohl größte Versuch, eine Gesellschaft herrschaftsfrei zu organisieren, fand im Sommer 1936 in großen Teilen Spaniens statt, als sich die anarchosyndikalistische Massengewerkschaft CNT und mit ihr Millionen Menschen gegen den faschistischen Franco-Putsch stellten. In Barcelona und anderen Regionen Spaniens fand 1936 tatsächlich ein „Kurzer Sommer der Anarchie“ statt. Und das unter den denkbar ungünstigen Bedingungen eines Bürgerkriegs.

Anarchismus ist für mich aber weder nur etwas Historisches noch eine reine Utopie. Wir können versuchen, jetzt schon ein Stück Anarchie zu leben. Wenn wir uns mit anderen Menschen zusammentun, um gegen den Atomstaat, gegen den Klimakiller RWE, gegen Sozialkahlschlag oder die drohende Vernichtung bezahlbaren Wohnraums zu agieren, dann sind es oft anarchistische Prinzipien, die da zur Anwendung kommen.

Wenn wir seit 1972 Monat für Monat die basisdemokratisch organisierte Bewegungszeitung „Graswurzelrevolution“ herausbringen, dann ist das für mich jedes Mal auch ein Beleg dafür, dass es möglich ist, sich gewaltfrei und herrschaftslos zu organisieren und ein Stück Gegenöffentlichkeit zu schaffen.

Geben die Menschen zu leichtfertig Verantwortung ab oder wird sie ihnen aus den Händen gerissen?

Sei Pippi, nicht Annika. Schablonen-Graffiti an einem Gebäude in der Belfortstraße in München. (Foto: Reisen8, CC BY SA 4.0)
Graffiti an einer Hauswand. (Foto: Reisen8, CC-BY-SA 4.0)

Die Menschen wachsen in hierarchischen Strukturen auf und werden zur Unmündigkeit erzogen. Das gilt es zu überwinden. Aber ich sehe auch Licht am Horizont. Es wurde vor allem mit Mitteln des zivilen Ungehorsams in den letzten Jahren schon viel erreicht. Denken wir nur an die Atomindustrie.

Hätte es nicht – verstärkt nach den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima – massiven Protest und Widerstand aus der Bevölkerung gegeben, würden heute eine Plutoniumfabrik und weit über 100 Atomkraftwerke in Deutschland stehen. Die Geschichte der Anti-Atom-Bewegung zeigt ja auch, dass Menschen sich wehren und Verantwortung für sich und kommende Generationen übernehmen können.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem taumelt von einer Krise in die nächste. Durch die unübersehbaren Folgen der Umweltzerstörung, die Intensivierung kriegerischer Handlungen und die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, scheint sich sein Ende abzuzeichnen. Das System frisst sich selbst auf. Entwickelt sich aus dem Niedergang die Grundlage für eine Renaissance anarchistischer Ideen?

Da gibt es leider keinen Automatismus. Es kann auch in eine ganz andere, für Menschen und Natur zerstörerische Richtung gehen. Wenn ich sehe, dass in den USA ein extrem rechter Narzisst zum Präsidenten gewählt wurde und in vielen Ländern rassistische Bewegungen und Parteien wie FPÖ und AfD Zulauf haben, dann befürchte ich, dass statt einer menschengerechten freiheitlich-sozialistischen Graswurzelrevolution auch das genaue Gegenteil aufziehen kann, ein neuer Faschismus. Dagegen gilt es sich zu stemmen.

In den europäischen Nachbarländern ist die Zivilgesellschaft offensichtlich viel interessierter an anarchistischen Konzepten, als es in Deutschland der Fall ist, oder unterliege ich da einer Täuschung?

In Deutschland wurde der Anarchismus durch zwölf Jahre Nazidiktatur fast vollständig ausgelöscht. Nach dem Ersten Weltkrieg organisierten sich im damaligen Deutschen Reich in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands) zeitweise bis zu 200.000 Menschen. Von einer solchen Relevanz und Massenbasis ist die heutige Anarcho-Szene weit entfernt. Aber ich denke, gewaltfrei-anarchistische Ideen sind auch hierzulande in der Anti-Atom-Bewegung und anderen sozialen Bewegungen weit verbreitet. Viele Menschen wollen möglichst herrschaftsfrei, solidarisch und ökologisch leben, aber sie schrecken davor zurück sich als Anarchist oder Anarchistin zu bezeichnen, weil diese Begriffe so negativ besetzt sind. Wir brauchen ein neues Bewusstsein.

Es soll in Deutschland über 600.000 Vereine, Initiativen, Bürgerkomitees und andere Organisationsformen geben. Lösen sich auf dieser kleinteiligen gesellschaftlichen Ebene die alten Macht- und Herrschaftsstrukturen bereits auf?

Na ja, eher nicht. Das deutsche Vereinsrecht sieht den Vorsitzenden vor. Das ist weder kollektivistisch noch herrschaftsfrei.

Die Bürgerbewegung Nuit Debout, die ich als sehr anarchistisch wahrgenommen habe, hat im vergangenen Jahr in Frankreich die Massen auf die öffentlichen Plätze gebracht. Da gab es keine Anführer oder Vorschriften, sondern ziemlich einfache Regeln des Miteinander und trotzdem entstanden Zeitungen, Radiosender, Fernsehformate, Theatergruppen usw. Da hat sich aus dem Nichts unglaublich viel entwickelt. War das ein Zufallsprodukt oder die typische soziale Kraft, die sich im Anarchismus entfaltet?

Nuit Debout, Occupy und andere neue soziale Bewegungen sind Beispiele dafür, wie anarchistische Ideen in neuen sozialen Bewegungen wirken und einerseits die Beteiligten verändern und andererseits gesellschaftlichen Wandel bewirken können. Das heißt nicht, dass die Aktiven sich allesamt als anarchistisch verstehen. Die persönlichen Erfahrungen auch von Solidarität, egalitärer Konsensfindung und kollektiver Macht von unten, die Menschen in solchen heterogenen Bewegungen machen können, wirken vielleicht manchmal politisierender als jedes anarchistische Buch.

Schauen wir nach Katalonien. Kannst du kurz erläutern, vom aktuellen Konflikt abgesehen, warum die Region für den Anarchismus bedeutsam ist?

Logo der Gewerkschaft FAU
Logo der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft FAU (Freie Arbeiterinnen und Arbeiter-Union).

Katalonien war sozusagen immer schon eine Herzkammer des Anarchismus. Die Soziale Revolution, die 1936 in Barcelona und großen Teilen Kataloniens gegen den Franco-Putsch stattfand, war einzigartig. Träger waren damals die anarchosyndikalistische CNT (Confederación Nacional del Trabajo) und die anarchistische FAI (Federación Anarquista Ibérica). Nach dem Ende der Franco-Diktatur erlebte der Anarchosyndikalismus in Barcelona eine Wiedergeburt. Als 1978 aus ganz Europa 200.000 Menschen am Kongress der wieder legalen CNT teilnahmen, war das sozusagen eine Initialzündung. Heute sind die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften CGT (Confederación General del Trabajo) und CNT in Spanien mit insgesamt etwa 70.000 Mitgliedern im Vergleich zur kleinen anarchosyndikalistischen FAU in Deutschland noch immer relativ einflussreich.

Mit der CUP (Anm.: Candidatura d’Unitat Popular) sitzt heute eine Partei im Regionalparlament, die sich als basisdemokratische politische Organisation sieht und die in der Tradition des katalanischen Anarchismus stehen soll. Ist das so? Anarchismus und Parlamentarismus passen doch nicht zusammen, oder … ?

Die CUP beruft sich zwar auch auf basisdemokratische und anarchistische Ideen, hat aber mit Anarchismus so wenig am Hut wie einst die Grünen in ihren basisdemokratischen Anfangsjahren. Als „separatistische“, also nationalistische Partei strebt die CUP einen katalanischen Staat an. Katalanische AnarchistInnen setzen diesem Nationalismus Parolen entgegen wie „Tod jedem Nationalismus! Weder Fahnen, noch Grenzen!“.

Die anarchosyndikalistische CNT Barcelona rief einerseits auch zum Generalstreik gegen die Gewalt der spanischen Zentralregierung auf, plakatierte im November 2017 aber auch „Ni Patria Ni Patrón Ni Rajoy Ni Puigdemont!“, um sich klar von jedem Nationalismus abzugrenzen und sich sowohl von der katalanischen Regionalregierung als auch von der rechtskonservativen spanischen Zentralregierung zu distanzieren. Ähnlich antinationalistisch positionierte sich auch die anarchosyndikalistische CGT. Der Anarchismus sitzt in Spanien also sozusagen zwischen allen Stühlen. Ein guter Platz, wenn auf beiden Stühlen Mist liegt.

Die Katalanen wollten Verantwortung übernehmen, in dem sie darüber abstimmten, ob die autonome Region die Unabhängigkeit von Spanien anstreben soll. Die Polizei hat die Menschen dafür niedergeprügelt und die Zentralregierung in Madrid hat die Herrschaft per Gesetz übernommen. Jene Politiker, denen die katalanische Bevölkerung durch Wahlen die Verantwortung für die Region anvertraut hat, wurden entmachtet. Jetzt organisieren große Gruppierungen wie die ANC (Anm.: Assemblea Nacional Catalana), Òmnium Cultural und andere Komitees gewaltfreien Widerstand. Kann man sagen, dass der Anarchismus erst richtig aufblüht, wenn der Staat Gewalt anwendet?

Nein, das würde ich nicht so sehen. Die Mehrheit der Bevölkerung in den katalanischen Gebieten hat sich an der von der katalanischen Regionalregierung angesetzten und vom spanischen Staat als „illegal“ eingestufte Abstimmung über einen katalanischen Staat gar nicht beteiligt. Das trifft auch auf die AnarchistInnen zu, die sowohl den spanischen als auch den katalanischen Nationalismus ablehnen. Und die vielen Menschen zum Beispiel aus Lateinamerika, die in den Betrieben der kapitalistischen Boomregion Katalonien oft zu miesen Bedingungen arbeiten müssen, hatten gar kein Stimmrecht.

Die Wahl hat die Spaltung in Spanien und Katalonien vorangetrieben und die Nationalisten auf beiden Seiten gestärkt und radikalisiert. Das ist keine Entwicklung, von der wir mehr Emanzipation und eine nötige Umverteilung von unten nach oben erwarten können.

Große Teile der katalanischen Eliten wollen, dass „ihr Geld“ in Katalonien bleibt und nicht an andere ärmere Regionen Spaniens verteilt wird. Denen geht es nicht um eine gerechtere Gesellschaft, sondern um ihren Profit. Dass sie dafür im Wahlkampf versprochen haben, dass Katalonien nach der Abspaltung von Spanien in der EU bleiben kann, ist Propaganda. Gegen den Willen des EU-Mitglieds Spanien kann ein Staat Katalonien kein Mitgliedsstaat der EU werden.

Inwieweit spiegelt sich in dieser Auseinandersetzung der Wunsch nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft wider?

Ich denke, dass es bei diesem Konflikt nicht um eine herrschaftsfreie Gesellschaft geht. Die katalanischen Nationalisten wollen einen katalanischen Staat mit eigenen Grenzen, Militär und allem, was dazu gehört. Die spanischen Nationalisten wollen ihren „unteilbaren“ Staat behalten. Keine von beiden Seiten will eine herrschaftsfreie Gesellschaft.

Lass uns nach Syrien schauen. Ist Rojava, die autonome Region im Norden des Landes, ein Beispiel für eine Gesellschaft anarchistischer Prägung oder haben die dortigen Strukturen mit Anarchismus nichts zu tun?

Rojava ist sicherlich die einzige Region auf dem Gebiet des ehemaligen Zentralstaats Syrien, in der versucht wird, die Menschenrechte einzuhalten und eine demokratische Gesellschaft zu organisieren. Das hat viel mit dem Wandel zu tun, den der von vielen Kurden auch in Syrien als „Serok Apo“ (Anführer Onkel) verehrte Abdullah Öcalan vollzogen hat.

Murray Bookchin im Sommer 1999. (Foto: Janet Biehl, Gemeinfrei)
Der Öko-Anarchist Murray Bookchin im Sommer 1999. (Foto: Janet Biehl, Gemeinfrei)

Der langjährige Vorsitzende der Kurdischen Arbeiterpartei PKK sitzt seit 1999 in der Türkei in Haft. Dort hat sich der ehemalige Stalinist gewandelt. Dafür verantwortlich sind auch die Bücher des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin, die Öcalan in der Haft gelesen hat.

Sie haben bei ihm einen Umdenkungsprozess eingeleitet. Die kurdische Bewegung in Rojava und der Türkei wurde stark inspiriert durch das 2010 erschienene Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Öcalan, in dem der ehemalige kurdische Nationalist eine selbst erklärte „Abkehr vom Dogmatismus“ vollzogen hat. In diesem 600-Seiten-Wälzer hat er sich positiv auf Bookchin bezogen, auf den libertären Kommunalismus, der von Bookchin in den 1970er und 80er Jahren mitentwickelt worden ist. Öcalan versteht sich nicht als Anarchist. Der demokratische Konföderalismus, den er anstelle eines (kurdischen) Nationalstaats anstrebt und den Kurden versuchen in Rojava zu realisieren, ist aber stark von Bookchins anarchistischen Ideen beeinflusst.

Das ist in gewisser Weise auch eine pragmatische Antwort auf die Situation der kurdischen Bevölkerung, die in Syrien, der Türkei, im Irak und Iran leben. Es gibt diese mächtigen Nationalstaaten, in denen die kurdische Bevölkerung als Minderheit lebt. Wie unrealistisch ein kurdischer Staat ist, zeigt ja der kriegerische Angriff, mit dem die irakische Regierung auf die staatliche Unabhängigkeitserklärung des (mittlerweile zurückgetretenen) irakischen Kurdenführers Barsani reagiert hat. Da ist der Ansatz der kurdischen Bewegung in Syrien aus anarchistischer Perspektive sympathischer. In Rojava wird versucht, basisdemokratische Strukturen jenseits des Staats zu schaffen, die irgendwann die Macht des Staats zurückdrängen.

Die Kurden in Syrien haben mithilfe des US-Militärs den terroristischen IS erfolgreich zurückgedrängt. Ob sich Rojava aber längerfristig etablieren kann? Das ist fraglich. Weder die türkische Autokratie noch der syrische Diktator haben ein Interesse an einer autonomen kurdischen Region.

Als gewaltfreier Anarchist und Antimilitarist ist Krieg für mich ein Verbrechen an der Menschheit und die Kriegsdienstverweigerung ein universelles Menschenrecht. Kriegsdienstverweigerer werden aber auch in Rojava drangsaliert.

Bernd Drücke bei einer antimilitaristischen Protestaktion gegen den "Karriere Treff Bundeswehr" beim Stadtfest Münster im Juli 2016 (Foto: Olaf Götze/Archiv Graswurzelrevolution).
Bernd Drücke bei einer antimilitaristischen Protestaktion gegen den “Karriere Treff Bundeswehr” beim Stadtfest Münster im Juli 2016 (Foto: Olaf Götze/Archiv Graswurzelrevolution).

Offensichtliche Mängel in der Gesellschaft und krasse Ungerechtigkeiten auf der Welt, die in direktem Zusammenhang mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem stehen, werden Tag für Tag von den Medien, in den sozialen Netzwerken, aber auch von Politikern kritisiert. Altersarmut, Kinderarmut, Obdachlosigkeit, Waffenexporte, Kriege, legitimierte Steuerflucht der Reichen, Bankenrettung auf Kosten der Bevölkerung, Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern, Ausbeutung von Arbeitern durch gierige Unternehmer und noch gierigere Anleger, Verwaltungsirrsinn, Korruption, Bestechung, Lobbyismus, Paradise Papers – die Liste ist unendlich. Es entwickelt sich dennoch keine Diskussion darüber, ob ein anderes Gesellschaftsmodell für das 21. Jahrhundert vielleicht besser wäre. Was hält uns davon ab, diese Debatte zu führen?

Diese Diskussionen werden ja geführt, aber bisher nur in sozialen Nischen der Gesellschaft. So versucht beispielsweise die Monatszeitschrift Graswurzelrevolution schon seit 1972 als Sprachrohr sozialer Bewegungen Perspektiven für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft zu entwickeln.

Vielen Dank.


Graswurzelrevolution. Titelseite der Ausgabe Dezember 2017. Themen: u.a. #MeToo und Drückeberger
Titelseite der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution.

Zur Person: Dr. Bernd Drücke, Jahrgang 1965, ist Soziologe, Anarchist, Buchautor und Koordinationsredakteur der Zeitung “Graswurzelrevolution”. Nach dem Abitur zog er von Unna nach Münster und studierte ab 1986 an der dortigen Universität Soziologie, Politikwissenschaft und Pädagogik. Er promovierte 1998. Seit 1991 wohnt er in dem alternativen, selbstverwalteten Wohnprojekt Breul und Tibusstraße.

Bernd Drücke war unter anderem Mitgründer der seit 1989 aktiven Gruppe “Widerstand gegen Atomanlagen” (WigA), eines Infoladens und Gründer einer Initiative für eine Freie Kinderschule in Münster in den 1990er-Jahren.

2004 gehörte er zu den Gründern des Münsteraner Umweltzentrum-Archiv e.V. und ist seit 2010 Vorsitzender des Vereins zur Erhaltung preiswerten Wohnraums e.V. (VzEpW Münster). Bis Sommer 2003 war er Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Universität Münster.

Bereits seit Ende 1998 ist er presserechtlich verantwortlicher Koordinationsredakteur der anarchopazifistischen Zeitung Graswurzelrevolution. Die Monatszeitung wurde 1972 von Wolfgang Hertle gegründet und erscheint heute mit einer Auflage von rund 4000 Exemplaren.

Homepage: www.graswurzelrevolution.net